Société Anonyme

Im Dunkeln lässt es sich leichter erzählen. Über das, was tagsüber und im Licht verborgen bleibt. Und doch ist es ein wesentlicher Teil der Gesellschaft. Im Malersaal liefern Stefan Kaegi und Rimini Protokoll eine so ungewöhnliche wie  spannende Ergänzung zum Thema Stadtgesellschaft, das die aktuelle Spielzeit im Hamburger Schauspielhaus prägt.

Das Publikum hat Platz genommen. Gleich wird es dunkel. –
Foto: Thomas Aurin

Die Kritik

„Und man sieht nur die im Lichte/ die im Dunklen sieht man nicht“, heißt es in Brechts „Dreigroschenoper“. Gemeint hat er Verborgenes, Illegales, das niemand erkennen konnte oder wollte. Stefan Kaegi und Rimini Protokoll haben sich mit ihrem Projekt „Société  Anonyme“ ebenfalls dem Dunklen, dem Nicht-Sichtbaren zugewandt. Dabei lässt Rimini Protokoll wie immer sogenannte Experten des Alltags zu Worte kommen, Menschen also, denen wir täglich begegnen bzw. in diesem Fall begegnen könnten. Über 50 Gespräche hatte das Team in der Vorarbeit zu diesem Stück geführt. Dazu kamen die Kontakte über öffentliche Ausschreibungen und über gezielte Recherchen in verschiedenen Bereichen der Stadtgesellschaft zustande. An diesem gut zweistündigen Abend sind diese Menschen unsichtbar, nur über ihre teilweise bearbeiteten Stimmen aus dem Nichts zu hören.

Andere Sinne müssen aktiviert werden: das Spüren, das Riechen, das Schmecken und vor allem das (Zu-)Hören.

In absoluter Dunkelheit sitzt das Publikum auf kreisförmig angeordneten Stühlen, jeweils mit ca 30 – 50 cm Abstand voneinander (Raum: Aljoscha Begrich). Alles, was irgendwie leuchtete (Handys, Leuchtstifte oder digitale Uhren), musste zuvor in einem Beutel verschlossen und an der Garderobe abgegeben werden. Dafür erhielt man für den Notfall eine Knickleuchte. Ein Knick und jemand vom Personal würde einen aus dem Raum nach draußen begleiten, Wiederkommen allerdings unmöglich. Das erläutert zu Beginn Gül Pridat, eine seit ihrer Kindheit blinde Musikerin, die den Abend mit der Musik und dem Soundkonzept von Arvild Baud begleitet, im noch erhellten Foyer. 

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn langsam das Licht dimmt und der Raum in der Dunkelheit versinkt. Andere Sinne müssen jetzt aktiviert werden: das Spüren, das Riechen, das Schmecken, vor allem aber das (Zu-)Hören. Neun verschiedene Stimmen kommen zu Wort. Jede dahinter stehende Person spricht über das, was sie nicht zeigt: 

Da ist der marokkanische Hafenarbeiter, ein sogenannter „Sans Papiers“ (ohne Papiere). Seinen Pass hat er bei der Überfahrt ins Meer geworfen. Jetzt haust er mit drei anderen in einem Zimmer und schlägt sich mit dem Löschen von Containern durch. Mal wird er bezahlt, mal auch nicht. Er ist der Willkür ausgesetzt, denn ohne Papiere kann er sich nicht wehren. Er ist nur einer von Tausenden, die auf diese Weise im Hafen arbeiten. Ein Geschenk hat er für das Publikum mitgebracht. Jeder findet unter seinem Stuhl einen marokkanischen Keks und versucht zu schmecken, was dem „Sans Papiers“ seine Heimat bedeutet hat.

Für zwei Stunden offenbart die Stadt ihr verborgenes Gesicht.

Da ist aber auch die Anwältin, die seit Jahren unter Schizophrenie leidet und deren Stimmen im Kopf ihr Befehle bis hin zum Sprung aus dem Fenster erteilen. Da ist der Orchestermusiker, der seine Sexualität in einem Darkroom auslebt. Oder die Sachbearbeiterin, die jahrelang von einem Freund missbraucht worden ist. Oder die kommunistische Aktivistin, die illegale Aktionen für notwendig hält. Der Steuerberater mit seinen Tricks, die Mitarbeiterin einer Samenbank, der Immobilienkaufmann, der wegen seiner Zugehörigkeit zu Scientology sein Büro nicht einmal unter seinem richtigen Namen führt, und der Beichtvater, der es gewohnt ist, in der Dunkelheit des Beichtstuhls von Verfehlungen, Bestandenem und  Straftaten zu erfahren. Begleitet werden die einzelnen Berichte durch akustische Einspielungen (z.B. eine Parolen skandierende Menge bei der Aktivistin) und Pridats Klavier oder ihren Gesang. 

Für zwei Stunden offenbart die Stadt ihr verborgenes Gesicht. Ein winziger Augenblick gemessen an dem, was tagtäglich zu sehen ist. Ein spannender, intensiver Abend.

Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/societe-anonyme

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

„Société Anonyme“ ist wegen der Präsentation in absoluter Dunkelheit und seiner teilweise bedrückenden Erzählungen erst ab 18 Jahre zugelassen. Insofern erübrigt sich hier eine Vorbereitung für Schulklassen.