Macht

Wie geht das Leben weiter nach einer Vergewaltigung? Gibt es danach noch eine Normalität? „Es ist kein Frauenproblem. Es ist ein Männerproblem“, steht an der Wand des Rangfoyers im Hamburger Schauspielhaus. Dort hat die junge Regisseurin Patricia Camille Stövesand den Roman „Macht“ der Norwegerin Heidi Furre uraufgeführt.

Terje (Jan Thümer) versucht an seine Frau Liv (Linn Reusse)heranzukommen. – Foto: Thomas Aurin

Die Kritik

Zu Beginn erstmal eine Trigger-Warnung an das Publikum. In „Macht“ gehe es um sexualisierte Gewalt, und wer während der gut einstündigen Vorstellung Probleme bekomme, dürfe selbstverständlich den Raum verlassen. Der Raum, das ist in diesem Fall das Rangfoyer im Hamburger Schauspielhaus, in dem die Zuschauer:innen in überschaubaren drei Reihen auf Schemeln platziert werden. Dort gibt Patricia Camille Stövesand ihr Regie-Debüt mit Heidi Furres „Macht“. Die Bühnenfassung hat sie zusammen mit dem Dramaturgen Daniel Neumann erarbeitet.  Die Romanvorlage der norwegischen Autorin behandelt ein Thema, das seit einiger Zeit immer häufiger in Filmen, Dramen oder Erzähltexten bearbeitet wird: Der Versuch einer Frau, mit einer zurückliegenden Vergewaltigung klarzukommen. Ihr Leben davon nicht beeinflussen zu lassen, selbst darüber die Deutungshoheit zu gewinnen, nicht die Macht dem Vergewaltiger zu überlassen. 

Sexuelle Gewalt ist „wie Säure“.

Liv (Linn Reusse), verheiratet, Mutter zweier Kinder und Pflegerin in einem Krankenhaus, will „das hinkriegen“, wie sie immer wieder betont. Mitten aus dem Publikum steht sie auf und erzählt, wie sie versucht, Normalität in ihren Alltag zu bringen, nicht an das Vergangene zu denken. Aber das ist „wie Säure“ und ätzt „sich durch die Matratze, durchs Parkett, in den Waldboden. Dringt in Hirn und Muskeln. Wird hässlich, zieht hässliche Furchen ins Ge­sicht.“ Liv glaubt, anderen Menschen anzusehen, ob sie vergewaltigt oder sexuell missbraucht worden sind. Aber mit ihrem Mann Terje (Jan Thümer) kann sie darüber nicht sprechen. Das gelingt erst mit ihrer Freundin Frances (Henni Jörissen), einer Mode-Designerin. Frances näht Mäntel für Frauen mit ähnlichen Geschichten wie Liv. Sie will damit Erinnerungen vernähen und lose Enden verknüpfen. In Stövesands Inszenierung ist dafür eine weiße Nähmaschine mit weißem Tisch auf der hell gestalteten Bühne (Ruby Heimpel) bereitgestellt, an dem Frances den Mantel für Liv näht, nachdem sie  – viel zu – ausführlich jeden einzelnen ihrer Körperteile vermessen hat. Die Idee des Vernähens der Erinnerungen mag reizvoll sein, führt hier aber nicht weiter. Viel spannender und berührender ist Livs Ringen um eine Fassade, vor allem dann, wenn sie in einem neuen Patienten ihren Vergewaltiger erkennt. Feinfühlig und dezent zeigt Linn Reusse das Brüchige, das Vorgegaukelte dieser Normalität. Immer scheinen durch ihr Lachen, das nette Beisammensein mit ihrem Mann, das exzessive Shoppen („Ich existiere, so lange ich konsumieren kann“) die Narben durch, die das Erlebte hinterlassen hat. Reusses eindringliches Spiel um Livs Vergewaltigung und deren Reflexion sind das Zentrum dieses Abends und bringen das Problem auf den Punkt. Die oberlehrerhaften Ausführungen Terjes zum tatsächlichen Beginn der „Me Too“-Bewegung und das (letztlich nicht wirklich thematisierte) Nähen des Mantels nehmen ihm  dagegen die Schärfe. Tatsächlich glaubte auch niemand im Premierenpublikum, das Thema nicht aushalten zu können. Niemand verließ den Raum. 

Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/macht

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Umgang mit sexualisierter Gewalt
Formale SchwerpunKte
  • Spiel zum Teil aus dem Publikum heraus
  • Umsetzen von Gedanken, Reflexionen in Bewegungen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • Ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11
  • Eingeschränkt empfohlen für den Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht  
Zum Inhalt

Liv, eine Mittdreißigerin, ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Pflegerin in einem Krankenhaus. Als junges Mädchen ist sie nach einer Party, bei der sie, wie sie zugibt, zu viel getrunken hat, mit einem Mann nach Hause gegangen und ist dort von ihm vergewaltigt worden. Über das Ereignis hat sie mit niemandem gesprochen. Vielmehr hat sie versucht, es als etwas einzuordnen, das vielen Menschen geschieht und damit fast unerheblich ist. Sie bemüht sich, ein normales Leben zu führen, kommt aber immer wieder an ihre Grenzen. Als eines Tages ein neuer Patient auftaucht und sie in ihm ihren damaligen Vergewaltiger erkennt, will sie sich ihrem Mann erklären, aber das gelingt ihr nicht. Nur ihrer Freundin Frances, eine Designerin, vertraut sie sich an, denn Frances näht Mäntel für Frauen, die Ähnliches erlebt haben wie Liv. Durch das Erzählen dessen, was ihr passiert ist, hat Linn die Möglichkeit, die Macht, die der Vergewaltiger über sie hatte, zu brechen und selbst die Deutungshoheit über ihr Leben zurückzugewinnen.

Mögliche Vorbereitungen
  • Recherche zu sexueller Gewalt an Frauen (Statistiken)
  • Recherche zur „Me Too“- Bewegung (Ursache und Konsequenzen)

 

Im Unterrichtsgespräch:
  • Welche Konsequenzen hat eine Vergewaltigung?
  • Wieso können nur wenige darüber sprechen?
  • Welche Rolle spielen gesellschaftliche Strukturen?
  • Welche Rolle spielt Scham?
  • Warum werden Opfer häufig als Täter:innen gesehen?
Speziell für den Theaterunterricht
Fassade und Echtheit

Die Spielleitung teilt Paare ein, die jeweils eine einander entgegengesetzte Emotion  (positiv – negativ) verkörpern sollen. (z.B.:Freude – Trauer;  Ruhe – Unruhe; Zufriedenheit – Schmerz, Sicherheit – Angst u.ä.)

Aufgabe

Erstellt eine Szene, in der sich zwei Paare begegnen. Dabei sprechen  die Spieler:innen, die die positive Emotion verkörpern, den nachfolgen Dialog (s.u.). Hinter ihnen stehen die Spieler:innen, die die negative Emotion darstellen, und begleiten stumm den Dialog in Mimik und Gestik. 

Text:

A: Hallo

B: Hallo

A: Alles gut bei dir?

B: Ja, klar. Und bei dir so?

A: Prima, wirklich.

B: Kommst du noch ein Stück mit?

A: Super gerne.

B: Lass uns morgen wieder treffen, okay?

A: Auf jeden Fall.

Präsentation der Dialoge und anschließende Besprechung der Wirkung. 

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