Das Urteil

Wie gerecht ist ein Schuldspruch? Berücksichtigt er alle Perspektiven? Zu Lars Cegleckis behutsamer Inszenierung am Theater Das Zimmer.

Foto: Patrick Bieber

Die Kritik

Ist eigentlich nicht viel los in der Lounge am Flughafen. Ein junger und ein älterer Mann warten auf ihren Anschlussflug von New York nach Hamburg. Der jüngere blättert in einer Zeitung, der ältere liest aufmerksam in einem Büchlein. Nicht irgendeinem, sondern der Haggada, die Erzählung und Handlungsanweisung ist für die Zeremonie am Vorabend des Festes der Befreiung der Israeliten aus ägyptischer Sklaverei. Der jüngere Mann erkennt das Buch und schlägt dem anderen vor, es abzukaufen. Der lehnt entrüstet ab, er ist Jude, und das Buch hat für ihn eine besondere Bedeutung. Was mit einem harmlos erscheinenden Gespräch beginnt, spitzt sich in Paul Hengges Stück „Das Urteil“ zu einem Tribunal zu, bei dem es um nichts weniger als um Wahrheitsfindung und die Verurteilung eines Menschen geht.

Feinfühlig hat Intendant Lars Ceglecki das Stück im Theater Das Zimmer zur Eröffnung der neuen Spielzeit inszeniert. Es ist bereits die 10. Spielzeit des kleinen gerade einmal 20 Plätze umfassenden Theaters an der Washingtonallee, und die Nähe des Publikums zur Bühne ist ein ganz großes Plus, taucht man doch direkt in das Geschehen ein. 1999 erlebte „Das Urteil“ am Thalia Theater, also in einem ungleich größeren Rahmen, seine Uraufführung, an der Washingtonallee ist eine eigene, 90minütige Fassung zu sehen. 

„Sie sehen alles nur aus Ihrer Perspektive!“

Weiße Holzpodeste sind zu einem treppenartigen Gebilde angeordnet. Auf dessen oberster Stufe liegen Zeitungen, in einem Fach finden sich Gläser und Getränke. Im Hintergrund sind auf einem Prospekt helle Wolken zu sehen, die den Flughafen als Ort assoziieren lassen. Tosja M.D. Kruppa spielt den jüngeren Mann. Im quetschblauen Anzug sitzt er auf der obersten Stufe, liest angelegentlich die Zeitung und wird scheinbar (!) erst auf den älteren aufmerksam, als dieser ihn danach fragt, wo er Getränke bekommen könnte. Klaus Falkhausen zeigt ihn zunächst als einen, der sich nicht recht auskennt. Fast könnte man annehmen, dass dieser Mann, der sich bald als der in New York lebende Antiquar Rabinovicz vorstellt, ein wenig senil ist. Dass dem bei weitem nicht so ist, wird in dem nachfolgenden Gespräch deutlich. Sensibel stellt Falkhausen diesen Rabinovicz in all seinen Facetten dar. Da ist das Misstrauen gegenüber dem neugierigen deutschen jungen Mann, dann der Zorn über dessen anmaßende Befragung. Ganz zart und berührend beschreibt er, wie er und seine Freundin  Rifka sich die Ehe versprochen haben, sie sich aber im Gegensatz zu ihm nicht mehr vor den Nazis retten konnte. Das Gespräch hat sich zu dem Zeitpunkt längst zu einem Verhör entwickelt. Anlass ist der Mord an einem Milliardär, über den die Zeitungen berichten. Wegen eines von dem Journalisten als „nicht zuverlässig“ eingestuften Zeugen ist ein Verdächtiger festgenommen worden und soll demnächst verurteilt werden. Rabinovicz hält ihn für schuldig. „Sie sehen alles nur aus Ihrer Perspektive“, hält ihm der Deutsche vor und argumentiert wie ein Staatsanwalt. Wie findet man die Wahrheit? Wer ist schuldig? Wer wird verurteilt? Diese Fragen greifen von dem Mordfall zurück bis in Rabinovicz’ Vergangenheit. 

Weitere Informationen unter: https://www.theater-das-zimmer.de/stueck/das-urteil/

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Wie gerecht kann ein Urteil ausfallen?
  • Inwiefern wird es von der eigenen Perspektive beeinflusst?
Formale Schwerpunkte
  • Realistische Spielweise im Stil von Stanislavski
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11
  • für Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Zwei Männer warten bei einem Zwischenstopp von New York nach Hamburg in der Lobby eines Flughafens. Der ältere von beiden ist der jüdische Antiquar Rabinovicz. Seinen direkten Anschlussflug hat er einem ihm unbekannten Gast abgetreten und einen späteren gebucht. Dafür hat er einen Platz in der ersten Klasse sowie ein Exemplar der Haggada bekommen, einer Schrift, die ihm besonders wichtig ist. Sie ist Erzählung und Handlungsanweisung für die Zeremonie der Juden am Vorabend des Festes zur Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Warum dieser Tausch zustande gekommen ist, versteht Rabinovicz nicht, denn die Maschine war nicht ausgebucht, er hätte seinen Platz überhaupt nicht abgeben müssen.  Rabinovicz wird misstrauisch, denn der jüngere Mann, ein Deutscher, fragt ihn nach der Herkunft des Buches und nach den Gründen für den Tausch aus. Zwischen beiden entwickelt sich ein zunächst recht schroffes Gespräch, in dem es nur um diesen Flug zu gehen scheint. Bald aber geht es um den Mord an einem Millionär auf einem Kreuzfahrtschiff. In der Zeitung steht, dass aufgrund einer nicht ganz schlüssigen Zeugenaussage ein Mann festgenommen worden ist, der nun auf sein Urteil wartet. Rabinovicz behauptet, dass dieser Mann schuldig ist. Er selbst habe in der Kabine neben dem Mordopfer einen Streit hören und den Verdächtigen aus der Tür kommen sehen. Der Deutsche ist anderer Meinung und findet jede Menge Gegenargumente. Das ursprünglich harmlose Gespräch entwickelt sich zu einem Tribunal um die Frage, ob ein gerechtes Urteil möglich ist.

Mögliche VorbereitungeN
Im Unterrichtsgespräch:
  • Wie kommen wir zu Urteilen über andere Menschen?
  • Wovon werden wir dabei beeinflusst?
  • Inwieweit kann es gerechte Urteile geben?
Speziell für den Theaterunterricht:

Die Inszenierung kann im Unterricht zum Thema „Regiestile“ verwendet werden, hier als Beispiel für die Schauspielerführung bei Stanislavski. 

Zu Stanislavski:

Voraussetzung: „Worin besteht denn unsere schöpferische Arbeit? Sie besteht in Zeugung und Austragung eines neuen Lebewesens – der Einheit Mensch-Rolle. Es ist ein natürlicher Schaffensakt wie die Geburt eines Kindes.“

Wahrhaftigkeit an erster Stelle, weil nur Wahrhaftigkeit überzeugt; d. h. eine Figur muss verkörpert werden, das „Als ob“

Ziel: Erreichen des Unbewussten durch das Bewusste, dadurch den Schauspieler zum Menschen machen. Schauspieler soll einen emotionalen Zugang zur Rolle finden

1.Säule: Physische Handlung und die Als ob’s

Der Weg dahin geht über körperliche Handlungen. Schauspieler legt entsprechend der Rolle eine physische Handlungsabfolge fest und probt sie so lange, bis er sie glaubt. Er darf dabei nicht in theatralische Konventionen verfallen. Hinzu kommen die magischen „Als ob’s“

Beispiel: Das magische Als ob zum einfachen Als ob (Ich tue so, als ob ich Othello wäre“)hierzu hieße: ich tue so, als ob ich, Othello, wahnsinnig eifersüchtig bin, weil ich von Jago erfahren habe, dass meine Desdemona, deren Liebe ich mich nicht wirklich für würdig erachte, weil ich ein hässlicher Schwarzer bin – dass meine geliebte Desdemona, mich mit einem anderen Mann betrügt.)  Bessere Einfühlung durch mehrfaches Wiederholen

2.Säule: Die Kunst des Verkörperns

Dazu Entspannen, um sich konzentrieren zu können: Wechselbeziehung 

Drei Kreise der Aufmerksamkeit

  • der kleine Kreis: selbst und direkte Umgebung,
  • der mittlere: Bühnenpartner, 
  • der große: gesamte Umgebung.

Schauspieler muss sich vor allem auf den kleinen Kreis konzentrieren, dann Arbeit an der Rolle 

Dazu: Teilung der Rolle in einzelne Teilaufgaben, in denen physische und psychische Handlungen miteinander gekoppelt werden.

Der Schauspieler ahmt nicht nach, er ist.

Dazu muss er zuerst seine eigen Persönlichkeit ausloten, um dann aus den eigenen Erfahrungen zu einer lebendigen Darstellung zu gelangen

Wege dahin: physische Handlungen. Der Schauspieler muss seinen Text nach einfachen physischen Handlungen abklopfen und diese proben, da der seelische Zustand eines Menschen in seinen physischen Handlungen deutlich/sichtbar wird. Säule: Die Kunst des Verkörpern

Später wird diese Methode von Lee Strassberg im „Method Acting“ übernommen (s. de Niro „Taxi Driver“, Heath Ledger als Joker in „The Dark Night“)

  • Kurze Reflexion im Unterrichtsgespräch:
  • Wo sind die Schwierigkeiten? Vgl. zu den beiden anderen Theaterformen
Übung mit der Gruppe:

Verteilung im Raum, jede: r mit Stuhl. Die Lehrkraft sagt nacheinander mit Zwischenpausen an:  

Setz dich hin, 

  • um dich auszuruhen
  • um dich zu verstecken, damit man dich nicht findet
  • um zu hören, was im Nebenzimmer geschieht
  • um zu beobachten, was hinter den gegenüberliegenden Fenstern geschieht
  • um im Wartezimmer eines Arztes darauf zu warten, dass man an die Reihe kommt
  • um ein schlafendes Kind zu bewachen
  • um zu beobachten, was rings um dich geschieht
  • um herauszukriegen (im Kopf!), was 15 mal 375 ist
  • um dich auf eine vergessene Melodie zu besinnen
Aufgabe in Vierergruppen
  • Lest euch einen Textausschnitt aus der laufenden Szenenarbeit genau durch.
  • Zerlegt den Text für jede Figur in möglichst viele einzelne physische Handlungen und probt diese Handlungen immer wieder. 
  • Achtet darauf, dass euch die Handlungen selbstverständlich werden, damit ihr sie so natürlich/wahrhaftig wie möglich darstellen könnt.
  • Den Text könnt ihr weglassen oder sinngemäß improvisieren.

Präsentation und Besprechung:

Worin liegt die Schwierigkeit bei dieser Theaterform?