König Lear

Es muss nicht immer alles tragisch sein. Zu Jan Bosses unterhaltsamer Inszenierung am Thalia Theater.

Realitätsverlust und Wahnsinn: König Lear (Wolfram Koch) – Foto: Armin Smailovic

 

DIE KRITIK

Gleich geht es los. Schnell noch den Glitzervorhang glatt streichen, den silbernen Boden ausrollen und die Instrumente aufbauen. Die Musiker (Jonas Landerschier, Leo Schmidthals und der Schauspieler Tilo Werner) spielen sich ein, der Narr (Christiane von Poelnitz) schlägt dazu den Schellenkranz, und währenddessen findet das Publikum bei eingeschaltetem Saallicht im Thalia Theater zu seinen Plätzen. Dann ist es soweit. „Der König kommt!“, ruft jemand. Von der Bühne aus werden die Zuschauer*innen zum Applaus animiert, wir, suggeriert dieser Regieeinfall, sind das Volk. Aus der ersten Reihe erhebt sich König Lear (Wolfram Koch) und schreitet würdevoll auf die Bühne, wo ihm ein Witzbold das Mikro extra viel zu hoch eingestellt hat.

Ja, es gibt durchaus viel zu lachen in Jan Bosses „König Lear“- Inszenierung. Leicht und unterhaltsam schnurrt sie in knapp zweieinhalb pausenlosen Stunden herunter, sucht das Komische in dem alten König, der nicht loslassen kann, ebenso wie in den Intrigen, die sich um ihn herum, aber auch um den Grafen Gloster  abspielen. Das ist nett anzusehen und macht Spaß, zumal Bosse mit einer exzellenten Besetzung arbeitet und Stéphane Laimé ihm ein zauberhaftes Bühnenbild inklusive glitzernder, sich später als Höhle im sternenerleuchteten Nichts verwandelnde Weltkugel entworfen hat. Gern schaut man auch zu, wenn die Figuren ausschließlich vom Zuschauerraum her auftreten und in der ersten Reihe die Kostüme wechseln, um eine andere Rolle einzunehmen. Aber ob ein Sinn und wenn ja, welcher, hinter dieser Idee steckt, erschließt sich auch bei ernsthaftem Grübeln nicht. Und so beschleicht einen der  Eindruck, dass hier das Unterhaltsame im Vordergrund steht, dass ins Komische abgebogen wird, sobald es schmerzlich wird, dass allzu tiefes Bohren lieber vermieden werden soll. Sei’s drum. Es gibt viel zu sehen an diesem Abend.

„Es wird Terror sein für diese Welt!“ 

Da steht mit Wolfram Koch ein Lear im pompösen Glitzerkleid (Kostüme: Kathrin Plath) auf der Bühne, der weit weg ist von einem Tattergreis. Eher ein Best-Ager mit lauter Stimme, strotzend vor Kraft und Selbstbewusstsein. Trotzdem will er sich zur Ruhe setzen und sein Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen. Gut überlegt, läuft aber leider schief. Denn die jüngste, Cordelia (Pauline Rénevier), schleimt sich nicht wie ihre Schwestern Goneril (Anna Blomeier) und Regan (Toini Ruhnke) beim Vater ein, sondern erklärt nüchtern: „Ich lieb euch, wie ich muss. Nicht mehr, nicht weniger.“ Kochs Lear verliert darauf jede Contenance. Er verstößt seine ehemalige Lieblingstochter, und als Goneril und Regan nicht so funktionieren, wie er es sich vorstellt, droht er Trump-ähnlich: „Es wird Terror sein für diese Welt!“. Mit seinem erratischen Denken driftet er immer weiter ins Abseits, kurz ist der Weg vom Realitätsverlust bis zum finalen Wahnsinn. Koch gibt weniger den verzweifelten, irrenden Mann als vielmehr den Berserker und furiosen Kauz, der sich mit den herumliegenden Leuchtbirnen eine Krone zaubert oder sie als Fernrohr benutzt. Erst ganz am Ende, als er seine tote Tochter Cordelia in den Armen hält, wird er für einen Moment still und ahnt, dass er sich von den beiden anderen Töchtern hat blenden lassen und das Wahre, Ehrliche nicht erkannt hat.  

Mit Pauline Rénevier als Cordelia steht ihm eine klare, unverfälschte Person gegenüber, die sich in ihrer Einfachheit abhebt von Anna Blomeiers genervter Goneril oder Toini Ruhnkes berechnender Regan. Die erst 24jährige Rénevier, die auch in „Schöne neue Welt“ (Gaußstraße) überzeugt, beweist eine bemerkenswerte Wandlungsfähigkeit, wenn sie neben Cordelia auch die Rolle des Edgar – dem in einer Parallelhandlung verstoßenen Sohn des Grafen Gloster – und dessen Wahnsinn als  frierenden, sich wie ein langgliedriges Insekt bewegenden „Poor Tom“ übernimmt . 

„Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen.“

Man könnte, man sollte jede und jeden dieser wunderbaren Schauspieler:innen viel genauer beschreiben: Christiane von Poelnitz als weitblickenden, mit rauher Stimme singenden Narren, Johannes Hegemann als schlaksigen, eher aus Langeweile denn aus Kalkül intrigierenden Edmund, Tilo Werner als treuen, aber durch und durch unsicheren Kent, Falk Rockstroh als hintergangenen und verzweifelten Gloster. Wie Lear stirbt auch er am Ende. Das Alte ist vergangen, auch die Jungen wie Regan, Goneril und auch Cordelia sind tot. Keiner tritt das Erbe an. Keiner? Damit will es Bosses Inszenierung nicht belassen. Cordelia steht wieder auf und verheißt in einem Sprechgesang: „Wir sprechen, was wir fühlen. Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen.“  Ach so.  

https://www.thalia-theater.de/stueck/koenig-lear-2022

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Schwierige Abgabe der Macht/Herrschaft 
  • Umgang mit Erbe
  • Verblendung und Realitätsverlust
  • Konflikt zwischen den Generationen
Formale Schwerpunkte
  • Offenlegen der Bühnensituation
  • Auftritt aus dem Publikum
  • Spiel im Spiel
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre, ab Klasse 10
  • empfohlen für Deutsch-, Englisch- Geschichts- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Die Inszenierung von Jan Bosse streicht eine Reihe von Figuren und setzt zum Teil andere Schwerpunkte als das Original: 

König Lear will abdanken und das  Reich gerecht unter seinen drei Töchtern aufteilen. Während die beiden älteren, Goneril und Regan, ihm Honig um den Bart schmieren, indem sie ihm mit großen Worten ihrer Lieben versichern, bleibt Lieblingstochter Cordelia, die jüngste, ehrlich: „Ich lieb euch, wie ich muss. Nicht mehr, nicht weniger.“ Für den Vater ist das zu wenig. Er verstößt sie und gibt das Reich je zu einer Hälfte an Regan und Goneril, allerdings unter der Bedingung, dass er abwechselnd mit seinen Leuten bei ihnen wohnen und von ihnen gepflegt werden kann. Bald schon wird klar, dass Lear trotz allem die Macht nicht loslassen kann. Nach wie vor geriert er sich als Herrscher und gerät mit seinen beiden Töchtern aneinander. Die haben ihre eigenen Vorstellungen von der Herrschaft eines Landes, Lear und seine Ansprüche stehen ihnen nur im Weg. Lear wird von ihnen verstoßen, er verliert zunehmend den Sinn für die Wirklichkeit, der Sturm und die unwirtliche Landschaft, in die er sich mit seinem Narren und dem ihm ergebenen Kent begibt, stehen sinnbildlich dafür. 

In diesem Zustand begegnet er Edgar, dem jüngeren Sohn des Grafen Gloster.  Edgar irrt als Wahnsinniger „poor Tom“ durchs Land, nachdem ihn sein Vater – eine Parallele zur Handlung um Lear – aufgrund einer Intrige von Edgars Bruder Edmund verstoßen hatte. Da sich Gloster als Freund Lears erweist, bestrafen ihn Goneril und Regan, indem sie ihm die Augen ausstechen und Gloster nunmehr erblindet durch das Land zieht. Dort trifft er auf Edgar, der ihn vom Selbstmord abhält. 

Cordelia war mit dem französischen Heer – sie hatte König Frankreichs geheiratet – nach England gekommen, um die Streitigkeiten um die Macht zu beenden, doch sie starb zuvor in einer Schlacht. Lear findet seine tote Tochter und erkennt im Ansatz ihre Ehrlichkeit und sein Fehlverhalten.

Mögliche VorbereitungeN

Über Referate, als vorbereitende Hausaufgabe oder Lehrer*innenvortrag:

  • Inhalt von Shakespeares „König Lear“

Im Unterrichtsgespräch:

  • Was bedeutet Macht/Herrschaft/ Regierungsverantwortung?
  • Welche Strukturen gibt es in welchen Gesellschaften? 
  • Wie kann Machtübergabe sinnvoll funktionieren?
  • Wo gibt es Probleme?
  • Welche Konflikte bestehen zwischen der Generation der „alten weißen Männer“ und der Generation der jungen (Frauen)? Gibt es Gemeinsamkeiten?
Speziell für den Theaterunterricht: 
Gehen – Stehen – Bleiben

Die Spieler:innen  stehen in einer Reihe; die Spielleitung liest die Inhaltsangabe zu Shakespeares „König Lear“ vor; die Reihe geht langsam auf die gegenüberliegende Seite des Raumes zu; wann immer dem /der einzelnen Spieler*in etwas interessant vorkommt, bleibt er/sie stehen. Nach dem Vorlesen nennt jede*r seinen/ihren Themenschwerpunkt, die auf Karten gesammelt werden; bei einem zweitem Durchgang können weitere hinzukommen. Die Karten werden ausgelegt und Schwerpunkte gebildet.

Trailer erstellen

Aufteilung in Fünfer-Gruppen.

Aufgabe: Erstellt einen Kino-Trailer (mit Text und möglichst viel Aktion) zu „König Lear“.

Parallel dazu bzw. alternativ:

Erstellen von Standbildern

In Vierer-/ Fünfer-Gruppen:

Aufgabe:

  • Wählt euch zwei oder drei der oben genannten Schwerpunkte aus erstellt dazu je ein Standbild.
  • Verbindet in einem zweiten Durchgang die Standbilder miteinander, indem ihr in Zeitlupenbewegungen von einem Bild ins andere wechselt (als wenn man auf „Play“ drückt).