ANTHROPOLIS III: Ödipus

Aufgeklärter Verstand trifft auf göttlich legitimiertes Wissen. Wem gehört die Wahrheit? Zu Karin Beiers kluger Inszenierung von „ANTHROPOLIS III: Ödipus“.

Der Tempel als Mittelpunkt der Welt? – Foto: Monika Rittersberg

Die Kritik

Ödipus schaufelt. Eine Schubkarre nach der anderen füllt er mit grauem Sand, schüttet sie auf einen Haufen und verteilt den Aushub. Stumm und konzentriert macht er das, zielgerichtet. Seine Arbeit erinnert an die von Kadmos und seinen Leuten, als sie die Stadt Kadmela, das spätere Theben, gründeten. Karin Beier schlägt mit diesem Motiv aus dem ersten Teil ihrer „ANTHROPOLIS“-Serie den Bogen zu „ANTHROPOLIS III: Ödipus“. Kontinuität auch im Bühnenbild von Johannes Schütz: der Tierkadaver, nunmehr ganz in die vordere Ecke gedrängt, und die weit aufgerissene Bühne mit den schwarzweißgrauen Klecksen und Linien, im Hintergrund eine Reihe von Hockern. Neu ist der schwarze Rahmen, der das Geschehen wie ein Bild anmuten lässt, ebenso das stilisierte weiße Haus. Karin Neuhäuser als rauchende Priesterin bezeichnet es als Tempel, den „Mittelpunkt der Welt“. Ihre quietschgelben Hosen, das Glitzertop und der lila Mantel (Kostüme: Wicke Naujoks) geben ihr etwas sehr Weltliches. Schwer vorstellbar, dass sie mit Verve die Religion vertritt. Und tatsächlich äußert sie Zweifel. Sie distanziert sich von der in der Stadt herrschenden Göttergläubigkeit. Wenn sie im Konjunktiv vom Orakel erzählt, lässt immer ein unausgesprochenes „Angeblich“ mitschwingen. Denn es ist wieder einmal die Zeit, in der aufgeklärter Verstand auf göttlich legitimiertes Wissen trifft und die Frage im Raums steht, was denn nun die Wahrheit ist. Das war gut 400 Jahre v. Chr. offenbar nicht anders als heute, wo sich Verschwörungstheoretiker und der Hang zum Irrationalen gegen rationales Denken stellen.

Klar wird das durch Roland Schimmelpfennigs behutsam aktualisierte Fassung des Sophokles’schen Dramas, in dem er den handelnden Personen eine gegenwärtige Sprache gibt.

Leblos wirkende Kinder werden über die Bühne getragen und abgelegt.

Ödipus (Devid Striesow) gilt in Theben als Retter. Er hatte das Rätsel der Sphinx gelöst und war nach dem Tod von Laios zum Herrscher erkoren worden. Er gilt als Macher und Erneuerer, deshalb stellt er sich in der ersten Szene als schaufelnder Arbeiter vor. Doch jetzt wütet in der Stadt die Pest und die lässt sich nicht so einfach eindämmen. Schon gar nicht, wenn einer, der mit dem Übernatürlichen im Bunde steht wie der blinde Seher Teiresias (Michael Wittenborn) angeblich weiß, woran es liegt. Auch Kreon (Ernst Stötzner) kennt vom Orakel die Lösung der Probleme, wenn „eine alte Schuld“ ausgerissen würde. Wie ernst die Lage ist, zeigen in einem starken Bild vier Tänzer, die leblos wirkende Kinder über die Bühne tragen und ablegen. Das Sterben macht die Thebaner anfällig für den Einfluss des Sehers, von dem aber Ödipus gar nichts hält. Er will wissen, was los ist. 

Unaufdringlich durchzieht Beiers Inszenierung das Aufeinanderprallen beider Sichtweisen. Vögel gelten bei den Priestern und Sehern der Antike als Warnsignale, wenn sie die Opfergaben nicht annehmen. Den wachsenden Einfluss des (Aber-)Glaubens zeigt sie, indem die Priesterin ab und zu Vogelgekrächze wie einen Kommentar zu Ödipus’ Handlungen von sich gibt. Ödipus verspeist oder besser: frisst ein gebratenes Hähnchen, ein Zeichen dafür, wie egal ihm das ganze Vogelgetue ist. Interessant nur, dass auch die Priesterin nicht daran glaubt  und ebenfalls das Hähnchen isst („Kann ich ein Stück von dem Vogel?“).  

„Die Wahrheit ist Politik. Sie ist verhandelbar.“

Doch da ist das Volk in Gestalt des Chores. Auf beiden Seiten des Oberrangs ist er verteilt, der Chorführer (Christoph Jöde) steht in der Mitte. Rhythmisch, von Klopfen untermalt, flüstert und ruft er in gebundener, archaisch anmutender Sprache Warnungen (Chorkompositionen und musikalische Leitung: Jörg Gollasch). Eine überwältigende Präsenz strahlt er in diesem akustischen Surround-System aus, gegen das auch Ödipus machtlos zu sein scheint. Klar, er benutzt seinen Verstand. Er ruft Zeugen wie den alten Hirten (Ernst Stötzner) und den Boten aus Korinth (Michael Wittenborn) auf und  muss immer mehr erkennen, dass er der Mörder seines Vaters ist. Dass er dessen Witwe Iokaste, seine Mutter, geheiratet und mit ihr vier Kinder gezeugt hat. Dass er schuldig geworden ist. Je weiter die Selbsterkenntnis voran schreitet, desto versehrter wird er: Der tatkräftige Mann vom Anfang geht nur noch mühsam an Krücken (ihm waren als Baby die Füße durchbohrt worden). Auch wenn ihn Iokaste  (Julia Wieniger) unterstützt („Nichts hängt im Leben von einem Seher ab.“) muss er erkennen, dass das Orakel und damit das Übernatürliche in seinem Fall Recht behalten hat. Er sticht sich die Augen aus, begehrt kurz auf („Mein Schicksal gehört mir“), wird aber zum heulenden Elend, als er sich von seinen beiden Töchtern verabschieden muss. Ein Gescheiterter, ein Mensch. Aber ist das jetzt die Wahrheit? Die besteht nur solange, bis eine andere sie ablöst, sagt sehr nüchtern Iokaste und: „Die Wahrheit ist Politik. Sie ist verhandelbar.“

Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/oedipus

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Die Macht des Irrationalen in ausweglos erscheinenden Zeiten
  • Vernunft gegen Aberglaube
  • Die Suche nach Wahrheit
  • Die Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns
Formale Schwerpunkte
  • Zweigeteilter Chor (rhythmisch variierendes Sprechen)
  • Verwendung unterschiedlicher Sprachebenen von Handlungsträgern (Gegenwartssprache) und Chor (archaische gebundene Sprache)
  • Tanzchoreografien zur Darstellung der Pest
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe

ab 16 Jahre; ab Klasse 10/11

für Geschichts-, Deutsch – und Theaterunterricht 

Zum Inhalt

Nach dem gewaltsamen Tod von König Laios ist Ödipus zum Herrscher von Theben ausgerufen worden. Zuvor hatte er die Stadt von der Sphinx befreit, indem er das von ihr gestellte Rätsel gelöst hatte (Welches Wesen hat nur eine Stimme, manchmal zwei Beine, bisweilen drei oder vier, und wird umso schwächer, je mehr Beine es hat? Antwort: Der Mensch). Jetzt ist die Sphinx tot, Ödipus hat Iokaste, die Witwe von Laios, geheiratet und mit ihr vier Kinder gezeugt. Die Thebaner lieben ihn und seinen vernunftbestimmten Regierungsstil. Doch dann bricht die Pest aus, ein massenhaftes, qualvolles Sterben geht um. Ödipus sucht vergeblich nach Lösungen, will aber nichts hören von den Weissagungen des blinden Sehers Teiresias. Der kann zwar die oberflächliche Welt nicht sehen, wohl aber innere und, wie er meint, göttliche Zusammenhänge. Vögel hätten seine Opfer nicht angenommen, sagt er und dass es für die Pest ein menschliches Verschulden gibt. Unterstützt wird er darin von Kreon, der das Orakel befragt und erfahren hat, dass eine alte Schuld „ausgerissen“ werden soll. Ödipus versucht dem Ganzen auf die Spur zu kommen, doch je mehr er untersucht, desto stärker werden die Hinweise darauf, dass er selbst der Schuldige ist und sich eine alte Prophezeiung bewahrheitet hat. Die besagte, dass  Laios durch seinen Sohn erschlagen und dieser dann seine eigene Mutter heiraten werde. Ödipus stemmt sich mit aller Gewalt gegen diese Erkenntnis, muss sie aber am Ende eingestehen. Er sticht sich die Augen aus und bittet Kreon, ihn aus der Stadt zu vertreiben.  

Mögliche VorbereitungeN
Über Referate, als vorbereitende Hausaufgabe oder in Gruppenarbeit:
  • Sophokles: König Ödipus (als Inhaltsangabe oder Lektüre)
  • Die Situation des aufgeklärten Denkens in der Antike
  • Die Position des Dichters Sophokles zum traditionellen religiösen Weltbild 
Im Unterrichtsgespräch:
  • Welchen Einfluss hatte die Pandemie auf das Denken und die politische Orientierung in der Gesellschaft?
  • Unter welchen Bedingungen bekommen Verschwörungstheorien Zulauf?
  • Welchen Einfluss hat das auf die Gesellschaft?
Speziell für den Theaterunterricht:

Übungen  zum chorischen Sprechen

  • Vorbereitung: Die Gruppe steht im Kreis, auf Anweisung der Spielleitung klopfen alle das Gesicht ab, massieren einzelne Teile, putzen nur mit der Zunge die Zähne.
  • Gemeinsam werden die Vokale a-e-i-o-u nacheinander mit deutlicher Mimik und in unterschiedlicher Lautstärke wiederholt.
  • Gemeinsames Sprechen nachfolgender Sätze. Dabei gibt die Spielleitung den jeweiligen Satz vor, die Gruppe spricht ihn entsprechend der Vorgabe (flüsternd, zornig-laut, sanft…) nach. Dann wird der Text als Ganzes steigernd gesprochen, wobei die erste Zeile noch leise gesprochen und die letzte sehr laut gesprochen wird. Hier können mehrere Varianten ausprobiert werden. 
Text:

Großer, großer Ödipus

Das Bett deines Vaters

wurde zu deinem Bett

Die Frau deines Vaters

Wurde zu deiner Frau.

Teilung der Gruppe in fünf Parteien (A,B, C, D, E). A spricht den ersten Teil (Großer, großer Ödipus), B den zweiten usw. Zunächst spricht jede Partei nacheinander ihre Zeile. Dabei kann jede Partei mit der Stimme variieren. Möglich ist auch, eine:n „Dirigierenden“ einzusetzen, der/die bestimmt, ob die jeweilige Zeile laut , mittel oder leise gesprochen werden soll.

Variation:

Im Kanon. Jede Partei wiederholt dabei die eigene Zeile. A beginnt, B setzt nach „Großer, großer“ ein, C nach „Bett“, D nach „zu“, E nach „Frau“.