Alles wieder da: die Demütigungen, die Ausbeutung, der Betrug, der Mord. Woyzeck sitzt in der Todeszelle, räumlich und psychisch gefangen. In Björn Kruses Inszenierung von Büchners Fragment ist er der einsamste Mensch der Welt. Das Theater Das Zimmer hat „Woyzeck“ mit einem überragenden Jascha Schütz für ein paar Vorstellungen (bis zum 13. April) wieder aufgenommen.

Die Kritik
Der vergitterte Raum ist eng und erinnert an einen Tierkäfig. Eine schäbige weiße Kachelwand grenzt ihn nach hinten ab, im Inneren ein Hocker, eine Vase mit einer Rose,, eine Kerze, die Bibel, ein Teddybär (Bühne: Björn Kruse, Lars Ceglecki). Unbeweglich sitzt der Schauspieler Jascha Schütz in weißer Häftlingskleidung auf dem Hocker mit dem Rücken zum Publikum. Erst als alle in dem kleinen Theater Platz genommen haben, wird es dunkel. Dann beleuchtet ein kalt-blauer Scheinwerfer die erste Szene. Woyzeck mit auf dem Rücken gefesselten Händen über den Hocker gelegt wie auf einem Schafott rattert seine Daten herunter: „Friedrich Johann Woyzeck, Wehrmann, Füsilier im 2. Regiment. 2. Bataillon, 4. Kompanie, geboren Mariä Verkündigung, den 20. Juli – ich bin heut alt 30 Jahr, 7 Monat und 12 Tage.“ Am Ende des knapp 60miütigen Abends wird sich diese Szene wiederholen. Was dazwischen geschieht, passiert in Woyzeck Kopf. Kurz vor seinem Tod läuft das Erlebte noch einmal im Schnelldurchgang ab.
Im Februar 2022 hatte Regisseur Björn Kruse Büchners „Woyzeck“ als Solo mit dem jungen Schauspieler Jascha Schütz im Theater Das Zimmer inszeniert. Schütz wurde für seine beeindruckende intensive Darstellung zu Recht mit dem Theaterpreis Hamburg Rolf Mares ausgezeichnet. Glückliche Umstände wollten es, dass diese durchdachte und gleichzeitig aufwühlende Inszenierung noch einmal auf dem Spielplan des Theaters Das Zimmer gelandet und noch bis zum 13. April zu sehen ist.
Kruses Inszenierung widmet sich den letzten Momenten vor der Hinrichtung.
Georg Büchner hatte „Woyzeck“ nach einem authentischen Fall verfasst, der authentische Woyzeck wurde 1824 zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet. Büchner konnte das Stück aber vor seinem Tod 1837 nicht mehr zu Ende bringen. Es blieb bei einer Sammlung von Szenen mit einer nur sehr groben Chronologie. Keine Szene greift notwendigerweise in eine andere, Umstellungen sind je nach Deutung einer Inszenierung möglich, ohne dem Text Gewalt anzutun. Kruses Setzung, in den Kopf der Hauptfigur zu blicken, ist nicht neu. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Regisseur Michael Thalheimer 2003 am Thalia Theater, allerdings mit einem völlig anderen Schwerpunkt. Sein Woyzeck verfolgte Amok-Fantasien und tötete bestialisch all diejenigen, die ihm Leid zugefügt hatten. Kruse widmet sich dessen letzten Momenten vor der Hinrichtung, in denen wie in einem Film noch einmal das Erlebte abläuft und Woyzeck an den Rand des Wahnsinns treibt. Konsequent berücksichtigt er dabei nur Szenen, in denen Woyzeck auch anwesend war: bei der Rasur des Hauptmanns, den Experimenten des Doktors, den Begegnungen mit seiner Freundin Marie und dem gemeinsamen Kind, für die er all die Demütigungen auf sich nimmt und schuftet, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Schütz schrubbt wie besessen den Boden, wenn er die Szene mit dem Hauptmann erinnert, spricht für dessen Part mit verhöhnender Stimme. Hauptmann und Doktor nutzen ihn aus, verlachen ihn. Woyzeck kann sich nicht wehren, ist ausgeliefert. Wie auch, wenn er nur in Unterhose und mit einem Kranz von Elektroden am Kopf (fast erinnert er an Jesus mit der Dornenkrone) dem Doktor und dessen Studenten ausgeliefert ist.
Wer irgendwie kann, sollte sich diesen großartigen Abend dringend ansehen.
Ein großes Plus dieser Inszenierung ist ihr Rhythmus. Zornesausbrüche und nervöses Herumgetigere in der Zelle wechseln mit zärtlichen Momenten, wenn Woyzeck mit dem Teddy als Ersatz seinen Sohn in den Arm nimmt, oder mit verständnisloser Enttäuschung, wenn er Marie (er spricht zu der Rose) zu ihrer Affäre mit dem Tambourmajor befragt. Am Ende wird er sie in heller Verzweiflung erstechen, aber eine Befreiung ist das nicht. Zusammengekauert in einer Ecke erzählt er fast tonlos das Märchen von dem Kind, das weder Vater noch Mutter und auch sonst niemanden hat. Selbst der Himmel kann nicht helfen und auch die Erde ist unbewohnbar geworden. „…und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.“ In diesem Moment gibt es keinen einsameren Menschen auf der Welt als diesen Woyzeck. Ein großartiger Abend. Wer irgendwie kann, sollte ihn sich dringend ansehen.
Weitere Informationen unter: www.theater-das-zimmer.de
Ein Interview mit den beiden Gründer:innen des Theaters Das Zimmer Lars Ceglecki und Sandra Kiefer findet sich unter: https//:theaterzeithamburg.de/theater-das-zimmer-/mit-mut-und-leidenschaft
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
Psychogramm Woyzecks: der Täter als Opfer einer egoistischen, kalten Gesellschaft
Formale SchwerpunKte
Szenen als Solo:
- Wiedergabe von Dialogen in verschiedenen Stimmlagen
- Gegenstände als (Dialog-)Partner
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- Ab 16/17 Jahre, ab Klasse 11
- Empfohlen für den Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Der Soldat Woyzeck verdient sich mit niederen Tätigkeiten (Rasieren des Hauptmanns) und als medizinisches Versuchssubjekt etwas dazu, um den Lebensunterhalt für seine Freundin Marie und den gemeinsamen Sohn zu finanzieren. Das hat zur Folge, dass er nur arbeitet und kaum noch Zeit für die Familie hat. Trotzdem leben die Drei am Existenzminimum. Als der höher gestellte Tambourmajor Marie mit Schmuck verführt und sie Woyzeck betrügt, scheint diesem vollends der Boden unter den Füßen weggezogen zu sein. Woyzeck, der schon seit langem Stimmen zu hören glaubt, glaubt sich von diesem zum Mord an Marie aufgerufen zu fühlen. Er nimmt sie mit an en Teich und ersticht sie. Der tatsächliche Woyzeck, auf dessen Geschichte Büchners Fragment beruht, wurde zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet. Diesen Aspekt lässt Büchners Text allerdings offen.
Mögliche Vorbereitungen
- Lektüre von Georg Büchner: Woyzeck
- Recherche zu den Hintergründen
- Recherche zu Büchners Vita
Speziell für den Theaterunterricht
Die Mitglieder der Gruppe suchen sich jeweils einen Platz 8maximal 1 x 1 Meter). Die Spielleitung gibt verschiedene Emotionen vor, die die Gruppe innerhalb des begrenzten Raumes umsetzten muss. Sinnvoll ist es, immer zwei bis drei Zuschauer:innen herauszunehmen, die dann durch andere ersetzt werden. Auch die Zuschauer:innen können Emotionen vorschlagen. Wechsel nach drei Vorschlägen.
Besprechung: Welche Wirkung hat der begrenzte Raum auf die Darstellung?