Barocco

Eine Feier des Lebens und der Schönheit im Angesicht von Tod und Unterdrückung – zu Kirill Serebrennikovs überwältigendem, jedes Genre sprengenden Musiktheaterabend im Thalia Theater.

Der Pianist Daniil Orlov – Foto: Fabian Hammerl

Die Kritik

Feuer – entflammt, brennt, lodert, verbrennt. Setzt Zeichen, erschreckt, begeistert, tötet. Leitmotivisch durchzieht es in all seinen möglichen Auslegungen die überwältigende Inszenierung des russischen Theatermachers Kirill Serebrennikov. Da ist der strömende Regen zu Beginn. Graue Schattengestalten versammeln sich mit Schirmen vor einer Videoleinwand, weißer Nebel steigt auf, aber es fehlt – Licht (Bühne und Kostüme: ebenfalls Serebrennikov). Ein Mann in grauem Mantel, offenbar ein Künstler (Odin Biron), kniet an der Rampe und beschreibt eine Tafel und hält sie dann vor die Brust. „Fire“ steht darauf. Doch es bleibt zunächst düster, die Straßenlaterne leuchtet nur kurz auf und verglüht. Der herbeieilende Techniker scheitert, ein Stromschlag tötet ihn. Aber der Künstler schafft es. Mühelos klettert er nach oben und repariert die Lampe, die Szene bekommt Licht und, wenn man so will, das Leben wieder Hoffnung. Ein Streichquintett sowie ein Orchester unter der Leitung des Pianisten Daniil Orlov intoniert Jean-Baptiste Lullys Passacaille d’Armide, die Schattengestalten beginnen zu singen, und es geht einem das Herz auf. Es ist nur eines der insgesamt zehn assoziativ aneinander gereihten Bilder dieser Inszenierung, die keinen Handlungsfaden verfolgt. Sie montiert Eindrücke von Protest und Unterdrückung, spannt den Bogen von den weltweiten Studentenbewegungen 1968 über die Selbstverbrennungen tibetanischer Mönche oder des Studenten Jan Palach in Prag bis zu aktuellen diktatorischen Regimes. 

Die Proben zur Moskauer Uraufführung leitete Serebrennikov aus dem Hausarrest.

„Barocco“ – das ist ein „musikalisches Manifest“, so der Untertitel, ein grenzüberschreitender, bildgewaltiger Musiktheaterabend, ein zorniges, leidenschaftliches Trotzdem. Serebrennikov hatte diesen Abend bereits 2018 im Gogol-Center, seinem Theater in Moskau, uraufgeführt, ohne die Vorstellung gesehen zu haben. Zu der Zeit hatte ihn das Regime unter fadenscheinigen Gründen mit Straflager bedroht, ihn dann aber „nur“ unter Hausarrest gestellt. Die Proben leitete Serebrennikov über USB-Sticks und Video, live war er nie dabei. Dafür hatte Thalia-Intendant Joachim Lux Gelegenheit, die Moskauer Vorstellung zu besuchen und war davon dermaßen bewegt, dass er alle Hebel in Bewegung setzte, um die Aufführung nach Hamburg zu bekommen. Der Hausarrest, Corona und der Krieg vereitelten die Realisierung dieses Wunsches zunächst. Als jedoch Serebrennikov im Januar 2022 überraschend zu seiner Inszenierung von „Der schwarze Mönch“ nach Hamburg ausreisen konnte (seither lebt er in Berlin), wurden die Ideen konkreter, wenngleich eine Umsetzung mit Künstler*innen aus unterschiedlichen Bereichen (Tanz, Musik, Schauspiel) und unterschiedlichen kulturellen Wurzeln (Russland, China, USA, Brasilien, Deutschland) organisatorische, administrative und finanzielle Hürden bedeutete.

„Alle müssen sterben“, singt der Clown.

Serebrennikov hat seine Moskauer Inszenierung für Hamburg überarbeitet und neue Aspekte wie den russischen Angriffskrieg darin berücksichtigt. Der Grundgedanke ist geblieben: die Allgegenwart des Todes, der Unterdrückung und die Sehnsucht nach Schönheit und Leben. Die spiegelt sich in der Musik wider (die komplette Playlist findet sich in dem ausführlichen, unbedingt lesenswerten Programmheft), dargeboten vom  Orchester und einem fantastischen Ensemble aus ausgebildeten Opernsängern (Nadeszhda Pavlova, Odin Biron, Svetlana Mamresheva, Yang Ge), einem mitreißenden Straßensänger (Jovey) und beeindruckend sangesstarken Thalia-Schauspielern (Felix Knopp, Tilo Werner).  „Alle müssen sterben“, singt der Clown (Tilo Werner) in unterschiedlichen Sprachen. Er schnappt sich dazu eine Violine, spielt zur Gitarre, steigt auf die Sitze der vorderen Zuschauerreihen, fragt launig: „Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, in welcher Sprache sie sterben möchten?“ Komischer Spruch, aber klar: Wir alle müssen sterben und da ist es gut, wenn man sich ab und zu daran erinnert. Das ist ja auch der Grundgedanke des Barock. „Je vis pour mourir“ – ich lebe um zu sterben, singt der Clown. Darüber könnte man verzweifeln. 

Eine junge Frau tanzt mit einer im Wind wirbelnden Plastiktüte.

Der ausgebrannte Journalist (Felix Knopp) ist nah dran. Er recherchiert zu Menschen, die sich aus Protest  selbst verbrannt haben. Wie der Student Jan Palach. Er hatte sich wegen des Einmarsches der Sowjet-Armee in die Tschechoslowakei und der Niederschlagung des Prager Frühlings auf dem Prager Wenzelsplatz angezündet. Eine lebende Fackel. Feuer als Protest. Der Journalist ist von seiner Arbeit ausgebrannt, trotzdem sieht er noch die Schönheit in der Welt. Wie zum Beispiel eine im Wind wirbelnde Plastiktüte, mit der eine junge Frau zu tanzen beginnt – ein zartes, poetisches Bild, „das Herz könnte einem stehenbleiben“, resümiert er. 

„Wir widmen die Aufführung von „Barocco“ allen politisch verfolgten Künstlern – in Russland und überall auf der Welt“, heißt es im Programmheft. Der Überlebenswille der Kunst und des Künstlers manifestiert sich in einem berührenden, starken Bild: Der Pianist Daniil Orlov in weißem Anzug wird von einem maskierten dunkel gekleideten Mann auf die Bühne geführt. Seine rechte Hand ist mit einer Handschelle an den Schergen gefesselt, der breitbeinige Macht verkörpernd gelangweilt eine Zigarette raucht. Orlov setzt sich ans Klavier und beginnt mit der linken Hand die von Johannes Brahms für Klavier umgeschriebene Chaconne d-moll von Johann Sebastian Bach zu spielen. Ein todtrauriges, umwerfendes, wunderschönes Trotzdem.

Dieser Abend hallt noch lange nach. Und er ist mit dieser Saison nicht – wie ursprünglich kolportiert – vom Spielplan verschwunden. Die nächsten Vorstellungen für den 14., 15. und 17. September sind bereits im Verkauf. Hingehen! Unbedingt!

https://www.thalia-theater.de/stueck/barocco-2022

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Achtung! Für die Vorstellungen von „Barocco“ gibt es nicht wie sonst Gruppen- oder Lehrerkarten. Schüler*innen können Karten zum Jugendtarif von 17 € erwerben, für Lehrkräfte gilt der normale Besucher*innenpreis.

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Protest gegen Unterdrückung von 1968 bis heute
  • Sehnsucht nach Schönheit
  • Feier des Lebens angesichts des Todes
Formale SchwerpunktE
  • Mischung von Musik-, Tanz- und Sprechtheater  
Zum Inhalt

Einen Handlungsfaden gibt es nicht. „Barocco“, #einspielmitdemfeuer,  ist ein musikalisches Manifest in zehn Bildern, das sich assoziativ mit gewaltsamer Unterdrückung, der Sehnsucht nach Schönheit und dem Protest auseinandersetzt. Mit „Barock“ wird dem Ursprung nach eine Perle bezeichnet, die nicht in die gleichmäßige Reihe einer Kette passt, weil sie schöner, schiefer oder hässlicher ist. Serebrennikov sieht darin die Künstler*innen, die sich nicht anpassen, die aus der Reihe tanzen. 

Im Zeitalter des Barock wird der Tod als allgegenwärtig empfunden. Der „Vanitas“-Gedanke, dass alles eitel und vergänglich ist, dominiert. Die Konsequenz daraus ist einerseits die pralle Lebensgier mit überbordenden Festen (auch deutlich in der überladenden Architektur), andererseits in dem Verzicht und dem gottgefälligen Leben mit der Aussicht auf einen Platz im Himmel. Mit der Metapher des Feuers greift Serebrennikov diese beiden Seiten auf. Sie durchzieht die Inszenierung, bedeutet sowohl Lebensfreude und Leidenschaft, aber auch Protest, Ausgebrannt-Sein und Tod.    

.

Mögliche VorbereitungeN

In Gruppenarbeit, als Referat oder als Hausaufgabe:

  • Recherche zur Biografie von Kirill Serebrennikov
  • Recherche zu den 1968er Bewegungen  
  • Recherche zum Prager Frühling und Jan Palach
  • Recherche zu Protest durch Selbstverbrennung
  • Recherche zum Zeitalter des Barock (eventuell Interpretation von ausgewählten Gedichten, z.B. von Andreas Gryphius)
  • Analyse von Barockmusik an ausgewählten Beispielen.