Emilia Galotti

„Ich bin nicht mehr eure Emilia!“ Bitte? Wir dachten doch, Lessings „Emilia Galotti“ bis zum Abwinken zu kennen, aus der Schule, aus unzähligen Theaterbesuchen. Anne Lenk gelingt dennoch mit ihrer Inszenierung am Thalia Theater ein überraschend frischer Blick auf das Drama.

Eine kurze Begegnung und schon wird Emilia (Maja Schöne) für den Prinzen von Guastalla (Jirka Zett) zum Objekt der Begierde -Foto: Krafft Angerer

Die Kritik

Emilia ist schön. Bei einem Besuch in der Kirche verliebt sich der Prinz von Guastalla Hals über Kopf in sie. Aber was heißt schon „verliebt“? Er begehrt sie, will sie unbedingt haben als weitere Trophäe in seiner Sammlung. Ihm ist es egal, dass sie als Bürgerstochter in einer anderen Liga als er spielt. Ihm ist es auch egal, dass sie den Grafen Appiani heiraten soll. Er ist schließlich der Prinz, er kann es sich erlauben, bereits Verabredetes ungeschehen zu machen und Gesetze zu brechen, nur um seine eigenen Gelüste zu befriedigen. Emilia ist auch die Tochter von Claudia und Odoardo Galotti. Beide wollen nur das Beste für sie und eine Ehe mit dem Grafen scheint da gerade richtig.

Zunächst ist Emilia keine wirkliche Person.

Es sind eigentlich nur Forderungen, die an Emilia (Maja Schöne) gestellt werden. Sie selbst wird in Anne Lenks prägnanter, nur 95 Minuten dauernden Inszenierung als Person zunächst gar nicht wahrgenommen. In kurzen schnipselartigen Szenen, die von Musik (Camill Jammal) unterlegten Blacks getrennt werden, erzählt sie die Erstarkung einer jungen Frau inmitten einer männerdominierten Gesellschaft. Zunächst aber ist sie keine wirkliche Person. Emilias Bild erscheint als übergroße Video-Projektion (Video: Jonas Link) und genau das ist sie ja für den Prinzen (Jirka Zett): eine Projektion für seine Begierde. Der Mensch dahinter interessiert ihn nicht, kann ihn gar nicht interessieren, denn er hat sie ja nur einmal gesehen. Auch als Emilia tatsächlich auftritt und von ihrer Mutter zum Zusammentreffen mit dem Prinzen befragt wird, keucht und stammelt sie eigentlich nur und findet keine richtigen Antworten. Ein armes Ding, möchte man meinen, das auch noch zu der an diesem Tag stattfindenden Hochzeit mit dem devoten, langweiligen Appiani (Merlin Sandmeyer, sehr lustig auch in der Rolle des übereifrigen Malers Conti) gedrängt wird. Aber das ändert sich in dem Moment, als sie das Hochzeitskleid anziehen soll. Die Eltern sind verschwunden, sie bleibt einfach stehen und zieht auch noch den Verlobungsring vom Finger. Ein erster selbstbestimmter Befreiungsschlag.

Emilia (Maja Schöne) im Gespräch mit ihrem Vater Odoardo (Bernd Grawert) – Foto: Krafft Angerer

Wie eng das moralisch-gesellschaftliche Korsett ist, greift auch das Bühnenbild (Judith Oswald) auf: In einem beleuchteten Rahmen finden sich dicht an die Rampe gezogene verschiebbare Elemente mit der Struktur von Mauern. Die Kostüme (Sibylle Wallum) unterscheiden in der Farbgebung Adel (goldgelb) vom Bürgertum (fliederfarben), wandeln sich aber von historischen Kleidern zu modernen und heben damit die Historisierung des Themas auf.

„Wie kann ein Mann ein Ding lieben, das ihm zum Trotze auch noch denkt?“

Jirka Zetts Prinz ist ein selbstgefälliger Typ, der sehr genau weiß, dass ihm niemand etwas anhaben kann. Er kann super sympathisch wirken, wenn er über seine Liebe zu Emilia spricht. Und trotzdem ahnt man, dass dahinter nichts als Kalkül steckt. Eiskalt überlegt er, wie er ihre Hochzeit verhindern kann. Seine Entführungspläne, die auch einen Mord in Kauf nehmen, schiebt er wie selbstverständlich seinem Kammerherren Marinelli (Cathérine Seifert) zu, streicht sich über die lange Blondmähne und gibt den Unschuldsengel (aber dazu neigen ja Machtmenschen, wie derzeit u.a. aus den USA zu hören ist). Cathérine Seiferts Marinelli wirkt mit Fatsuit und spärlichem Haarwuchs unter der monströsen Perücke eher prollig und dumpf, gerade wenn er sich am Anfang mit gesenktem Kopf minutenlang das Gestöhne des Prinzen über die Arbeit anhören muss. Dabei ist er ein aalglatter Spin-Doctor, der die Fäden für sämtliche Intrigen spinnt und stumpf die Drecksarbeit für den Prinzen erledigt. Er weiß genau, wann er auftrumpfen kann und wann er sich devot geben muss. Zum Beispiel beim Auftritt der Gräfin Orsina. Lenk hat die verschmähte Geliebte des Prinzen ebenfalls mit Maja Schöne besetzt und damit die Festlegung der Frauenrolle aufgebrochen. Mit einem fordernden „Hallo!“ macht sich Orsina im Schloss bemerkbar, immer noch in der Annahme, dass sich der Prinz auf ihren Brief hin dorthin begeben hat. Als ihr klar wird, dass er den Brief gar nicht gelesen hat (für ihn ist eine Frau wie diese Orsina ohnehin mindestens zwei Nummern zu groß), ahnt sie, dass er sie betrügt, schließlich hört sie ja das „Gegrunze“ hinter der verschlossenen Tür. Demütigen lässt sie sich nicht. „Wie kann ein Mann ein Ding lieben, das ihm zum Trotz auch noch denkt“, resümiert sie lakonisch und rauscht davon.

„Wer soll ich sein? Wie soll ich sein? Was wollt ihr von mir?“

Stark ist auch Emilias Mutter Claudia (Sandra Flubacher): Sie lebt getrennt von ihrem Mann Odoardo (Bernd Grawert), sie hört ihrer Tochter zu, wenngleich sie es noch nicht wagt, festgefügte Grenzen zu überschreiten und Emilia die Hochzeit mit Appiani zu ersparen. Grawerts Odoardo ist ein Patriarch. Nüchtern erkennt er das Spiel des Prinzen, aber fast mehr als dessen Verbrechen erschüttert ihn, dass seine Tochter sich zu ihrer eigenen Sinnlichkeit bekennt und damit zu einer eigenständigen Person wird. Lenk inszeniert den Dialog mit dem Vater zunächst nach der Vorlage. Emilia erkennt ihr eigenes Verlangen und bittet den Vater um seinen Dolch, damit sie sich umbringen kann. Schwarzweiß werden die beiden Figuren zusätzlich übergroß auf die Mauer projiziert. Doch dann spulen Szene und Video zurück und Emilia führt das gleiche Gespräch noch einmal mit ihrer Mutter, diesmal redet sie sich in Rage. „Wer soll ich sein? Wie soll ich sein? Was willst du von mir?“, fragt sie zornig. Es folgt ein kurzes Black und mit dem Oberteil des Emilia-Kostüms und den Hosen der Orsina steht sie da: „Ich bin nicht mehr eure Emilia!“, sagt sie und lacht. Sie hat sich selbst gefunden.

Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/emilia-galotti-2023

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Erstarkung der Frau innerhalb einer männerdominierten Gesellschaft
  • Machtmenschen, die sich über dem Gesetz wähnen
Formale SchwerpunKte
  • Trennung der einzelnen, teilweise nur Sekunden andauernden Szenen durch Blacks
  • Verschiebbare, unterschiedlich beleuchtete Elemente zur Raumdarstellung
  • Video-Projektionen von Gesichtern
  • Einflechten von Alltagssprache in den Originaltext bzw inhaltliche Wiedergabe von originalen Passagen in Alltagssprache
  • Charakterisierung der gesellschaftlichen Schichten durch die Farbgebung der Kostüme
  • Annäherung der Thematik an die gesellschaftliche Gegenwart durch Modernisierung der Kostüme im Laufe der Inszenierung
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe

ab 16 Jahre, ab Klasse 11

empfohlen den Deutsch- und Theaterunterricht

Zum Inhalt

Der Prinz von Guastalla hat bei einem Besuch in der Kirche zufällig die Bürgerstochter Emilia Galotti gesehen und will sie sofort haben. Er behauptet zwar, verliebt zu sein, aber im Grunde ist sie nur ein weiteres Objekt seiner Begierde und vor allem besonders schwierig zu bekommen, was einen zusätzlichen Reiz für ihn ausmacht. Denn Emilia soll noch an dem Tag, an dem der Prinz von seiner Verliebtheit spricht, dem Willen ihrer Eltern nach mit dem Grafen Appiani verheiratet werden. Ob sie das tatsächlich will und wie sie selbst die Begegnung mit dem Prinzen empfunden hat, danach fragt keiner. Immerhin gehorcht sie ihren Eltern nicht, als diese von ihr verlangen, sich für die Hochzeit umzuziehen, und außerdem zieht sie klammheimlich ihren Verlobungsring vom Finger. In der Zwischenzeit plant der Prinz zusammen mit seinem Kammerherren Marinelli, wie er Emilia bekommen kann. Dafür ist ihm jedes Mittel recht. Er lässt die Kutsche, die Appiani und Emilia zur Hochzeit bringen soll, überfallen und Emilia auf sein Schloss Dosalo entführen. Dass dabei der Graf ums Leben kommt, verbucht er als Kollateralschaden, wie er überhaupt offiziell mit dem Überfall und der Entführung nichts zu tun haben will und alles Marinelli in die Schuhe schiebt. Auf dem Schloss erscheint unvermutet die Geliebte des Prinzen, Gräfin Orsina, eine kluge, scharfsichtige Frau, die sehr schnell merkt, dass der Prinz sie betrügt. Mit wem, ahnt sie erst, als auch Emilias Eltern Odoardo und Claudia Galotti auf dem Schloss erscheinen. Orsina lässt sich nicht demütigen und verlässt den Ort erhobenen Hauptes. Odoardo bittet Emilia zum Gespräch und ist vollkommen entsetzt darüber, dass diese von einer eigenen Sinnlichkeit spricht. Dennoch sieht die Tochter zunächst ein, dass so etwas nicht möglich ist und bittet den Vater um seinen Dolch, um sich damit zu töten. Anders als in Lessings Original wird in Lenks Inszenierung ein anderer Schluss als Alternative aufgezeigt: Emilia führt dasselbe Gespräch noch einmal mit ihrer Mutter und beendet es als selbstbewusste Frau mit den Worten. „Ich bin nicht mehr eure Emilia.“

   

Mögliche Vorbereitungen
  • Lektüre von G.E. Lessing: Emilia Galotti
  • Recherche zum bürgerlichen Trauerspiel und seiner Bedeutung
  • Recherche zum Männer- und Frauenbild im 18. Jahrhundert
Im Unterrichtsgespräch

Vergleich der Männer- und Frauenbilder des 18. Jahrhunderts mit denen im 21. Jahrhundert: Was hat sich geändert? Inwieweit wirken überkommene Traditionen heute noch nach?

Speziell für den Theaterunterricht
Welche Bedeutung hat das Kostüm?
  • Jedes noch so kleine Detail wird auf der Bühne gesehen. Nichts darf dem Zufall überlassen werden, alles ist Zeichen und Ausdruck. Beispiele: Markenlogos, Streifen an der Hose, rote Nägel, Ohrringe; Flecken oder Falten auf Hemd oder Hose – oder deren Fehlen; Hemd aufgeknöpft, zugeknöpft, Ärmel hochgekrempelt, Hemd offen, mit T-Shirt drunter, ohne T-Shirt.
  • Ein Kostüm unterstützt/charakterisiert eine Figur auf der Bühne oder bricht sie.
  • Ein Kostüm wirkt sich auf die Bewegung einer Figur aus. Dabei spielt das Material eine wichtige Rolle. In harten, festen Stoffen bewegt man sich anders als in weichen, in Stöckelschuhen geht man anders als in Gummistiefeln.
Aufgabe (als individuelle Hausaufgabe oder in Gruppenarbeit):
  • Für eine Inszenierung von „Emilia Galotti“, die in der Gegenwart spielt, sollt ihr die Kostüme entwerfen.
  • Informiert euch zuerst noch einmal genau über die Charaktere der nachfolgenden Figuren und entwerft dann für sie ein Kostüm: Prinz von Guastalla, Marinelli, Emilia Galotti, Gräfin Orsina.
  • Berücksichtigt dabei Farbe und Material des Kostüms und begründet bei der Präsentation eure Wahl.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert