State of Affairs

„Die Kacke ist am Dampfen!“, lautet die eindeutige Botschaft an unsere Gesellschaft. Eine zukünftige Zivilisation hat sie direkt ins Thalia Theater geschickt, um dort die Proben zu „State of Affairs“ zu beeinflussen. Klingt verrückt? Wird hier gerade etwas vermischt? Zu Yael Ronens kurzweiliger, brillant gespielter Uraufführung von – genau! – „State of Affairs“.

Max Lutz, Chefermittler Kommunikation Zukunft (Tim Porath) erklärt dem Schauspieler André (André Szymanski), was wie zu laufen hat. – Foto: Krafft Angerer

Die Kritik

Mit oder ohne das 5. Kapitel? Der Schriftsteller Roman Kaminski (André Szymanski) sieht darin das Herzstück seines Werks und will auf keinen Fall darauf verzichten. Andererseits liegt ihm der zeitreisende Lektor (Tim Porath) in den Ohren, dieses Kapitel unbedingt zu streichen. Er ist direkt aus der Zukunft hereingeschneit und weiß, dass das 5. Kapitel für Chaos, Zerstörung, kurz: für das Ende der Zivilisation sorgen würde. „Ich hasse die Zukunft!“, flucht Kaminski. Er könne doch schließlich mit einem Buch nicht den Lauf der Geschichte verändern. Aber genau darum geht es in „State of Affairs“. Es ist das neue Stück, das Regisseurin Yael Ronen zusammen mit dem Theatermacher Roy Chen (der übrigens auch für das äußerst amüsante Programmheft mitverantwortlich zeichnet) geschrieben hat. Welche Möglichkeiten hat die Kunst? Kann sie Einfluss auf kommende Generationen nehmen und wie steht es überhaupt mit ihrer Verantwortlichkeit in Zeiten von Kriegen und Krisen? Die Fragestellung lässt einen schweren, anstrengenden Abend vermuten, doch das Gegenteil ist der Fall. Ronen und Chen, beide israelische Künstler, verhandeln diese Probleme in „State of Affairs“ intelligent, kurzweilig, hochkomisch, mit einem brillanten Ensemble und brauchen dafür nicht mehr als 90 Minuten. Vielleicht ist es nicht Ronens tiefschürfendstes Stück, aber egal. Mit der Vermischung von Theaterwirklichkeit und Science Fiction hält es das Publikum bei der Stange, sucht sogar im Zuschauerraum nach einer Person als Katalysator für die anstehende Katastrophe.

Das mit dem Cyber-Angriff stimmt natürlich nicht.

Die Bühne (Evi Bauer) umsäumt ein glitzernder Vorhang aus dünnen Fäden, der über ein Gestänge mit unterschiedlich verlaufenden Schienen fließen kann und neue Räume erschließt. Er dient zudem als Projektionsfläche für psychedelisch anmutende Muster oder Gesichter der Schauspielenden, die sich im Zeitraffer von ganz jung zu ganz alt verändern (Video: Stefano Di Buduo). Zunächst erscheinen aber erst einmal Tim Porath und André Szymanski, stellen sich mit ihren Namen als Schauspieler des Thalia Theaters vor und erklären, dass das Theater am 1. Januar diesen Jahres Opfer einer Cyber-Attacke geworden sei. Und das mitten in den Proben zu „State of Affairs“. Damit beginnt die äußerst lustige Vermischung der Ebenen, denn klar, das Stück steht ja im Spielplan, muss also geprobt werden. Aber das mit dem Cyber-Angriff stimmt natürlich nicht, es eröffnet nur den Weg auf die Science-Fiction-Ebene, von der aus das Thema Kunst und ihre Verantwortlichkeit betrachtet werden kann. Porath kommt mit Käppi, Spiegelsonnenbrille und Bluson als  Max Lutz, Chefermittler Kommunikation Zukunft, zurück und nordet das gesamte Ensemble  vor und hinter der Bühne in strammem Befehlston darauf ein, wie die Proben abzulaufen haben. Großartig, wie alle wie ein Körper auf jeden Fingerzeig, jede Bewegung von Lutz reagieren. Szymanski bietet sich Lutz nicht nur als Regisseur an, er spielt auch mit Schnauzer  in einem fürchterlich grünen Anzug (Kostüme: Amit Epstein) den nach einem einmaligen Erfolg nunmehr seit mehr als 30 Jahren unter Schreibblockaden leidenden Schriftsteller Roman Kaminski. Der hat erstmalig wieder ein Buch geschrieben, mit dem er zufrieden ist. Aber das enthält eben das vertrackte 5. Kapitel. Nicht nur seine, von Maja Beckmann als am Rand des Nervenzusammenbruchs gespielte Verlegerin Eva Berloch findet es furchtbar, auch Tim Poraths zeitreisender Lektor warnt vor einer Veröffentlichung. 

Der Glaube an die Verteidigung eines Landes ist umgeschlagen in den Protest gegen eine Politik , die für ihren Machterhalt immer mehr Menschen opfert.

Die Ebene der Proben wechselt zeitweilig auf die der Theaterrealität, auf der Befindlichkeiten und Beziehungsstress verhandelt werden. Als Regisseur Szymanski jedoch Nils Kahnwald die Rolle des Soldaten Siegfried Sasson gibt, kippt die Inszenierung kurz ins Ernsthafte. Kahnwald liest den abgewandelten Brief des tatsächlichen Sasson vor. Der hatte sich im Ersten Weltkrieg zum Waffendienst gemeldet, war dann aber durch den Tod eines Freundes dermaßen erschüttert, dass er Gedichte gegen den Krieg  und u.a. die im Juli 1917 veröffentlichte „A Solider’s Declaration“ schrieb. Kahnwalds Siegfried verliest einen Brief, in dem er von seinem anfänglichen Glauben an eine Verteidigung des Landes berichtet, der nun umgeschlagen ist in den Prostest gegen eine Politik, die für ihren Machterhalt immer mehr Menschen opfert.  Der Bezug zu Israels Kriegsführung im Gaza ist eindeutig, die Szene erhält spontanen Applaus. 

Ist die Katastrophe aufzuhalten? Kann die Kunst helfen? Der Abend lässt bewusst viele Fragen offen, verliert aber die Hoffnung nicht. Mit dem Satz „Die ganze Zukunft schaut auf dich“, wird der Ball an das Publikum, an uns zurückgespielt. Die Katastrophe müssten wir also schon selbst aufhalten. Selten war in dieser Spielzeit am Ende einer Premiere so ein anhaltender und berechtigter Jubel im Thalia Theater zu sehen.

Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/state-of-affairs-2023

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • die Verantwortlichkeit von Kunst in Zeiten von Krieg und Krisen
  • die Verquickung von Theaterwirklichkeit mit einer fiktionalen Situation
Formale SchwerpunKte
  • sichtbares Einbeziehen von allen an einer Theaterproduktion Beteiligten
  • direkte Ansprache an das Publikum
  • Video-Einspielungen
  • chorische, synchrone Formationen und Bewegungen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe

ab 15/16 Jahre, ab Klasse 10 (auch für ungeübte Theatergänger:innen!)

empfohlen für den Deutsch- und Theaterunterricht

zum Inhalt

Am 1. Januar 2024 ist das Thalia Theater Opfer eines Cyber-Angriffs geworden, wo man das Stück „State of Affairs“ proben wollte. Doch die Attacke kommt von einer zukünftigen Zivilisation, die bereits weiß, dass das Stück so, wie es geprobt wird, auf keinen Fall gezeigt werden darf, weil es künftige Generationen in Chaos und Elend stürzen wird. Sicherheitsbehörden werden eingeschaltet, Max Lutz, dem Chefermittler Kommunikation Zukunft, erklärt dem Ensemble, wie es zu proben hat. Um die Katastrophe zu verhindern, ist ein neues Stück übermittelt worden, dem allerdings einige Teile fehlen.

Das Thalia-Ensemble lässt sich notgedrungen auf die neue Situation ein, allerdings gibt es zwischen den einzelnen Mitgliedern Unstimmigkeiten darüber, wer jetzt welche Rolle übernimmt und wer das Sagen hat. Hinzu kommen persönliche Konflikte aus vergangenen Beziehungen, die die Arbeit nicht leichter machen. Die Proben zu dem Stück beginnen dennoch. Es geht um den seit drei Jahrzehnten erfolglosen Schriftsteller Roman Kaminski, der endlich einen neuen Roman fertiggestellt hat und diesen seiner Verlegerin Eva Berloch präsentiert. Die ist wegen unglücklicher Lieben permanent suizidgefährdet, die Lektüre von Kaminskis Roman habe diese Situation noch verschärft, so Berloch. Sie weigert sich den Roman zu veröffentlichen, weil er schlichtweg katastrophal ist. Unerwartete Schützenhilfe bekommt sie durch einen zeitreisenden Lektor, der bereits weiß, welchen Schaden das Buch in der Zukunft anrichten wird, wenn man dessen 5. Kapitel veröffentlicht. Ausgerechnet an dem liegt aber Kaminski am meisten. Nachdem er sich letztlich überreden lässt, es zu streichen, nimmt er mit den Worten „Geschichte! Ich komme!“ seine Zusage zurück. Das 5. Kapitel soll erscheinen, Hilfe könnte nur von einem Katalysator (aus dem Publikum) kommen. „Die gesamte Zukunft schaut auf dich!“, heißt es. Also liegt es an uns, die Katastrophe abzuwenden.

   

Mögliche VorbereitungeN
  • Recherche zur Rolle und Wirksamkeit der Kunst mit anschließend Diskussion
  • Recherche zur Arbeit von Yael Ronen 
Speziell für den Theaterunterricht
Synchrone Bewegungen im Pulk

Beim Empfangen der neuen Regeln durch Max Lutz reagiert das gesamte Ensemblegeschlossen.

Die Gruppe formiert sich zu einem (oder zwei, je nach Größe des Kurses) Pulk aus ca 12 Personen. Alle drängen sich so dicht zusammen, dass sich die Körper miteinander berühren. Auf ein Signal der Spielleitung hin schließen alle Spieler:innen die Augen und versuchen gemeinsam ein- und auszuatmen (Rhythmus finden!). 

Sobald dieser Rhythmus gefunden ist, beginnt der Pulk in einer gemeinsamen Bewegung sanft hin- und herzuschenken, bis ein völliges Gemeinschaftsgefühl hergestellt ist.

Ein:e Spieler:in stellt sich vor den Pulk als der/die Zauber:in, dessen/deren Handfläche einen Zauberspiegel mit einem begehrenswerten Inhalt birgt. Alle öffnen wieder die Augen. Der/ die Zauber:in bewegt jetzt langsam die Zauberhand in alle möglichen Richtungen, der Pulk verfolgt wie ein Körper die Hand, geht also in die Hocke, wenn die Hand unten ist, auf die Zehenspitzen, wenn sie oben ist usw.

Der/die Zauber:in kann den Pulk auch rückwärts, vorwärts, seitwärts lenken, so dass gemeinsame Schritte gefunden werden müssen.

Variation: 

Die Spielleitung gibt dem Pulk nacheinander Situationen vor. Der Pulk muss wieder versuchen, wie ein Körper zu reagieren und einen gemeinsamen Rhythmus zu finden:

  • Ihr schaut einem Tennisspiel zu.
  • Ein niedliches kleines Kätzchen läuft von rechts nach links an euch vorbei.
  • Über euch kreist ein ungewöhnliches Flugobjekt.
  • Ein Kampfhund schießt auf euch zu.

Es empfiehlt sich, den/die Zauber:in ab und zu auszutauschen. Außerdem sollten wechselnde Spieler:innen zuschauen, damit anschließend die Wirkung des Pulks sowie die Schwierigkeiten besprochen werden können.

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