ANTHROPOLIS I: Prolog/Dionysos

Rausch und Ekstase treffen auf Ordnungsdenken mit furchtbaren Folgen. Zu Karin Beiers Auftakt ihrer „Anthropolis“- Serie im Schauspielhaus.

Foto: Monika Rittershaus

Die Kritik

Irgendwann bricht es los, das Chaos. „Schlagt die Trommeln!“, brüllt ein zorniger Dionysos (Carlo Ljubek). Und noch einmal: „Schlagt die Trommeln!“. Von beiden Seiten der bis an die Brandmauer aufgerissenen Bühne werden Taiko-Trommeln hereingefahren. Ohnehin sind bereits zwei riesige im hinteren Raum platziert, eine dritte ist durch das geöffnete Tor in der Mitte hineingeschoben worden. Und dann beginnen einundzwanzig Trommler:innen auf ihre Instrumente einzuprügeln. Rhythmisch, choreografiert, mal leise werdend, dann wieder die Lautstärke anziehend, begleitet von zornigen Schreien (Musikalische Leitung: Jörg Gollasch). In ihrer Mitte steht sehr gelassen Dionysos. Er schminkt sich ein weißes Gesicht mit einem überdimensionalen roten Grinsen: der Joker.

Es ist ein rein akustisches Bild, das Karin Beier für den Kampf der Bakchen gegen das Gefolge von Pentheus gefunden hat, und gerade deshalb besonders wirksam. Jede:r im Zuschauerraum entwickelt seine eigene Vorstellung zu dem, was da für ein Gemetzel vor sich gehen mag zwischen den von Dionysos durch Rauschmittel aufgepeitschten Frauen, den sogenannten Bakchen, und dem Gefolge von Pentheus (Kristof Van Boven) dem aktuellen Herrscher über Theben, der die außer Kontrolle geratenen Frauen zurück holen will. 

Das Erzählte entwickelt eine ungeheure Kraft.

Mit „Prolog/Dionysos“ eröffnet das Schauspielhaus seine diesjährige Spielzeit. Es ist zugleich der erste Teil der insgesamt fünfteiligen Serie „Anthropolis“ mit dem Untertitel „Ungeheuer. Stadt. Theben“, allesamt von der Intendantin höchstpersönlich inszeniert und bereits während der Pandemie vorgeprobt. Im vierzehntägigen Rhythmus folgt von nun an eine Premiere auf die andere, später werden in sogenannten Marathons alle Stücke hintereinander gezeigt. Beier konnte bei ihrer Arbeit auf bereits existierende Texte (wie z.B. „Ödipus“, „Iokaste“ oder „Antigone“)  zurückgreifen, ließ diese aber von Dramatiker Roland Schimmelpfennig ergänzen oder, falls es dazu nichts gab, ganz neu schreiben. Wie den Prolog.

Vor dem eisernen Vorhang erscheint der Schauspieler Michael Wittenborn in zeitloser Alltagskleidung, begrüßt das Publikum, und schon fürchtet man, dass irgendeine Entschuldigung für einen Ausfall ausgesprochen wird. Aber nein, Wittenborn beginnt in das fröhliche Zurück-Grüßen eine Geschichte zu erzählen. Lässt vor unseren Augen einen Strand in hellem Sonnenlicht erstehen, an dem sich ein schönes junges Mädchen namens Europa in einen weißen Stier verliebt und mit ihm über das Meer flieht. Ganz still ist es plötzlich im Publikum. Das Erzählte entwickelt eine ungeheure Kraft. Der eiserne Vorhang fährt hoch und gibt den Blick frei auf einen riesigen Bühnenraum, auf dessen linker Seite ein weißer toter Stier (eine Plastik natürlich) liegt (Bühne: Johannes Schütz). Mit einem siebenköpfigen Ensemble (Mehmet Atesçi, Lina Beckmann, Carlo Ljubek, Maximilian Scheidt, Ernst Stötzner, Kristof Van Boven, Michael Wittenborn) wird erzählt, wie Kadmos, der Bruder Europas, die Stadt Kadmela, das spätere Theben, gegründet hat und das nur mit der Tötung von Drachenkriegern schaffen konnte. Das gelingt schnell und abwechslungsreich, zumal die Texte den Bezug zu heute suchen. Kadmela wird als reiche Stadt mit  Kupfer-, Kohle-, Erz-, Silber- und Gold-Vorkommen gepriesen. Das Ensemble schaufelt im Regen einen Berg an, den Reichtum der Stadt, der mit Mauern geschützt werden müsse, zumal vor der Stadt „Müll“ und „Elektroschrott“ liegen. Ein zum Foto erstarrtes Bild zeigt Kadmos mit seiner glücklichen Familie, bevor, so die Erzählung, sie ein Feuer holt und Zeus den Fötus seiner schwangeren Tochter Semele rettet, ihn sich in den Oberschenkel einpflanzt und das Kind, Dionysos, zur Welt bringt. 

„Schlagt die Trommeln!“

So weit der Prolog. Den Übergang zu „Dionysos“ gestaltet Lina Beckmann vor dem eisernen Vorhang in einer launigen Performance zum Thema Weinprobe, schont dabei das Publikum und sich selbst nicht und leitet trotz aller Lacher sinnvoll über zu dem Rausch der Frauen. Carlo Ljubeks Dionysos behauptet als Sohn des Zeus sehr cool und sehr selbstsicher Anspruch auf Thebens Thron zu haben. Den hat Kadmos aber schon seinem rational  denkenden und die Ordnungsprinzipien einhaltenden Enkel Pentheus übergeben. Kristof Van Boven spielt ihn als einen, der das Politiker-Einmaleins versteht. Übersteigert wird sein kalkuliertes Sich-Winden in akrobatische Verdrehungen mit und um Dionysos. Seine Überlegenheit demonstriert er durch das Auftreten hoch zu Ross. Auf einem Schimmel trabt er durch das hintere Bühnentor auf Dionysos zu. Zweifel an seiner Macht sollen nicht aufkommen. Aber Dionysos will den Thron. Er schickt die Frauen aus der Stadt, also aus dem geordneten Leben, ins Gebirge. Dort verabreicht er ihnen Rauschmittel jeglicher Art, so dass sie sich ganz und gar der Natur und ihren Gelüsten hingeben. Als Pentheus sie zurückholen und das Chaos beenden will, ruft Dionysos: „Schlagt die Trommeln!“, und der Untergang nimmt seinen Lauf. 

Die Konsequenzen zeigt die letzte erschütternde Szene. In blutverschmiertem Glitzerkleid trägt Kadmos‘ Tochter Agaue (Lina Beckmann) einen abgeschlagenen Kopf nach vorne. Sie war Teil der Bakchen und hatte gegen Pentheus’ und seine Leute gekämpft. Strahlend, aber völlig irre erzählt sie, dass sie einen Löwen mit bloßen Händen erlegt habe und eine Heldin sei. Bis Kadmos (Ernst Stötzner) kommt. Leise und ernst bringt er sechs graue Eimer, in denen  sich die Überreste des zerrissenen Pentheus befinden. Erst langsam kann er  Agaue klarmachen, dass sie keinen Löwen, sondern ihren eigenen Sohn zerfleischt hat. Still und wie in Trance nimmt Lina Beckmann die Eimer und ordnet sie unter dem abgeschlagenen Kopf zu einem Körper (?) an. Und ordnet wieder neu, und wieder neu. Langsam verlischt das Licht. Ein Cliffhanger zu „Laios“, der nächsten Folge.

Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/prologdionysos

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Gewalt als Mittel a) zur Gründung einer Stadt, b) zur Wiederherstellung der Ordnung
  • Konsequenzen der Gewaltausübung
  • Ekstase und Rausch als Mittel der Entgrenzung
  • Fallhöhe von Rausch zu nüchterner Erkenntnis
Formale Schwerpunkte
  • Hinführung in Situation durch erzählten Text
  • Verteilung des Erzählpassagen auf verschiedene Figuren
  • Einfügen von Kommentaren durch einzelne Figuren
  • Einsatz von Trommeln für die Darstellung des Krieges
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre; ab Klasse 10
  • für Ethik-, Geschichts-, Deutsch- und Theaterunterricht 
Zum Inhalt
Prolog

Aus einer Gruppe von Mädchen am Strand von Griechenland sticht eine durch ihre besondere Schönheit hervor. Ihr Name ist Europa. In einer Rinderherde sieht sie einen weißen Stier, verliebt sich in ihn, schmückt ihn, steigt auf seinen Rücken und verschwindet mit ihm. Ihr Vater schickt seine drei Söhne aus, um sie zu suchen. Einer von ihnen, Kadmos, fragt das Orakel, was er tun soll. Das Orakel rät ihm, eine Kuh vor sich herzutreiben, bis sie umfällt, und an der Stelle eine Stadt zu gründen. Kadmos befolgt den Rat. Tatsächlich fällt die Kuh bei einer Quelle um, die von einem Drachen bewacht wird. Kadmos erschlägt den Drachen, bricht ihm die Zähne aus und sät sie in die Erde. Aus der Saat erwachsen Drachenkrieger, die sich gegenseitig niedermetzeln. Nur fünf von ihnen überleben. Mit ihnen gründet Kadmos Kadmela, das spätere Theben.

Dionysos

Kadmos’ Tochter Semele ist schwanger und kommt in einem Feuer um. Der Göttervater Zeus rettet den Fötus, pflanzt ihn sich in seinen Oberschenkel und bringt ihn schließlich zur Welt. Das ist die Geburt des Dionysos, der von nun an behauptet, ein Halbgott zu sein. Allerdings glaubt ihm in Theben keiner die Geschichte. Problematisch ist, dass Kadmos, der Gründer der Stadt, seinen Enkel Pentheus als Erben eingesetzt hat, Dionysos aber ebenfalls den Thron für sich beansprucht. Pentheus, der dem herrschenden Ordnungssystem folgt, weigert sich, Dionysos den Thron zu überlassen, zumal er dessen Geschichte mit dem Göttervater Zeus nicht glaubt.  Als Reaktion darauf schickt Dionysos alle Frauen ins Gebirge, gibt ihnen dort jede Menge Alkohol und andere Rauschmittel und zettelt dadurch ein totales Chaos an. Pentheus will die Ordnung wiederherstellen und begibt sich mit seinen Leuten ins Gebirge, um die Frauen im Namen des Gesetzes wieder zurückzuholen. Die Frauen, die sogenannten Bakchen, entdecken Pentheus und sein Gefolge und es kommt zu einem grausamen Gemetzel. Im Rausch töten die Frauen wie wilde Tiere. Erst als sie wieder nüchtern sind und der Verstand wieder funktioniert, erkennen sie, was sie angerichtet haben. 

 

Mögliche VorbereitungeN

In Gruppenarbeit oder über Referate recherchieren zu folgenden Fragen:

  • Dionysos – Was bedeutet er innerhalb der griechischen Mythologie? 
  • Was versteht man unter der Dionysischen Weltanschauung?

Im Unterrichtsgespräch:

Das Dionysische in unserer Gesellschaft – worin zeigt sich das? Wie wird damit umgegangen? 

Speziell für den Theaterunterricht:
90 – 60 – 30
  • Die Spielleitung teilt 5er oder 6er Gruppen ein. Jede Gruppe erhält einen Zettel mit der Inhaltsangabe zu „Prolog/Dionysos“ (s. zum Inhalt).  In Jeder Gruppe stellt sich ein:e Spieler:in die Mitte, ein anderer liest die Inhaltsangabe vor. Die Spielerin/der Spieler aus der Mitte muss im ersten Durchgang in 90 Sekunden den Inhalt wiedergeben. Dann geht jemand anderes in die Mitte, wieder wird der Inhalt vorgelesen und danach in 60 Sekunden wiedergegeben, dann geht wieder jemand anderes in der Mitte, der den Inhalt vorgelesen bekommt und in 30 Sekunden das Wesentliche wiedergibt. 
  • Aus dieser letzten Wiedergabe erstellt die Gruppe eine chronologische Reihe von 5 -6 Standbildern, an denen alle Mitglieder beteiligt sind. 
  • Die Standbilder sollen dann in einem zweiten Durchgang durch fließende Bewegungen miteinander verbunden werden (als wenn jemand auf „Play“ drückt).
  • Präsentation der Gruppenergebnisse, Feedback und Besprechung