ANTHROPOLIS V: Antigone

Hört das denn nie auf? Diese Spirale von Gewalt und Rache, der Hang zur Vernichtung? Dabei denkt der Mensch doch, immer alles richtig zu machen. Zu Roland Schimmelpfennigs Bearbeitung und Karin Beiers Inszenierung, dem Finale der „ANTHROPOLIS“-Serie, im Schauspielhaus.

Antigone (Lilith Stangenberg) beim Hochzeitstanz mit dem Tod –
Foto: Thomas Aurin

Die Kritik

Es ist ihnen nicht beizukommen, den Religionsfanatikern, den Verschwörungstheoretikern. Selbstgerecht gehen sie ihren Weg, anderen Meinungen hören sie gar nicht erst zu. „Ich gehe aufrecht, nur meinem eigenen Gesetz folgend, wie kein Mensch vor mir in das Reich des Todes“, verkündet Antigone (Lilith Stangenberg) gleich zu Beginn des fünften und letzten Teils der „ANTHROPOLIS“-Serie, deren antike Vorlagen Roland Schimmelpfennig mit feinem Gespür für den Gegenwartsbezug bearbeitet und die Karin Beier kongenial inszeniert hat. Was allerdings bei „Prolog/Dionysos“, „Laios“ und „Iokaste“ eine eigenständige Wucht entfalten konnte, wurde bereits bei „Ödipus“ schwieriger und auch bei „Antigone“ nicht leichter. Beide Stücke sind in ihrer antiken Version als Reclam-Ausgabe schulklassenweise gelesen, totinterpretiert und im Theater rauf und runter gespielt worden. Dennoch gelingt es dem Team Schimmelpfennig/Beier ihre „Antigone“ im Kontext der Serie mit dem Untertitel „Ungeheuer. Stadt. Theben“ so einzubetten, dass ein fataler Kreislauf sichtbar wird, dessen Urheber der Mensch ist. 

„Wir sind alle nichts ohne die Stadt.“

Nachdem die beiden Brüder Eteokles und Polyneikes im Kampf um die Macht in Theben gefallen sind, hat ihr Onkel Kreon den Thron übernommen. Bei Ernst Stötzner in dunkler Hose und dunklem Pullover (Kostüme: Wicke Naujocks) ist er ein unaufgeregter, besonnener Mann, der die Nase voll hat vom Familienfluch und ähnlichen Spinnereien. Er hat ein Gesetz erlassen, nach dem Polyneikes und seine Anhänger vor den Toren der Stadt unbestattet bleiben sollen. Es ist die Strafe dafür, dass sie als Verräter Theben angegriffen und damit wieder Krieg entfacht hatten. Kreon will jetzt endlich Frieden, „Sicherheit und Glück“, denn „wir sind alle nichts ohne die Stadt“. Sein Gesetz soll den Bürgern Orientierung bieten und einen klaren Regierungsstil beweisen. Der Chor aus der antiken Vorlage ist in Schimmelpfennigs Bearbeitung durch Ute Hannig als Berater Phylobasileus ersetzt. Eine Figur, die oft aus dem hinteren Teil der durchweg schwarz gehaltenen, nur vorne mit ein paar Kreidesteinen ausgestatteten Bühne (Johannes Schütz) hervortritt. Kühl verweist sie darauf, dass das „unnatürliche Geschlecht der Drachentöter“ zu Ende sei, denn „in Zukunft soll Vernunft regieren“, Antigone ist für sie eine „Idiotin!“. 

„Sinnlos ist es, etwas anzufangen, was nicht erreichbar ist.“

Selbst Antigone Schwester Ismene stellt sich auf Kreons Seite. Josefine Israels Ismene in schwarzem Kleid und Lederhosen war einst für den Kampf und für Polyneikes. Jetzt aber erkennt sie die Realitäten an und weiß, dass Kreons Verbot Gesetz geworden ist. „Sinnlos ist es, etwas anzufangen, was nicht erreichbar ist“, mahnt sie Antigone. Aber die hört überhaupt nicht hin. Von Anfang an weiß sie, dass sie – eingebunden in den Fluch der Familie – nur dem Gebot der Götter zu folgen hat. Lilith Stangenberg zeigt eine Rasende, Verblendete, die mit irrem Grinsen den Kreidestaub der Steine aufwühlt, um den toten Bruder zu bestatten. Der knallrote über den Mund geschmierte Lippenstift lässt sie vollkommen wie eine Verrückte aussehen.  

„Gewalt zeugt Rache, und Rache zeugt Gewalt.“

Sie weiß, dass sie das Gesetz übertritt und wird natürlich erwischt von Skopos, dem Wächter. Jan-Peter Kampwirth tritt wie ein verspäteter Zuschauer durch die Reihen des Publikums auf, um Kreon von Antigones Tat zu berichten. Ein schwadronierender, nicht unsympathischer, aber feiger Typ, zu dessen Standard  ein „Ich -war’s- nicht“ gehört. Bevor Kreon die angekündigte Todesstrafe ausspricht, versucht ihn sein Sohn Haimon, Antigones Verlobter, umzustimmen. Der geht bei Maximilian Scheidt diplomatisch vor, erklärt: „Die Stadt ist mit Antigone“ und versucht dem  Vater auch die andere Seite deutlich zu machen. Kreon hört zu, wandelt die Strafe ab. Aber auch eine lebendig eingemauerte Antigone zeigt noch Wirkung. Teiresias (Michael Wittenborn) als Vertreter der Religion mahnt Kreon das Urteil zurückzunehmen, da sich die Befürworter und Gegner in der Stadt sonst gegenseitig „zerfleischen“ werden. Einen erneuten Krieg will Kreon nicht. Er kehrt um, doch es ist zu spät. Antigone ist tot. 

„Gewalt zeugt Rache, und Rache zeugt Gewalt“, resümiert Berater Phylobasileus und weiß, dass „nichts, nichts gewaltiger ist als der Mensch.“ Nichts hat sich geändert seit der Gründung Thebens. Michael Wittenborn tritt am Ende noch einmal als der Erzähler auf, der er zu Beginn des ersten Teils von „ANTHROPOLIS“ war. Er beschreibt wieder die Ebene, das verbrannte Land, die zerstörte Stadt, das singende, merkwürdige Vogelwesen und in einem Museum eine steinerne Frau mit aufgerissenem Mund auf einem Stier. „Was sieht sie?“ Man will es gar nicht wissen.

Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/antigone

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Vernunftgesteuertes Handeln gegen irrationale Verblendung
  • Kreislauf der Gewalt
  • Schwachpunkt: der Mensch
Formale Schwerpunkte
  • Parallele Darstellung von Handlungsabläufen
  • Reduktion des Chores auf eine Figur
  • Kontrastierung (Überspitzung vs nüchternem Spiel)
  • Einrahmen des Geschehens durch Aufgreifen der Anfangserzählung
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • ab 15 Jahre, ab Klasse 10/11
  • empfohlen für den Geschichts-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Die Fassung von Roland Schimmelpfennig setzt etwas andere Akzente als die antike Vorlage:

Nachdem Polyneikes Theben angegriffen hat, weil sein Bruder Eteokles ihm die rechtmäßig vereinbarte Machtübernahme verweigert hat, sind beide Brüder im Kampf gefallen. Ihr Onkel Kreon hat nun die Herrschaft übernommen und will den Fluch, der über der Familie zu lasten scheint, durchbrechen und endlich Frieden halten. Seine Gesetze sollen vernünftig und für alle verständlich sein. Polyneikes, den er als Aggressor und Verräter ansieht, habe laut Kreon wieder Krieg und Vernichtung über die Stadt gebracht und dürfe deshalb zur Strafe nicht begraben werden. Damit setzt sich Kreon über ein in der Religion fest verankertes Ritual hinweg, denn für ihn ist eine klare Gesetzgebung wichtiger. Antigone dagegen ist anderer Meinung. Aber statt zu argumentieren handelt sie ferngesteuert von ihrem Glauben an die Religion und den auf der Familie lastenden Fluch wie eine Besessene. Sie bestattet den Bruder und wird dafür bestraft. Zwar wandelt Kreon die ursprünglich verhängte Todesstrafe ab und lässt Antigone aufgrund der diplomatischen Intervention seines Sohnes Haimon nur lebendig begraben, dennoch bahnt sich Unheil an. Denn die Stadt ist gespalten in Befürworter und Gegner von Antigones Handeln. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, versucht Kreon Antigone zu befreien, doch er kommt zu spät. Sie hat sich bereits erhängt.

Mögliche VorbereitungeN
Über Referate oder als vorbereitende Hausaufgabe:
In Gruppenarbeit oder als Hausaufgabe:
  • Recherche zu (religiösem) Fanatismus und seine Auswirkungen
Im Unterrichtsgespräch:
  • In welcher Form zeigt sich Fanatismus aktuell – weltweit, in Deutschland?
  • Wie lässt sich damit umgehen? 
  • Gibt es bereits praktizierte Lösungen? Welchen Erfolg hatten sie? Woran sind sie gescheitert?
Speziell für den Theaterunterricht:

Eine antike Szene aktualisieren

Die Spielleitung verteilt unten stehenden Textauszug an Vierer- oder Fünfer-Gruppen.

Aufgaben: 
  • Setzt den Dialog zwischen Antigone und Kreon in die Sprache der Gegenwart. Dabei könnt ihr inhaltlich (also nicht wörtlich) vorgehen, sollt aber jede Rede-Gegenrede berücksichtigen.
  • Entwerft dann für die Dialogpartien einen Subtext; d.h. das, was die Figuren denken, aber nicht aussprechen. 
  • Findet paarweise zu den einzelnen Dialogpartien eine Körperhaltung/ Pose. Aufgabe:  (paarweise). Sucht euch dazu aus den jeweils fünf Passagen je einen Satz, ein paar Wörter oder auch nur ein Wort aus, das euch wichtig erscheint. 
  • Verbindet die einzelnen Posen, indem ihr sie wie Sprache als Dialog darstellt; d.h. beginnt mit der Pose Kreon, dann der Antigone usw.
  • Entwickelt abschließend eine vollständige Szene, in der ihr auf den Gegenwartstext zurückgreift. Findet zunächst die Haltung und sprecht dann den jeweiligen Text. Nutzt möglichst alle drei Ebenen. Lasst euch Zeit. Erst muss eine Person ihre Haltung gefunden und den Text gesprochen haben, dann folgt die „Antwort“. Dabei kann hinter Kreon und Antigone jeweils eine Person in neutraler Haltung stehen und den Subtext sprechen.
  • Präsentiert eure Ergebnisse und besprecht die jeweilige Darstellung und Wirkung von Kreon und Antigone.
Text:

Sophokles: Antigone

Inhaltliche Einbettung

Nachdem König Ödipus sich in die selbstgewählte Verbannung begeben hat, sollen seine beiden Söhne Eteokles und Polyneikes die Herrschaft  über Theben im Wechsel übernehmen. Den Anfang macht Eteokles. Doch als Polyneikes sein Recht auf den Thron einfordert, kommt es zum Kampf, der für beide tödlich endet. Kreon, ein Schwager von Ödipus, übernimmt nun die Herrschaft in Theben und befiehlt: Eteokles, der die Stadt verteidigt hat, wird mit allen Ehren beerdigt, Polyneikes aber ist in seinen Augen ein Verräter. Er soll unbestattet bleiben und den Vögeln als Fraß dienen. Wer sich dem widersetzt, soll mit dem Tod bestraft werden.

Antigone, die Schwester der beiden, begehrt gegen dieses neue Gesetz auf. Da beide ihre Brüder sind, will sie Polyneikes trotz allem begraben. Heimlich schleicht sie sich vor die Stadtmauern, streut Sand über den Leichnam und wird von den Wachen Kreons erwischt.

Text (Auszug)

Chor

Unfassbares Bild entzweit meinen Sinn:

Sag ich, Augen, ihr lügt,

Das ist Antigone nicht?

Unglückselige du,

Des unseligen Ödipus’ Kind!

Was geschah? Sie haben dich doch

Nicht ergriffen bei sinnlosem Tun,

Wider Königs Gesetz dich empörend?

[..]

Kreon

Dich frag ich nun, du senkst den Blick zu Boden:

Gestehst du oder leugnest du die Tat?

[…]

Hast du gewusst, dass es verboten war?

Antigone

Ich wusste es, allerdings, es war doch klar.

Kreon

Und wagtest, mein Gesetz zu übertreten?

Antigone

[…] So groß

Schien dein Befehl mir nicht, der sterbliche,

Dass er die ungeschriebenen Gottgebote, 

Die wandellosen, konnte übertreffen.

Sie stammen nicht von heute oder gestern,

Sie leben immer, keiner weiß, seit wann.

An ihnen wollt ich nicht, weil Menschenstolz

Mich schreckte, schuldig werden vor den Göttern.

Und sterben muss ich doch, das wusste ich

Auch ohne deinen Machtspruch. Sterbe ich

Vor meiner Zeit, nenn ich es noch Gewinn.

[…]

Kreon

Erst recht verhasst ist mir, wer sein Verbrechen

Verschönern will, bei dem man ihn ertappt.

Antigone

Willst du noch mehr, als dass ich sterben muss?

Kreon

Sonst nichts. Damit hab ich vollauf genug

Antigone

[…]

Und doch, wie hätt ich rühmlicheren Ruhm 

Gewonnen, als dass ich den eigenen Bruder

Begrub?

Kreon

[…]

Nie, auch nicht wenn er starb, lieb ich den Feind.

Antigone

Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil.

aus: Sophokles: Antigone (Reclam)

Der ungekürzte Text findet sich unter: https://www.projekt-gutenberg.org/sophokle/antigone/antigon2.htmlSzenen