Dantons Tod Reloaded

Die Revolution kennt nur eine Antwort: „Nein“. Aber wo bleibt der Dialog? Zu Amir Reza Koohestanis Überschreibung von Büchners Revolutionsdrama im Thalia in der Gaussstraße. 

Foto: Krafft Angerer

Die Kritik

So viele Themen. So viele inhaltliche Verflechtungen und Überlagerungen. Da ist die aus dem Ruder gelaufene Revolution in Büchners Drama „Dantons Tod“. Da ist die aktuelle Protestbewegung iranischer Frauen, ausgelöst durch die Festnahme und den Tod von Masha Amini, die ihr Haar nicht korrekt bedeckt hatte. Aber da ist auch die Behauptung, dass ein Schauspieler einer Kollegin gegenüber sexuell übergriffig geworden sei, indem er ihr die Hand auf das Knie gelegt hat. Und da ist das Gerücht, dass eine Schauspielerin aus Kostengründen entlassen werden soll. „Freiheit Gleichheit Schwesterlichkeit“ lautet der Untertitel zur Uraufführung von „Dantons Tod Reloaded“ im Thalia in der Gausstraße. Es geht also um Frauen, eine weibliche Sicht und um Solidarität. Die Überschreibung von Büchners Revolutionsdrama stammt von den iranischen Theaterkünstlern Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani, letzterer ist auch für die Regie verantwortlich. 

Die Bühne von Mitra Nadjmabadi ist beeindruckend: sechs verschiebbare Bildschirmwände, auf die Texte projiziert werden oder die als Spiegel fungieren können, dahinter eine die gesamte Breite einnehmende weitere Projektionsfläche. Jeder der sechs Wände ist einer Figur aus Büchners Drama zugeordnet: Danton (Stefan Stern), Robespierre (Oliver Mallison), Camille (Pauline Rénevier), St. Just (Toini Ruhnke), Lucile (Neda Rahmanian), Marion (Mahin Sadri). Die Schauspielerinnen spielen keine Männer, sie sind ausdrücklich als Frauenfiguren zu sehen, es geht ja schließlich um solidarische Schwesterlichkeit. Sie sind Teil einer Theatertruppe, die in Paris „Dantons Tod“ als Gastspiel aufführen sollen. Allerdings verhindert sie ein Gewerkschaftstreik an den Vorstellungen. 

Es gibt ein klares „Nein!“ zur Zwangsverschleierung und ein klares „Ja!“ zur Solidarität.

So spannend all diese Themen sind, so verwirrend bleibt der fantastisch gespielte Abend aber am Ende. Welcher Handlungsstrang wie genau wo gespiegelt oder kommentiert wird, ist schwer herauszufinden. Außerdem bleibt auch die Frage nach der Gewichtung. Der Protest der vom Terrorregime bedrohten iranischen Frauen steht ja nicht auf einer Stufe mit einem vergleichsweise harmlosen Übergriff, obwohl Frauen in beiden Fällen Opfer sind. Der Vorwurf an den Spieler von Danton, einer Kollegin die Hand auf das Knie gelegt zu haben und damit sexuell übergriffig geworden zu sein, steht im Raum und wird von Danton bestritten. Aussage steht gegen Aussage, statt eines eindeutigen„Ja“ oder „Nein“ wäre ein Dialog nötig, um die Vorwürfe zu klären. Im letzten Bild des 100minütigen Abends werden die Anschuldigungen in schnellem Wechsel auf die sechs Bildschirme projiziert, Danton streitet alles ab, das Opfer tritt gar nicht auf und wird auch nicht gehört. Auf dem Riesenbildschirm in Hintergrund rauscht rhythmisch ein rotes Dreieck wie eine Guillotine herunter (Video: Phillip Hohenwarter). Die Verurteilung und die Solidarität der Frauen mit dem Opfer läuft parallel zu einer Einspielung, die die Schwester der Marion-Darstellerin im Iran zeigt, wie sie sich eine Haarsträhne abschneidet. Sie ist tatsächlich vom Terror-Regime der Mullahs bedroht, hier gibt es ein klares „Nein!“ zu der Zwangsverschleierung und ein „Ja!“ zur Solidarität. Alle Mitglieder der Schauspieltruppe beweisen ihre Unterstützung, indem sie sich schneiden sich eine Haarsträhne ab. Darin liegt der Unterschied zu dem „#MeToo“-Fall. 

So klug und ambitioniert Koohestanis Produktion ist, so hätte sie sich (und dem Publikum) sicher einen Gefallen getan, wenn sie sich allein auf Büchners Drama und die Protestbewegung im Iran konzentriert hätte. Aber vielleicht muss man die Inszenierung noch mindestens ein weiteres Mal sehen, um alles zu verstehen. 

Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/dantons-tod-reloaded-2023

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Solidarität bei sexueller Übergriffigkeit
  • Solidarität mit der „Women Life Freedom“-Bewegung im Iran
  • Wann ist Solidarität sinnvoll?
  • Welche Möglichkeiten hat eine Revolution?
Formale Schwerpunkte
  • Wechsel zwischen Büchners Originaltext zu aktuellen Dialogen
  • Besetzung männlicher Rollen mit Frauen, um weibliche Sicht zu verdeutlichen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 17/18 Jahre, ab Klasse 11/12
  • empfohlen für Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Eine internationale Theatergruppe soll in Paris Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“ aufführen. Allerdings versucht ein Gewerkschaftsstreik, die Vorstellungen zu verhindern. Während das Ensemble wartet, werden weitere Probleme deutlich: Der Darsteller des Danton wird beschuldigt, einer Kollegin gegenüber sexuell übergriffig geworden zu sein, weil er ihr eine Hand aufs Knie gelegt hat. Danton (alle Darsteller:innen tragen die Rollennamen des Stücks) bestreitet das, verweist darauf, dass er die Kollegin nur zufällig berührt hat. Camille fordert zur Solidarität mit dem Opfer auf. Solidarität fordert auch St Just. Sie (Koohestani hat Büchners Revolutionär ebenso wie Camille durch eine Frau ersetzt) hat gehört, dass eine Schauspielerin aus dem Ensemble entlassen werden soll. Um die Kollegin zu halten, sollten alle anderen auf 300 Euro Gage verzichten. Bewiesen ist die geplante Entlassung allerdings noch nicht. Sie ist lediglich ein Gerücht. Lucile hat noch ganz andere Sorgen. Sie versucht die ganze Zeit ihre Schwester im Iran zu erreichen, die ein Video gepostet hat, in dem sie sich eine Haarsträhne abschneidet. Eine gefährliche Protestaktion der „Women Life Freedom“- Bewegung gegen die Zwangsverschleierung der iranischen Frauen, die mit der Verhaftung und dem Tod der jungen Masha Amini begann, die ihre Haare nicht korrekt bedeckt hatte.    

 

Mögliche VorbereitungeN
Recherche zu folgenden Fragen:
  • Inhalt von Georg Büchners „Dantons Tod“
  • Recherche zur iranischen Protestbewegung „Women Life Freedom“: Ursache und Konsequenzen
  • Recherche zu Regisseur Amir Reza Koohestani
Speziell für den Theaterunterricht:

Als Referat, Vortrag der Lehrkraft oder als vorbereitende Hausaufgabe:

Postdramatisches Theater im Vergleich zu klassischem dramatischen Theater

  • Überschreibungen von Dramen – was bedeutet das? 
  • Erläuterung zu Skulpturen: 
  • Skulpturen sind dreidimensional, dienen der abstrakten oder konkreten Verdeutlichung eines Themas/Begriffs über die Körper; dabei hat jede Figur einen eigenen Fixpunkt; mehrere Kontaktpunkte der Figuren zueinander, Gesichter und Mimik müssen sichtbar sein
  • Übung 
  • Bau einer Skulptur zum Thema „Aufstand“
  • Eine Person nimmt eine Haltung in der Mitte eines Platzes ein, eine weitere kommt dazu und versucht die Person zu unterstützen; eine weitere kommt dazu, verstärkt ebenfalls.
  • Keine Person darf den Zuschauern den Rücken zudrehen, die Skulptur muss dreidimensional sein und von allen Seiten gleichermaßen eindrucksvoll anzusehen sein. Es gibt keinen gemeinsamen Fixpunkt, jede  Person hat ihren eigenen. 
  • Die Spielleitung wählt aus Büchners „Dantons Tod“ einige Szenen aus (z.B. I,1; I,5; I,6; ) aus. 
  • Es werden Vierer- oder Fünfergruppen gebildet, jede Gruppe erhält eine andere Szene.
  • Aufgabe: 
  • Lest die Szene mit verteilten Rollen und filtert die für euch wichtigen Begriffe heraus.
  • Gestaltet eine Skulptur zu einem Begriff eurer Wahl.  
  • Beachtet:
  • alle drei Ebenen
  • mehrere Kontaktpunkte der Figuren untereinander
  • Dreidimensionalität
  • Körperhaltung: Umsetzung des Gefühls/ des Zustandes, den die Skulptur vermitteln soll
  • jede Figur hat einen eigenen Fixpunkt
  • alle Gesichter und deren Mimik müssen sichtbar sein.

Präsentation durch Herumgehen um Skulptur