Keine Chance. Das Opfer sexueller Übergriffe bleibt Opfer auch vor Gericht. Es muss die Tat beweisen, der Täter selbst muss nicht einmal aussagen. Schmerzlich erfährt das die Staranwältin Tessa Jane Ensler in „Prima Facie“. Zu Milena Mönchs fesselnder Inszenierung mit einer überragenden Katharina Schüttler an den Hamburger Kammerspielen.
Die Kritik
Am Ende steht sie aufrecht und entschlossen am Bühnenrand. Sie weiß, „dass sich irgendwas ändern muss“ in dem System der Rechtsprechung, an das sie jahrelang geglaubt hat. Tessa Jane Ensler, die erfolgreiche Verteidigerin von Sexualtätern, ist jetzt selbst Opfer sexueller Gewalt geworden und muss während des Prozesses erkennen, dass für den Täter solange die Unschuldsvermutung gilt, solange nicht eindeutig Gegenteiliges bewiesen ist. „Prima Facie“ nennt die deutsche Rechtsprechung diesen Umstand.
„Prima Facie“ ist auch der Titel des mehrfach preisgekrönten Stücks der britisch-australischen Drehbuchautorin und Dramatikerin Suzie Miller. Seit seiner Uraufführung 2019 in Sydney geht es um die Welt und hat sich zum Hit auf deutschen Bühnen entwickelt. Jetzt hat es Milena Mönch mit Katharina Schüttler als Tessa Ensler an den Hamburger Kammerspielen inszeniert. Mönch gelingt es, das gut zweistündige, inhaltlich aufwühlende Solo mit klugen Spielideen umzusetzen. Wenige Requisiten (Papierrollen, eine weiße Socke, weiße Stifte) und die mit Stufen und angedeuteter Richterbank rot ausgekleideten Bühne (auch verantwortlich für Kostüm: Jonas Vogt) eröffnen verschiedene Spielorte, Situationen und Möglichkeiten für ihre fantastische Protagonistin.
Katharina Schüler durchlebt jede einzelne Phase dieser Figur.
Tessa Ensler erzählt aus der Rückschau, und Katharina Schüttler durchlebt jede einzelne Phase dieser Figur. Mit zurückgegeltem Haar und goldener Robe zeigt sie zunächst die Staranwältin. Der Rückblick erlaubt ihr eine ironische Distanz, mit der sie ihre damalige Taktik beschreibt: die Akten (hier die Papierrollen) vor den Augen der Gegenpartei durchsuchen und unorganisiert wirken, dann blitzschnell die Zeugin, also das Vergewaltigungsopfer, mit vier knallharten Fragen -„Peng! Peng! Peng! Peng!“- durcheinanderbringen und so den Prozess gewinnen. „Es gibt keine objektive Wahrheit, nur die juristische“, weiß sie zu diesem Zeitpunkt.
Ohne Robe, nur in weißen Shorts, T-Shirt mit der Aufschrift „Gilt Without Guilt“ und weißen Socken ist sie wenig später ihr junges Ich aus einer kleinbürgerlich-prekären Familie in Liverpool. Verhuscht hockt sie zwischen Kommilitoninnen aus Upper-Class-Familien bei der Aufnahme in die renommierte Cambridge Law School und wechselt in Handumdrehen zu der abgeklärten Dekanin, die wie selbstverständlich das Studium zu einem eiskalten Konkurrenzkampf erklärt.
Tessa schafft es nach London ans Gericht, hat aus Spaß Sex mit ihrem Kollegen Jules in dessen Büro, nimmt ihn Tage später nach einem Restaurantbesuch und sehr viel Alkohol mit zu sich nach Hause. Dort schlafen beide erneut miteinander, bis Tessa schlecht wird. Wie Schüttler das spielt, wird klar, dass es ihr wirklich dreckig geht, sie schwach und wehrlos ist. Jules nutzt die Situation aus und dringt mehrfach brutal in sie ein. Schmerzhaft und eindringlich durchlebt Schüttlers Figur diese Demütigung, die Flucht aus der Wohnung, die Anzeige bei der Polizei noch einmal.
Es geht nicht mehr um sie. Es geht um alle Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben.
Nach der Pause tritt sie beinahe verwundert vom Zuschauerraum aus auf die Bühne, ihren alten Gerichtssaal, sieht auf einmal „von außen nach innen“. 782 Tage Warten liegen hinter ihr. „Da bin ich ohne Robe, ohne Perücke“, sagt sie und das ist nur einer von vielen „Da-bin-ich“-Sätzen, die wirken, als blättere sie durch ein Fotoalbum. Sie sieht sich zu, wie sie in diesem Prozess scheitert, weil sie die Taktik der Verteidigung durchschaut und trotzdem genauso stammelt wie ihre Zeuginnen damals. Die Fragen treiben sie in die Enge, objektive Wahrheiten kann sie nicht liefern, und Jules muss nicht einmal aussagen.
Ihre Hilflosigkeit, der Verlust ihrer Würde, ihres Selbstvertrauens, ihres Glaubens an das das Gesetz – all das macht sie wütend. Aber es geht nicht mehr um sie. Es geht um alle Frauen, denen so etwas widerfahren ist. Deshalb weiß sie ganz sicher, dass sich „etwas ändern muss“: das Gesetz überarbeiten, indem „unsere eigene Geschichte“ selbst zum Gesetz wird.
Was für ein beeindruckender, aufwühlender Abend! Hingehen! Unbedingt!
Weitere Informationen unter: https://hamburger-kammerspiele.de/programm/prima-facie/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Behandlung von Opfern und Tätern bei sexuellen Gewalttaten
- Hinterfragen des Gesetzes und des Systems
- Frage nach der Wahrheit
Formale SchwerpunKte
- Entwickeln von Orten und unterschiedlichen Situationen über das Spiel
- Einsatz von multifunktionalen Requisiten
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11
- empfohlen für den Ethik-, Biologie-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Tessa Jane Ensler kommt aus kleinen Verhältnissen in Liverpool. Ihr Bruder säuft und ist in Schlägereien verwickelt, sie selbst ist ehrgeizig und schafft es auf die renommierte Cambridge Law School. Dort wird beinharter Konkurrenzkampf gepredigt. Nur jede:r Dritte komme überhaupt durch und von diesen würden nur ganz wenige Karriere machen. Tessa ist eine von ihnen. Sie wird Staranwältin in London und kann sich rühmen, als Verteidigerin von Sexualtätern „seit Wochen keinen Fall mehr verloren zu haben.“ Ihre Taktik ist derart ausgefeilt, dass sie auch die härtesten Fälle gewinnt. „Lücken in der Aktenlage zu finden“, darin sieht sie ihre Aufgabe. Nicht, die Wahrheit herauszufinden, denn die gibt es in ihren Augen sowieso nicht. Sie flirtet mit ihrem Kollegen Jules und hat nach einem langen Arbeitstag sogar Sex mit ihm in dessen Büro. Tage später trifft sie sich mit ihm in einem Restaurant, beide trinken viel und gehen dann gemeinsam zu Tessa nach Hause, wo sie weiter trinken und miteinander schlafen. Zunächst einvernehmlich. Doch dann wird Tessa schlecht, sie übergibt sich und ist völlig kraft- und wehrlos. Jules nutzt die Situation aus und dringt, obwohl sie sich wehrt, brutal in sie ein. Nach der Vergewaltigung schläft er ein, sie flieht aus der Wohnung und erstattet Anzeige bei der Polizei, obwohl sie weiß, dass das alles zu nichts führen wird. 782 Tage später, Tessa hat inzwischen in eine noch angesehenere Kanzlei gewechselt, kommt es zum Prozess. Tessa betritt ihren ehemaligen Gerichtssaal, sieht ihre ehemaligen Kollegen und Jules, der nicht aussagen muss. Sie selbst wird von dessen Verteidiger in die Zange genommen. Das Muster erkennt sie wieder – nicht anders war sie selbst vorgegangen-, aber sie sieht auch, wie sie in die aufgestellten Fallen tappt und eben gar nichts endgültig beweisen kann. Ihre Hilflosigkeit schlägt um in Zorn und in die Gewissheit, dass die Gesetze geändert werden müssen, damit Opfer sexueller Gewalt Recht bekommen.
Mögliche VorbereitungeN
Als Hausaufgabe oder über Referate
- Recherchieren zu sexueller Gewalt/ sexuellen Übergriffen und deren Konsequenzen
- Recherchieren zur #MeToo-Bewegung: Anlass und bisherige Folgen
Im Unterrichtsgespräch
- Ist es möglich, sexuelle Gewalt zu beweisen?
- Welche Schwierigkeiten, welche Lösungen gibt es?
Speziell für den Theaterunterricht
Übungen zum Requisit
- In drei 9er Gruppen: Stock kreisen lassen. Der Stock nimmt jedesmal eine andere Funktion ein.
- In Großgruppe: ein Tuch liegt in der Mitte; jede:r, die/der eine Idee hat, verwendet das Tuch auf eine bestimmte Weise
Reflexion: Wie kann ein Requisit verwendet werden? Real als das, was es ist; als Metapher (polyfunktional)
Auslegen von Requisiten:
Jongliertücher, Stühle, Koffer, Bälle, Papiertüten, Zeitungen
Aufgabe:
Seht euch die unterschiedlichen Requisiten an, probiert sie aus und stellt euch dann zu dem Requisit, mit dem ihr arbeiten wollt.
Aufteilung in Gruppen a 5 Personen
Vorübung:
Wählt eine Spielleiter*in, die folgende Ansagen für die Gruppe macht:
- Geht durch den Raum und lasst dabei die Gegenstände nicht aus den Augen.
- Stell dir vor, der Gegenstand brennt, du darfst ihm nicht zu nahe kommen.
- Von den Gegenständen geht ein wunderbarer Geruch aus, den ihr erspüren wollt. Nähert euch vorsichtig, um den Geruch aufzunehmen
- Du weißt nicht, ob du den Gegenstand anfassen sollst. Du zögerst, triffst dann eine erkennbare Entscheidung
Aufgabe:
Entwerft eine kurze Szene oder eine Choreografie, in der das ausgewählte Requisit in fünf verschiedenen Formen polyfunktional benutzt wird.
Die Aufgabe ist gelungen, wenn
- mindestens fünf unterschiedliche Funktionen des Requisits deutlich werden
- nicht mehr als insgesamt sechs Worte gesprochen werden
- Körperhaltung/ Status und die Stellung im Raum berücksichtigt ist
- klare Proxemik, Gestik und Mimik vorhanden ist.