Meine geniale Freundin

Brutalität, Unterdrückung, eine schwierige, aber unzertrennliche Freundschaft, Ausbruchsversuche – das sind nur einige Themen in „Meine geniale Freundin“ von Elena Ferrante. Die sind so spannend, dass ihre vierbändige Neapolitanischen Saga weltweit reißenden Absatz findet, schon als Fernsehserie produziert und für die Bühne adaptiert wurde. Selten allerdings so, wie jetzt im Altonaer Theater in Kooperation mit der Theaterei Herrlingen zu sehen. Dort erzählt ein furioses Ensemble aus nur drei Personen die Kinder- und Jugendjahre der beiden Freundinnen Lenu und Lila.

Raue Sitten im Rione. (v. li: Britta Scheerer, Nadine Ehrenreich, Frank Ehrhardt) – Foto: Ralf Hinz

Die Kritik

Frühling 1966. Lenu (Britta Scheerer) mit Trenchcoat und eleganter Sonnenbrille (Kostüme: Barbara Fumian) ist für einen kurzen Besuch ins Rione zurückgekehrt. In diesem ärmlichen Viertel Neapels ist sie groß geworden, hier ist ihre Freundschaft mit Lila entstanden. Lenu studiert jetzt an der Universität und schreibt Bücher, Lila dagegen ist im Rione geblieben, obwohl sie schnell lernte, mindestens so begabt wie Lenu war und schon als Kind einen Roman geschrieben hatte. Jetzt steht Lenu hier im Rione mit einer Schachtel voller Hefte, die ihr Lila anvertraut hat, und muss lesen, wie Lila die gemeinsame Zeit empfunden hat. Kurzerhand wirft Lenu die Schachtel fort und beschließt, ihrerseits von der gemeinsamen Kindheit und Jugend zu erzählen.

Mit breitbeinigem, hüftkrankem Schlurfgang stellt sie Lenus Mutter dar.

Damit beginnt der zweite Band von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga, und es ist klug von Regisseurin Edith Ehrenreich den Abend mit dieser Szene beginnen zu lassen. Alles, was in den beiden voluminösen Bänden I und II geschieht, kann aus der Rückschau betrachtet und gefiltert werden. Ehrhardt, auch verantwortlich für die Bühnenfassung, reduziert Ferrantes umfangreiche Personal auf diejenigen, die für ihre Schwerpunktsetzung (Konkurrenzdenken, Misstrauen, Armut und Geschlecht als Barrieren zu Bildung, die Verlockung des Geldes) wichtig sind. Damit vermeidet sie Unübersichtlichkeiten – schon den Romanen ist jeweils ein genaues Verzeichnis vorangestellt, das die Personen Familien zuordnet – und bleibt in der Erzählweise klar.

Das Bühnenbild (Barbara Fumian) auf der rechten Seite mit seinem qualmendem Vesuv vor blauem Himmel schrammt hart am Kitsch vorbei, definiert aber immerhin den Ort des Geschehens. Die linke Seite mit einer Leine, auf der bunte Wäsche zwischen zwei Fensterläden aufgehängt ist, erweist sich als funktional,  denn hier können mit wenigen Griffen Kostüme verändert werden. 

Die braucht es auch in dieser spannenden und bei gut drei Stunden (Inklusive Pause) keineswegs langweiligen Inszenierung. Ehrhardt beschränkt sich auf nur drei Schauspieler:innen. Britta Scheerer als Lenu und Nadine Ehrenreich als Lila spielen die beiden Freundinnen mit weitem Schulkittel von den Kindertagen an bis – nach der Pause – in die Jugendzeit. Ehrenreich muss jedoch nur einen Kittel von der Leine nehmen, ihren seitlichen wirren Zopf nach hinten drehen, die Augen zu tumbem Staunen verdrehen, um mit breitbeinigen, hüftkrankem Schlurfgang Lenus Mutter darzustellen. Scheerer wiederum ist mit gesenktem Kopf und demütiger Stimme die Mutter von Lila. Furios in seinem permanten Rollenwechsel ist Frank Ehrhardt. Körperhaltung, Sprechweise, Gebaren – all das macht ihn im Handumdrehen zu dem von Lenu angebeteten Nino, zur Lehrerin Maestra Oliviero oder dem gefürchteten Don Achille. Dialoge gibt es in der Vorlage wenige. Szenen entstehen, indem die Figuren den ihnen zugeordneten Erzähltext sprechen und spielerisch umsetzen.

Die Verquickung von Gut und Böse macht ihr Angst.

Nach einem etwas hölzernen Start (Scheerer bemüht einen zu aufgesetzten Ton als zurückkehrende Lenu) spielt sich das Ensemble schnell ein und zeigt die Auswirkungen der Situation im Rione auf die beiden Freundinnen: Für Mädchen ist Bildung nicht vorgesehen, schon gar nicht, wenn man wie die Eltern beider Kinder, arm ist. Brutalität ist an der Tagesordnung, ebenso Misstrauen gegenüber allem, was fremd erscheint. Zwischen Lila und Lenu herrscht ein ständiger, meist unterschwelliger Konkurrenzkampf. Sie wollen Bücher schreiben und reich werden, dann hätten sie eine Möglichkeit dem Rione zu entfliehen. Die Verquickung von Gut und Böse mache ihr Angst, gesteht Lila mit einer gewissen Hellsichtigkeit. Sie wird den Sprung aus dem Viertel nicht schaffen, obwohl sie den gut situierten, aber brutalen Stefano heiratet. Lenu, die ihre Freundin wegen ihres Muts, ihrer Intelligenz und Kreativität immer bewundert und beneidet hat, macht ihren Weg als Intellektuelle und wirft – die Anfangsszene wiederholt sich – Lilas Hefte fort.

Damit endet dieser sehenswerte Abend. „Hoffentlich bringen sie  auch Band III und IV auf die Bühne“, entfährt es einer Zuschauerin an der Garderobe. Wenn das kein Kompliment ist.

Weitere Informationen unter:https://www.altonaer-theater.de/programm/meine-geniale-freundin/

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Armut als Hemmschuh für Bildung und Aufstieg
  • Feste Rollenbilder 
  • Gewalt und Brutalität als Mittel der Auseinandersetzung
  • Sehnsucht nach Ausbruch aus engen Grenzen
Formale SchwerpunKte
  • Erzähltext verteilt auf drei Schauspieler:innen
  • Szenische Gestaltung des jeweiligen Erzähltextes 
  • Rollenwechsel über Kostümteile, Haltung, Geste, Mimik, Sprache
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • Ab 15/16 Jahre, ab Klasse 10/11
  • Empfohlen für Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Die Erzählerin Lenu wächst in den 50er Jahren im Rione, einem ärmlichen Viertel von Neapel, auf. Dort freundet sie sich mit Lila, der etwas gleichaltrigen Tochter des Schusters, an. Beide Mädchen haben Freude am Lesen und träumen davon, irgendwann als Schriftstellerinnen berühmt und wohlhabend zu werden, um den Rione verlassen zu können. Lila, die über eine schnelle Auffassungsgabe verfügt, hat keine Probleme, den Stoff der Grundschule zu lernen, während Lenu härter arbeiten muss, dafür aber als Klassenbeste abschneidet. Lenu bekommt im Gegensatz zu Lila die Gelegenheit, die weiterführende Schule zu besuchen, was Lila jedoch nicht davon abhält trotzdem in diese Schule zu gehen. Lila hat zusammen mit ihrem Bruder Schuhe entworfen und will damit eine eigene Produktionsfirma gründen. Doch daraus wird nichts, da Stefano, der Sohn des Paten aus dem Rione ist, die Schaue gekauft hat und mit den Solaras – einer Art Mafia- selbst die Firma gründet. Lila, die Stefano heiratet, erkennt zu spät, dass ihr Mann sich an die Mafia verkauft hat. Die Wege der beiden Freundinnen trennen sich: Währen Lila im Rione bleibt, schafft es Lenu aufs Gymnasium und macht Karriere als Intellektuelle. Ein gemeinsamer Aufenthalt auf Ischia führt dazu, dass Lila sich mit Nino, für den Lenu seit Kindertagen schwärmt, einlässt, mit ihm durchbrennt, nach wenigen Wochen aber schon wieder von Nino verlassen wird. Die Freundschaft zwischen den beiden Mädchen wird hart strapaziert, bleibt aber trotz allem bestehen. Lila vertraut Lenu eine Schachtel mit Heften an, in denen sie ihre Kindheits- und Jugenderlebnisse aufgeschrieben hat. 

Mögliche Vorbereitungen

Recherche zum Inhalt von Elena Ferrante „Meine geniale Freundin“ (Bd I und II)

Recherche zur Rezeption

Recherche zur Situation in Neapel der 1950er Jahre (Soziale Verteilung, Geschlechterrollen und die entsprechenden Erwartungen, Rolle von Bildung, Bildung mafiöser Strukturen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft)

Speziell für den Theaterunterricht
Darstellung von Figuren durch Körperhaltung, Mimik und Gesten

Die Gruppe läuft durch den Raum, die Spielleitung nennt verschiedene Typen, die die Spieler:innen durch Körperhaltung, Mimik, Gesten darstellen sollen: ein sechsjähriges Mädchen, eine alte Lehrerin, einen dicken Unternehmer, einen jungen Angeber, einen einfachen, wenig gebildeten Mann, einen jungen Intellektuellen, eine ehrgeizige Studentin.

Die jeweiligen Typen können danach auf einzelne Karten geschrieben und ausgelegt werden. Die Spieler:innen suchen sich eine Figur aus, proben eine Haltung, evtl. mit einem zusätzlichen Kostümteil.

Anschließend wird folgendes Szenario vorgestellt:

Es gibt ein großes Fest auf dem Markt, bei dem sich die Figuren treffen und aufeinander reagieren. Einen Text und eine Sprechweise kann sich jede:r dazu ausdenken. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert