ANTHROPOLIS II: Laios

Was geschah in Theben? Wie kam Laios an die Macht? Was wissen wir wirklich? Zu Karin Beiers Inszenierung mit einer überragenden Lina Beckmann. 

Foto: Monika Rittershaus

Die Kritik

So ist das, wenn man versucht sich zu erinnern. Nichts ist festgelegt. War es so? Oder so? Welche Figuren traten auf und erzählten – was? „Laios“, der zweite der fünf Teile von „ANTHROPOLIS“ im Hamburger Schauspielhaus, verzichtet auf eindeutige Zuordnungen. Schließlich weiß niemand genau, was damals tatsächlich geschah in Theben, bevor Ödipus, der Sohn des Laios, König wurde. Selbst die antiken Dichter geben darüber in ihren Dramen nur äußerst dürftig Auskunft. Wenn es aber um Gründung und Schicksal von Theben geht, müssen auch Leerstellen gefüllt werden. Roland Schimmelpfennig, der bereits den ersten Teil „Prolog/Dionysos“ verfasst hat, entschied sich bei „Laios“ für eine Textfläche, in der die Grenzen von Figuren, Ort und Zeit aufgehoben sind: Die Antike verknüpft sich mit der Gegenwart, mythische Gestalten erscheinen als hustende Besitzerinnen von Dönerbuden, die Erzählerin verwandelt sich in verschiedene Figuren, Dialog, Monolog und Erzähltes verweben sich miteinander. Zweifelsohne ist so ein Text eine Herausforderung, sogar für eine Schauspielerin wie Lina Beckmann. Doch wie sie in der Regie von Karin Beier diese 90 Minuten gestaltet, ist ein Erlebnis. 

Eine singende Katze am Himmel. Ein Vogel vielleicht oder eine Frau.

Ganz alleine steht sie auf der bis an die Brandmauer aufgerissenen Bühne. Der schwarze Hintergrund wirft manchmal Schatten, manchmal wirkt er wie ein Spiegel. Vorne links der weiße Stierkadaver, eine Verbindung zu Teil 1, rechts eine Mauer aus weißen Steinen, der Hinweis auf den Aufbau der Stadt (Bühne: Johannes Schütz). Lina Beckmann in neutralem weißen Rippenhemd und schwarzer Hose (Kostüme: Wickie Nujoks) tritt an die Rampe und stimmt das Publikum in die Situation ein. Von eine schmalen, staubigen Straße fernab der Stadt, erzählt sie, und von Laios, dem König von Theben, auf einem Karren und einer Frau mit einem leeren Kinderwagen. Und dann beschreibt sie diese singende Katze am Himmel, vielleicht ist es auch ein Vogel oder eine Frau – aber die Stimme bringt ihren Kopf schier zum Platzen. „Hör auf!“, schreit sie. Es ist ein Motiv, das den Text durchzieht und die Macht der Vorhersage unterstreicht.

„Die Zukunft beginnt jetzt!“

Aus der Erzählerin ist plötzlich eine Figur geworden, der die Sphinx etwas prophezeit. Laios vielleicht? Oder einer seiner Vorfahren? Was war denn geschehen, bevor Laios nach Theben kam? Beckmann fragt das Publikum ab wie in der Schule und stellt so den Bezug zum ersten Teil her, in dem durch die Rache Dionysos’ die Stadt in Gewalt und Chaos versank. Mit Amphion tritt ein neuer Herrscher auf den Plan. Beckmann, nunmehr mit ausholendem Schlurfgang und Maske, schleppt den Chor der Bürger (antike Masken auf Stangen) herein und verspricht, dass jetzt Staatsordnung und Ethik „Willkür und Irrsinn“ ersetzen werden und das Ende des Aberglaube gekommen sei. „Die Zukunft beginnt jetzt!“. Aber Amphion wird irgendwann von Laios abgelöst. Denn der ist  „von Beruf Urenkel“, von Kadmos nämlich, der Theben gegründet und verfügt hat, dass nur seine direkten Nachfahren regieren sollen. 

Beckmann wechselt in Windeseile die Figuren. Zeigt, wie der junge Laios nach Theben kommt, gibt verschiedene Möglichkeiten zu seiner Vorgeschichte zu bedenken, tritt ans Mikrofon als sehr zarte Iokaste, die Laios heiraten wird. Und dann scheint ihr wieder der Gesang der Sphinx den Kopf zu sprengen und sie schreit: „Hör auf!“. Denn es ist ja auch furchtbar, was die Stimme prophezeit: Laios wird einen Sohn mit Iokaste haben und der wird irgendwann auf einer Straße dem Vater begegnen und ihn erschlagen. Beckmann erzählt, wie Laios seinem Schicksal zu entgehen versucht und den Sohn im Wald mit durchbohrten Füßen aussetzt. Dann kehrt sie zum Anfang des Abends zurück und beschreibt:„Eine schmale, staubige Straße. Weit entfernt die Stadt.“ Sie dreht sich zu der spiegelnden Wand im Hintergrund. Schemenhaft zeichnet sich dort eine Gestalt ab. „Bist du das?“, fragt sie. Und noch einmal: „Bist du das?“ Das Licht verlischt, das Premierenpublikum steht geschlossen auf und feiert eine überragende Schauspielerin.

„ANTHROPOLIS III: Ödipus“ hat am 10. Oktober Premiere.

Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/laios

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • die Situation in Theben nach Pentheus’ Tod
  • die Uneindeutigkeit von Laios’ Vorgeschichte
  • die Macht der Prophezeiung
Formale Schwerpunkte

Postdramatisches Theater: 

Umsetzung einer Textfläche durch eine Schauspielerin

Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16/17 Jahre, ab Klasse 11
  • empfohlen für den Geschichts-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Pentheus war von seinem Großvater Kadmos, dem Gründer der Stadt Theben, zum Herrscher ernannt worden. Weil er sich aber geweigert hatte, seinen Cousin Dionysos als Gott anzuerkennen, hatte Dionysos die Frauen der Stadt, u.a. Pentheus’ Mutter,  in einen Rausch versetzt, in dem sie ihre eigenen Söhne töteten. Theben wird darauf von verschiedenen Herrschern regiert, die aber alle extrem gewalttätig sind. So wie Lykos, der die Stadt widerrechtlich erobert und den rechtmäßigen Herrscher Labdakos, den Enkel von Kadmos, getötet hat. Er selbst wird später von dem eher vernünftigen Amphion und seinem Zwillingsbruder aus der Stadt gejagt. Amphion will dem Irrsinn, der Gewalt und dem Aberglaube ein Ende bereiten und der Stadt durch Arbeit und Pflicht wieder einen „neuen Grundriss“ geben. „Die Zukunft beginnt heute!“, verkündet er in seiner Antrittsrede. Sein Problem ist, dass er nicht direkter Nachfolger von Kadmos ist. Der hatte nämlich verfügt, dass nur diese Herrscher der Stadt sein dürfen. Da dessen Enkel Labdakos von Lykos ermordet worden ist, bleibt sein Urenkel Laios. Der ist nach der Ermordung seines Vaters im Wald ausgesetzt und später vom König von Pisa aufgenommen worden. Laios wird von den Thebanern als rechtmäßiger König in die Stadt geholt. Er heiratet Iokaste und bekommt mit ihr einen Sohn. Die Sphinx hatte ihm vorhergesagt, dass er von seinem eigenen Sohn erschlagen werden würde. Deshalb entschließt sich Laios, das Neugeborene mit durchbohrten Füßen auszusetzen. Jahre später trifft Laios auf einer staubigen Straße einen Fremden. Es ist Ödipus – und die Prophezeiung wird sich erfüllen.

Mögliche VorbereitungeN
Über Referat oder als vorbereitende Hausaufgabe:
  • Recherche zu den Herrschern in Theben
  • Recherche zum Geschlecht der Labdakiden
  • Recherche zur Verwendung von Fake News und Aberglaube: Welche Machthaber nutzen sie? Mit welchem Erfolg?
Im Unterrichtsgespräch:

Schicksal, Zufall, Prophezeiung – Was bestimmt unser Handeln?

Speziell für den Theaterunterricht:

Die Inszenierung kann in Zusammenhang mit Regiestilen/Theaterformen vorbereitet werden. 

Vier Gruppen bereiten je eine der folgenden Theaterformen vor: Antikes Theater, Brechts episches Theater, Dramatisches Theater im Stile Stanislavskis, Postdramatisches Theater.

Jede Gruppe stellt die vorbereitete Theaterform (am besten mit einem Video-Beispiel) vor.

Mögliche weiterführende Aufgabe:

Entwickelt eine Szene in der von euch vorgestellten Theaterform zu Franz Kafka: Heimkehr: (https://www.textlog.de/kafka/erzaehlungen/nachlass/heimkehr)

Präsentation und Besprechung der Schwierigkeiten und Möglichkeiten.