Wissenschaftliche Entscheidung trifft auf religiöse Überzeugung. Klar, dass es da zu Konflikten kommt. Erst recht, wenn dann auch noch das Problem der Identität verhandelt wird. Zu Robert Ickes spannendem Stück „Die Ärztin“ in der Inszenierung von Hartmut Uhlemann am Ernst Deutsch Theater.
Die Kritik
Zum Beispiel Kamala Harris. Sie ist: weiblich, Migrantin, dunkelhäutig, Indo-Amerikanerin mit afroamerikanischem Hintergrund, gehört also dadurch einer mehrfach diskriminierten Gruppe an. Stimmt aber nicht. Harris ist auch: Tochter einer reichen Akademiker-Familie der privilegierten Kaste der Tamilischen Brahmanen, Akademikerin und als Vize-Präsidentin der Vereinigten Staaten eine mächtige Politikerin. Das Beispiel aus Jörg Schellers Beitrag in dem ausgezeichneten, informativen Programmheft zu „Die Ärztin“ zeigt, wie schwierig die Einteilung in Identitäten ist und vor allem, welche Probleme Identitätspolitik mit sich bringt. Sie befördert ein immer kleinteiligeres Schubladendenken, verwischt Unterschiede und ignoriert mögliche Veränderungen. Wer sich heute als non-binär empfindet, kann sich vielleicht morgen schon einem definierten Geschlecht zuordnen, wer aus einer jüdischen Familie stammt, muss noch lange nicht den Glauben praktizieren.
Genau darum geht es in Robert Ickes Stück „Die Ärztin“. Es verhandelt zunächst sehr frei nach Arthur Schnitzlers „Doktor Bernhardi“ den Konflikt zwischen wissenschaftlich begründeter Entscheidung und katholischer Überzeugung, rückt aber die Frage nach der Identität ins eigentliche Zentrum. Was genau ist denn die Identität eines Menschen? Und was bedeutet sie in unserer Gesellschaft?
Durch die Besetzung wird jedwede Form der Identitätszuschreibung aufgemischt.
Ruth Wolff steht als anerkannte Professorin einem Institut vor, das seit 25 Jahren an Demenz forscht. Obwohl es nicht zu ihrem Gebiet gehört, nimmt sie eine in die Notaufnahme eingelieferte Vierzehnjährige auf. Wegen einer illegalen selbst vorgenommenen Abtreibung droht das Mädchen an einer Sepsis zu sterben. Um ihr unnötige Angst und Unruhe zu ersparen, verweigert Wolff dem katholischen Pater, dem Mädchen die Sterbesakramente zu geben. Nach dem Tod der Vierzehnjährigen sieht sich Wolff, die einer jüdischen Familie entstammt, mit antisemitischen Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen konfrontiert. Der Pater, ein Schwarzer, wiederum meint, in Wolffs Entscheidung Rassismus zu erkennen. Da Wolff eine Entschuldigung für ihre Entscheidung verweigert, wird sie suspendiert. Damit, so die Meinung des zuständigen Ministeriums, ist die Öffentlichkeit beruhigt und die weitere Finanzierung des Institut gewährleistet.
Hartmut Uhlemann hat bei seiner zweieinhalbstündigen, dennoch straffen Inszenierung die Vorschläge des Autors berücksichtigt und durch die Besetzung jedwede Form der Identitätszuschreibung aufgemischt: Gerd Lukas Storzer, eindeutig ein Weißer, spielt den Pfarrer Jacob Rice, und erst im Lauf der Handlung wird klar, dass Rice schwarz ist. Isabella Vértes-Schütter, auch durch das Kostüm (Bernhard Westermann) als Frau gekennzeichnet, spielt Wollfs Kollegen Roger Hardiman, Jan Tsien Beller, oberflächlich ein Mann, ist die für Medienauftritte zuständige Rebecca. Das verwirrt natürlich anfangs sehr, ist aber bei näherem Betrachten nur konsequent. Für Ruth Wolff, die Ärztin, steht Identität nicht zur Debatte. Sie ist weiblich, weiß, jüdisch, lesbisch, gebildet und beruflich erfolgreich. Sie passt also in keine Kategorie, auch wenn das die Talk-Runde mit dem vielsagenden Namen „Im Ring“ immer wieder versucht. Gesine Cukrowski zeigt mit Ruth eine starke, über den Dingen stehende Frau vor allem dann, wenn sie in der Öffentlichkeit steht. Der ist sie in der mintfarbenen Lobby des Instituts und später in der Talk-Show ausgesetzt. Ihren Ängsten und der Verzweiflung kann sie nur im privaten Raum nachgehen. Die Drehbühne zeigt dann ein Wohnzimmer mit Sofa, Palme und Wasserkocher (Bühne: Stephanie Kniesbeck). Hier taucht auch Sami (Paul Heimel) auf. Ob er ein Junge, ein Mädchen oder divers ist und in welcher Beziehung er zu Ruth und ihrer Partnerin Charlie (Antje Otterson) steht, bleibt offen und überfrachtet das Stück genauso wie die nachgelieferte Erzählung, dass Charlie ausgerechnet an Alzheimer, dem Forschungsgebiet von Ruth, leidet und sich deswegen umbringt. Dennoch: „Die Ärztin“ ist spannend inszeniert und bietet jede Menge Diskussionsstoff. Was kann man mehr von einem Theaterabend verlangen?
Weitere Informationen unter: https://www.ernst-deutsch-theater.de/programm/veranstaltung/die-aerztin-336
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Problematisierung des Identitätsbegriffs
- Religion vs Wissenschaft
- Jüdin vs Katholizismus
- Überzeugung vs wirtschaftliche Interessen
- Ausgrenzung und Entstehung von Hass
Formale SchwerpunKte
- Rollenbesetzung gegen Geschlecht und Hautfarbe
- Spiel mit der Identitätszuschreibung über Kostüme
- Realismus in Spiel und Bühnenbild
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 16 Jahre, ab Klasse 10
- empfohlen für den Ethik-, Politik-, Biologie – und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Ruth Wolff leitet erfolgreich ein Institut, das zur Alzheimerkrankheit forscht. Eines Nachts wird eine Vierzehnjährige in die Notaufnahme eingeliefert, die illegal mit Tabletten eine Abtreibung vorgenommen hat. Obwohl ihr Institut kein normales Krankenhaus ist, fühlt sich Ruth ihrem Eid als Ärztin verpflichtet und nimmt das Mädchen auf. Allerdings ist deren Sepsis bereits so weit fortgeschritten, dass sie sterben wird. Da die Vierzehnjährige katholisch ist, will ein Pfarrer ihr die Sterbesakramente geben. Das aber verhindert Ruth, weil sie sie dadurch in unnötige Panik versetzt sieht. Das Mädchen stirbt und Ruth sieht sich plötzlich ungeahnten Anfeindungen gegenüber. Ihr wird Rassismus vorgeworfen, weil der Pfarrer schwarz ist und sie angeblich ihm gegenüber tätlich geworden ist. Obwohl sie nicht praktizierende Jüdin ist, schlägt ihr Antisemitismus entgegen, der von Beleidigungen über Hassmails bis hin zu Morddrohungen geht. Eine ehemalige Kommilitonin, die jetzt Gesundheitsministerin ist, bittet sie, sich für ihre Entscheidung zu entschuldigen, damit die Öffentlichkeit beruhigt und eine weitere Finanzierung des Instituts gewährleistet ist. Da Ruth jedoch nicht nachgibt, wird sie suspendiert. In einer Talk-Show mit Vertreter:innen unterschiedlicher Interessen darf sie sich verteidigen, muss aber erkennen, wie sehr das Schubladendenken jegliche Individualität ignoriert. Ihre Verteidigung trifft auf taube Ohren.
Mögliche VorbereitungeN
Als Hausaufgabe oder über Referate
Recherche zum Thema Identitätspolitik;
dazu:: Jörg Scheller: Potenziale der Identitätspolitik in: https://www.bpb.de/rassismus-diskriminierung/rassismus/515930/potenziale-und-grenzen-der-identitaetspolitik
Recherche zu Robert Icke;
dazu auch Robert Icke im Gespräch, in: https://www.digitaltheatreplus.com/blog/lyn-gardner-in-conversation-with-robert-icke/
Im (Theater-) Unterricht
Die Lehrkraft verteilt Karten, auf denen jeweils ein Identitätsmerkmal steht (von den einzelnen Merkmalen müssten mindestens zwei oder drei Karten angefertigt werden, um verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren). Beispiele dafür:
weiß – männlich – schwarz – weiblich – divers – katholisch – jüdisch – muslimisch – syrisch – türkisch – ukrainisch – amerikanisch – deutsch – französisch – Hochschulabschluss – Förderschule – mittlerer Bildungsabschluss – arbeitslos – Akademiker – Akademikerin – Single – u.ä.
Von jeder Karte gibt es mindestens drei Ausfertigungen.
Nachdem jede Schülerin/ jeder Schüler eine Karte erhalten hat, soll sie/er in einer Rollenbiografie kurz beschreiben, wer sie/er ist.
Danach erhält jede:r eine zweite Karte und muss seine Person erneut beschreiben, also die Rollenbiografie ändern oder angleichen.
Dasselbe geschieht, wenn eine dritte Karte dazu kommt.
Im Anschluss soll überlegt und diskutiert werden, wie sich die Vorstellungen von der jeweiligen Person verändert haben und was die Einordnung in Identitäten für Auswirkungen hat.