Altes Land

Wie man Dörte Hansens Debütroman mit nur drei Schauspielerinnen und einem Musiker auf die Bühne bringen kann, zeigt Julia Bardoschs einfühlsame Inszenierung im Studio des Ohnsorg Theaters.

Ruth Maria Kröger, Kerstin Hilbig – Foto: Sinje Hasheider

DIE KRITIK

Dörte Hansen hat Konjunktur. Was sie erzählt, berührt durch genaue Beobachtung, unpathetische Beschreibung und einem tiefen Verständnis für Menschen. „Mittagsstunde“ ist bereits im Thalia Theater für die Bühne adaptiert und von Lars Jessen verfilmt worden. Beide Versionen haben eine unterschiedliche Herangehensweise, werden aber jeweils der Vorlage unbedingt gerecht. Vollkommen daneben liegt Sherry Hormanns Verfilmung von „Altes Land“, die den Ton Hansens nicht mal im Ansatz trifft. Ganz anders dagegen die Bühnenfassung von Julia Bartsch und Cornelia Ehlers im kleinen Studio des Ohnsorg Theaters. Ehlers (Dramaturgie) und Bartsch (Regie) haben die Vorlage behutsam auf einen zweieinhalbstündigen Abend (inklusive Pause) gekürzt, dabei aber nichts ausgelassen, was dem Roman seine Tiefe verleiht. Mit nur drei Schauspielerinnen – Kerstin Hilbig, Ruth Maria Kröger und Kristina Nadj – und dem Musiker Florian Miro erzählen sie die Geschichte von Flucht und Heimatsuche über die Jahrzehnte hinweg mit dem Haus im Alten Land als Mittelpunkt. 

Über die Jahrzehnte hinweg wird dieses Haus Menschen aufnehmen.

Katrin Reimers hat auf die Bühne des Studios die Fassade eines Bauernhauses gebaut. Davor steht eine Gartenbank. Hier wird später Karl (Florian Miro), der vom Krieg traumatisierte Sohn der Bäuerin Ida, sitzen. Ein leiser, freundlicher Mensch, der Akkordeon spielt, aber nicht mehr spricht. Wenn er mit Veras Hilfe stirbt, verlässt Miro einfach die Bühne. Nur das Akkordeon bleibt auf der Bank liegen – ein Zeichen jenseits aller Geschwätzigkeit  und daher umso stärker. Karl ist aus dem Krieg in sein Elternhaus zurück zu seiner Mutter Ida gekommen. Die hat bereits Hildegard von Kamcke und ihre Tochter Vera, Flüchtlinge aus Ostpreußen, widerwillig aufgenommen und ist mit ihnen und Karl überfordert. Ida nimmt sich das Leben, Hildegard geht nach Blankenese, Vera bleibt bei Karl und wird Jahre später ihre Nichte Anne mit Sohn in diesem Haus aufnehmen. Über die Jahrzehnte hinweg wird dieses Haus, dessen Giebelinschrift lautet „Düt Huus is mien un doch nich mien, de no mi kümmt, nennt’t ok noch sien“, Menschen aufnehmen, die von wo oder was auch immer fliehen und dort Geborgenheit suchen.

Man sollte im Ohnsorg unbedingt über eine Verlängerung nachdenken.

Mit einem schwarzen Grundkostüm und verschiedenen Kostümaccessoires wechseln die drei Schauspielerinnen die Rollen, spielen Vera als Kind (Kristina Nadj) und später als alte Frau (Kerstin Hilbig), wandeln sich von der dünkelhaften Hildegard (Ruth Marie Kröger) zum kernigen Tischlermeister, von Veras Freund Hinni zu Annes „Musimaus“-Chef Sven. Als Erzählerinnen überbrücken sie auf hochdeutsch Zeitspannen und Ortswechsel und spielen im nächsten Moment die entsprechende Szene: In Ottensen wird hochdeutsch gesprochen, auf dem Bauernhof plattdeutsch. Das alles lässt sich auch ohne Kenntnis des Romans gut nachvollziehen, ist mit leichter Hand inszeniert und überzeugend gespielt. Kein Wunder, dass die Vorstellungen bis in den Januar hinein ausverkauft sind. Und weil das so ist, sollte man im Ohnsorg unbedingt über eine Verlängerung nachdenken. 

ohnsorg.de

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte

Flucht und ihre Folgen:

  • Flucht aus Ostpreußen (2. Weltkrieg)
  • Flucht aus familiären Strukturen
  • Flucht aus der Großstadt
  • Suche nach Geborgenheit
Formale Schwerpunkte
  • Rollenwechsel durch Kostümaccessoires
  • Wechsel von Erzählebene zu Dialogebene
  • Wechsel von Hochdeutsch (Erzähltext, Dialoge in Ottensen) zu Plattdeutsch (Dialoge im Alten Land)
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre; Jahrgangsstufe 10/ 11
  • geeignet für Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ist Vera Eckert mit ihrer Mutter Hildegard von Kamcke aus Ostpreußen ins Alte Land geflohen, der kleine Bruder ist als Baby am Wegesrand erfroren. Im Haus von Ida Eckhoff, einer Altländer Bäuerin, werden sie als „Pollacken“ empfangen und müssen im Kuhstall schlafen. Bald darauf kehrt auch Idas Sohn Karl traumatisiert aus dem Krieg zurück. Hildegard heiratet ihn, hält es aber nicht mehr lange auf dem Hof auf. Sie entstammt einer Adelsfamilie, das Leben als Bäuerin ist ihr zuwider. Sie verlässt ihre Tochter Vera und zieht nach Blankenese heiratet wieder und gründet eine neue Familie. Vera bleibt bei Karl, auch nachdem Ida sich auf dem Dachboden erhängt hat. Vera findet in dem Bauernhaus die Heimat, die sie nicht hatte. Sie sorgt für Karl und hilft ihm sogar beim Sterben. Sie macht ihr Abitur, studiert Zahnmedizin in Hamburg, kehrt aber auf den Hof im Alten Land zurück und gründet in dem Dorf eine Zahnarztpraxis. Mit Hinni Lührs, einem Freund aus Schultagen, bleibt sie weiterhin befreundet und hilft ihm sein Leben zu strukturieren, als dessen Frau stirbt. Eines Tages steht Anne vor der Tür des Bauernhauses und bittet Vera, sie und ihren kleinen Sohn Leon aufzunehmen. Anne ist Veras Nichte, genauer gesagt: die Tochter von Marlene, Veras Halbschwester aus Blankenese. Anne hatte eine glänzende Karriere als Musikerin vor sich, wurde jedoch von ihrem jüngeren Bruder sehr schnell überholt und fühlte sich minderwertig. Ihr Musikstudium brach sie ab, sie absolvierte eine Tischlerlehre und verdiente ihr Geld in der frühkindlichen Musikerziehung bei der „Musimaus“ in Ottensen. In den Augen ihrer Mutter hat Anne zu wenig aus sich gemacht, Erfolg haben andere. Annes Selbstbewusstsein ist angeknackst und als sie ihren Freund, den Vater von Leon, inflagranti mit einer Lektorin erwischt, hat sie endgültig die Nase voll. Sie packt ihre Sachen und flieht zu ihrer Tante Vera ins Alte Land. Dort ist das Zusammenleben mit der eigenbrötlerischen Vera zunächst schwierig, aber nach und nach finden die beiden Frauen zueinander.

Mögliche VorbereitungeN
Im Unterrichtsgespräch :

Was bedeutet Flucht? Wovor fliehen Menschen? Ist der Grund zwangsläufig eine Gefahr? Welche Konsequenzen hat Flucht für den Fliehenden? 

Speziell für den Theaterunterricht

Rollenwechsel über Kostümaccessoires

Die Gruppe trägt neutrale schwarze Kleidung (langärmelige Shirts, Leggings oder Jogginghose). Im Wechsel gehen Schüler:innen auf die Bühne und ergänzen die schwarze Kleidung durch ein Accessoire (die Spielleitung stellt vorher hinter der Bühne eine Reihe von Accessoires wie Schürzen, Helme, Gummistiefel, Highheels, Sturmhauben, Sonnenhüte, Glitzerstola o.ä. aus dem Fundus – oder von der Gruppe mitgebracht – zur Verfügung). Einzeln stellen sich die Schüler:innen mit diesem Accessoire auf die Bühne, die Gruppe beschreibt, was für eine Person sie sehen (z.B. einen Bauern/ eine Bäuerin, ein:e Kellner:in, ein:e Kämper:in o.ä.). 

Danach ist eine Reflexion möglich: Welche Vorteile bietet dieses minimale Kostüm?

Anschließend kann die Gruppe die Figuren der Szene/ dem Stück, an dem sie gerade arbeitet, über diese Art von Kostümen charakterisieren.