Serge

Der Tod kann einem schon Angst machen. Aber muss man sich damit überhaupt beschäftigen? Serge, die Hauptfigur in Georg Münzels Bühnenfassung von Yasmina Rezas gleichnamigen Roman, hat da seine eigene Strategie. Zu Münzels konzentrierten Inszenierung am Altonaer Theater.

Es läuft nicht immer alles so glatt in der Familie (v. li: Ulrich Bähnk, Chantal Hallfeldt, Dirk Hoener, Anne Schieber) – Foto: G2Baraniak

Die Kritik

Manchmal werden die Stücke von Yasmina Reza einfach in die Schublade „Boulevardtheater“ gesteckt. Vielleicht weil sie im großbürgerlichen Pariser Milieu angesiedelt sind und dort die elegante Konversation regiert. Reza kennt dieses Umfeld nur zu gut. 1959 geboren in eine jüdisch-iranische Familie, hat sie die französische Hauptstadt nie wirklich verlassen. Nach ihrem Schauspielstudium begann sie vornehmlich Theaterstücke zu schreiben, von denen „Kunst“ und „Der Gott des Gemetzels“ zu ihren berühmtesten gehören, letzteres nicht zuletzt durch die Verfilmung von Roman Polanski mit Jodie Foster, Kate Winslet und Christoph Waltz. Über Rezas als Komödien apostrophierte Stücke lässt sich lachen. Alles kommt so leicht daher und tut doch auch gar nicht weh. Trotzdem macht man es sich mit dem Etikett „Boulevard“ nicht nur zu einfach, es ist auch falsch. Denn unter der scheinbar glatten Oberfläche liegen eine Reihe von Schichten, die mit scharfem Blick ernste, existenzielle Probleme verhandeln. „Serge“ ist so ein Stück. 2021 als Roman erschienen, hat Georg Münzel daraus für das Altonaer Theater eine auf zwei Stunden (inklusive Pause) konzentrierte Bühnenfassung erstellt und mit einem vierköpfigen, die einzelnen Charaktere differenziert darstellenden Ensemble inszeniert.

„NTV – das waren die letzten Worte ihres Lebens.“

Im Zentrum steht Serge (Ulrich Bähnk). Er ist der Älteste von drei Geschwistern, allesamt – und hier zeigt sich Rezas Referenz auf die eigene Biografie – Mitglieder einer jüdischen Familie. Er ist nach dem Tod seiner Mutter mit Schwester Nana (Anne Schieber), Bruder Jean (Dirk Hoegner) und Tochter Joséphine (Chantal Hallfeldt) zusammengekommen. Gemeinsam versucht man sich an die Mutter /Großmutter zu erinnern und zu begreifen, was ihr Tod bedeutet. „NTV – das waren die letzten Worte ihres Lebend“, weiß Serge. Denn seine Mutter hat am Ende noch einmal diesen Fernsehsender sehen wollen. Für ihn scheint das Erinnern damit erledigt, nicht aber für Joséphine. Die schlägt vor, zu Viert nach Auschwitz zu fahren, um dort zu begreifen, was die Familie der Großmutter, also die gemeinsame Familie, durchlitten hat. Anders als im Roman treffen sie dort nicht auf nervige Touristen, vielmehr fokussiert sich Münzels Inszenierung auf die Querelen innerhalb der Familie, auf die Konfrontation mit der eigenen Geschichte und den Umgang mit dem Tod. Dieser dunkle Unterton wird aufgegriffen durch das schwarz gehaltene Bühnenbild (Ute Radler) mit seinen unterschiedlich hohen, an Stele erinnernde Podesten und den schwarzen Hintergrund. Orts- und Zeitwechsel werden durch das Dimmen des Lichts sowie durch sensibel ausgewählte Musikeinspielungen von Gidon Kremer und der Kremerata Baltica angedeutet, ebenso durch die Stellung der Figuren im Raum.

„Ich kann nichts Gelungenes an deinem Leben finden.“

Ulrich Bähnks Serge ist schon allein durch seine Leibesfülle die dominante Person innerhalb dieser Familie. Er neigt zu cholerischen Ausbrüchen, wischt mit flapsigen Bemerkungen über schwierige Themen hinweg, wird schnell mal politisch unkorrekt und schnauzt alle anderen an, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Die Gaskammern und die Lager in Auschwitz will er nicht besichtigen. Weiß er ja alles, kennt er ja alles. Dieses Raubauzige ist für die Zuschauenden durchaus unterhaltsam, vor allem, weil Bähnks Serge in krassem Gegensatz steht zu Hoeners leisen, feinsinnigen, vermittelnden Jean. Anne Schiebers Nana bemüht sich ebenfalls um den Familienfrieden und solidarisiert sich mit der an ehrlicher Aufarbeitung der Familiengeschichte  interessierten Joséphine von Chantal Hallfeldt. Aber irgendwann reißt auch ihr die Hutschnur und in einem explodierenden Zornesausbruch bescheinigt sie Serge. „Ich kann nichts Gelungenes an deinem Leben finden.“ Diesen Satz bereut sie später, denn Serge, der Kettenraucher, bekommt die Diagnose Lungenkrebs. Plötzlich ist der Tod, dem er in Auschwitz ausweichen wollte, eine ganz reale Bedrohung. Gemeinsam sitzt die Familie dicht beieinander im Wartezimmer der Onkologie. Alle Bissigkeiten und Streitereien sind wie weggewischt angesichts wirklich existenzieller Dinge. Serge wird ins Sprechzimmer gerufen und auf einmal ist da inichts mehr übrig vom raumgreifenden Kotzbrocken. Artig steht er auf und geht mit seiner Mappe zur Tür – wie ein kleiner Junge, der mit schlechten Noten zum Rapport muss. Ein unbedingt sehenswerter Abend.

Weitere Informationen unter: https://www.altonaer-theater.de/programm/serge/

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Auseinandersetzung mit der jüdischen Familiengeschichte
  • Konfrontation mit existenziellen Problemen 
Formale SchwerpunKte
  • Orts- und Zeitenwechsel über Stellung der Figuren im Raum
  • Trennung der einzelnen Szenen durch Musik und Lichtveränderung
  • realistische Spielweise
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe

ab 16/17 Jahre, ab Klasse 11/12

empfohlen den Geschichts- und Theaterunterricht

Zum Inhalt

Georg Münzel hat eine Bühnenfassung  nach Yasmina Rezas Roman verfasst, die vom Original in Teilen abweicht:

Serge ist ein Angeber und behauptet, das Leben zu genießen. Seine Frau hat ihn vor einiger Zeit verlassen, seither rühmt er sich verschiedener Affären. Er raucht wie ein Schlot und isst mit Leidenschaft – alles immer einen Tick zu doll, zu viel. Dass sich hinter der Fassade ein ganz zarter, vielleicht sogar ängstlicher Mensch verbirgt, wird nach dem Tod seiner Mutter deutlich. Die war Jüdin, ihre und damit auch Serges Familie hat das Grauen von Auschwitz erlebt. Weder Serge noch seine Geschwister Jean und Nana haben die Mutter zu Lebzeiten danach befragt. Nach der Trauerfeier aber will Joséphine, Serges Tochter, diese Lücke füllen und mit den Dreien nach Auschwitz fahren. Dort interessieren sich Nana, Joséphine und Jean für das Vergangene, während sich Serge sturköpfig weigert, die Lagerräume oder die Gaskammer zu besichtigen. Unangenehme Gedanken dieser Art verscheucht er schnell, blaff dafür lieber die Mitglieder seiner Familie an, wenn sie sein Verhalten thematisieren. Zurück in Paris wird Serge bei einem Arztbesuch bescheinigt, dass er Lungenkrebs hat. Angesichts dieser existenziellen Bedrohung rückt die dysfunktional anmutende Familie wieder zusammen.

   

Mögliche Vorbereitungen
  • Lektüre des Romans „Serge“ oder Recherche zu dessen Inhalt
  • Recherche zu Yasmina Reza
  • Recherche zum Wesen der Komödie
Speziell für den Theaterunterricht
Stellung der Figuren im Raum

Die Spielleitung demonstriert mit Hilfe eines Schülers/einer Schülerin (= S) und später zwei Schüler:innen die Stellung der Figuren im Raum. Anschließend oder nach jeder einzelnen Demonstration wird die Wirkung besprochen:

  • S geht von hinten links diagonal nach rechts über die Bühne (> Ankunft)
  • S geht von vorne rechts diagonal nach links über die Bühne (> Abgang)
  • S. geht von der Mitte hinten direkt auf die Zuschauer zu (> Königsauftritt)
  • Zwei Personen stehen auf einer Ebene nebeneinander (> neutrale Beziehung)
  • Eine der beiden Personen wendet der anderen den Kopf zu (> einseitige Kontaktaufnahme, Spannung)
  • Beide Personen sehen einander an (> gleichwertige Beziehung)
  • Beide Personen stehen mit dem Rücken zueinander (> Ablehnung, Fremdheit)
  • Zwei Personen stehen diagonal zueinander: A vorne links zum Publikum gewandt, B hinten rechts (> Spannung, Gefahr, )
  • Aus dieser Position dreht sich A zu B um (> Spannung durch Distanz)
  • B (hinten rechts) dreht jetzt A den Rücken zu (> Spannung, da eine Handlung vorausgegangen sein muss, die B zum Verlassen des Raumes bewegt)

FAZIT: De größere Spannung entsteht in der Diagonalen

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