Über die aktuelle Aufregung ums Gendern hätte sich Virginia Woolf wahrscheinlich totgelacht. Ihr Orlando aus dem gleichnamigen Roman trägt beiderlei Geschlecht in sich und wechselt durch die Jahrhunderte von einem zum anderen. Zu Jossi Wielers nachdenklicher Inszenierung im Hamburger Schauspielhaus.
Die Kritik
Sie ist umgestürzt – die Eiche, die Jahrhunderte überdauert hat, -niedergestreckt. Das enorme Wurzelwerk, der mächtige Stamm, die überbordende Krone, einst Zeugen von Kraft und Größe, wirken plötzlich schutzlos, fragil. Katrin Brack, diese fantasievolle und zu Recht mehrfach ausgezeichnete Bühnenbildnerin, hat mit dem entwurzelten Baum ein wahres Kunstwerk für das Hamburger Schauspielhaus geschaffen. Lebensecht wie in der Natur dominiert er die Drehbühne, wird durch das zeitlupenhafte Rotieren von allen Seiten einsehbar, ebenso das Bemühen um seine Heilung wie seine spätere Dekonstruktion. Insofern trägt die Bühne einen Großteil zur Interpretation des Abends bei.
Eine Figur ohne Anfang und Ende, ohne festgelegtes Geschlecht, ohne definiertes Ich
Es geht um „Orlando“, jenem titelgebenden Wesen aus Virginia Woolfs epochemachenden Roman (sie selbst nannte es „Eine Biografie“). Seine Geschichte beginnt im England des 16. Jahrhunderts und dauert bis 1928, dem Erscheinungsjahr des Romans. Oder, wenn man so will, bis in die Gegenwart. Es ist gleichzeitig das Erscheinungsjahr von Orlandos über die gesamte Zeit verfasstem Werk „The Oak Tree“ (siehe Bühnenbild). Woolf hat mit Orlando eine die Zeit, die Jahrhunderte überdauernde Figur geschaffen. Eine Figur ohne Anfang und Ende, ohne festgelegtes Geschlecht, ohne definiertes Ich. Es war also eine kluge Überlegung von Jossi Wieler bei seiner Inszenierung auf eine feste Rollenzuschreibung zu verzichten. In der Bühnenfassung von Dramaturg Ralf Fiedler spielen die wunderbaren Schauspielerinnen Sandra Gerling, Linn Reusse, Hildegard Schmahl, Bettina Stucky und Julia Wieninger. Aber was heißt hier spielen? Nachdem sie eine Weile den Baum betrachtet haben, tragen sie einen nüchternen Bürotisch und entsprechende Stühle an den Rand der Bühne und beginnen von Orlando in der dritten Person zu erzählen. Zunächst heiter und gelöst, noch sind Orlandos Erinnerungen positiv und stark. Gegenseitig fällt man sich ins Wort, verbessert falsch Ausgesprochenes, kommentiert mit hochgezogener Augenbraue einzelne Sätze, illustriert an manchen Stellen mit Gesten oder Bewegungen das gesprochene Wort. Vielmehr Spiel gibt es im ersten Teil des eindreiviertel Stunden langen Abends aber leider nicht.
„Ist dies das, was sie Leben nennen?“
Die Rekonstruktion des Erlebten, aus dem sich Orlandos Ich zusammensetzt, wird durch die Arbeit an dem umgestürzten Baum aufgegriffen. Sachiko Hara und Lars Rudolph schrauben Äste in den Stamm wie um dessen ursprüngliches Aussehen wiederherzustellen. Warum Wieler dafür allerdings zwei Ensemblemitglieder besetzt hat, bleibt ein Rätsel. Gerade von dem so zarten, zerbrechlichen Rudolph hätte man gerne mehr gehört als drei, vier magere Sätze. Allerdings bleibt auch die Frage, warum Wieler hier überhaupt einen Mann auf die Bühne stellt.
Orlandos Geschichte führt ihn nach einer unglücklichen Liebe zunächst nach Konstantinopel, wo er als Frau erwacht, zurück nach London, wo – nunmehr sie – sich in eine andere Frau verliebt. Er/sie erkennt beiderlei Geschlecht und sieht durch das Erlebte mehrere Ichs in sich, empfindet sie als Bereicherung. Orlando könnte glücklich sein, doch „der kalte Wind der Gegenwart“, illustriert durch Sturm und Nebelschwaden auf der Bühne, wird stärker. Die fünf Schauspielerinnen spielen jetzt einzelne Szenen tatsächlich, legen sich dann aber um den zerlegten Baum, je weiter Orlando in die Gegenwart tritt. Nur Julia Wieninger sitzt noch am Tisch. Schon bei Orlandos Ankunft im viktorianischen London mit den festgeschriebenen Rollenbildern (Frauen bekamen 15 bis 18 Kinder und „Eheringe, wohin man blickt.“) und den Auswirkungen der Industrialisierung hatte er/sie gefragt: „Ist dies das, was die Leute Leben nennen?“. Jetzt scheint alles noch schlimmer. Stockend tastet sich Wieninger an den letzten Satz heran: „Es ist der 26. Januar 2024. Es ist jetzt.“ Dann wird es dunkel.
Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/orlando
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Hinterfragen der Geschlechter
- Reflexion der Stellung von Frau/Mann in der jeweiligen Gesellschaft eines Jahrhunderts
- Entwicklung des Ich über Erinnerungen
- Vielfalt des Einzelnen (mehrere Ichs)
Formale Schwerpunkte
- Erzählen des Textes durch verschiedene Spielerinnen
- Kommentieren einzelner Passagen durch Subtext
- Illustration einzelner Aspekte durch Gesten, Bewegungen und szenischem Spiel
- Bühnenbild als Metapher
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 16/17 Jahre, ab Klasse 11
- empfohlen für den Philosophie-, Englisch- , Deutsch-, Kunst- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Die Bühnenfassung von Ralf Fiedler konzentriert sich auf folgenden Inhalt:
England im 16. Jahrhundert. Orlando, ein schöner junger Adliger, hat von Königin Elisabeth einen Landsitz bekommen und genießt dort das Leben. Bei einem sogenannten Frostjahrmarkt, der auf er zugefrorenen Themse stattfindet, lernt er Sascha, eine russische Gräfin, kennen und beginnt mit ihr eine leidenschaftliche Affäre. Doch die Gräfin verliert bald das Interesse an Orlando und kehrt, ohne sich von ihm zu verabschieden, zurück nach Moskau. Orlando versucht seine Trauer in den Griff zu bekommen und kümmert sich um die Verwaltung seiner Güter. Als ihn eine Verehrerin jedoch hartnäckig bedrängt, flieht er in das von politischen Unruhen geprägte Konstantinopel. Nach einem langen Schlaf erwacht er dort eines Morgens als Frau. Er oder vielmehr jetzt: sie findet ein Dokument, das die Eheschließung mit einer Tänzerin beurkundet. Orlando verlässt daraufhin die Stadt mit Hilfe von Nomaden und kehrt bald darauf zurück nach England, immer noch als Frau. Schon auf der Überfahrt muss sie erkennen, was Frauenkleider für eine Wirkung haben und wie sehr jemand durch sein Erscheinungsbild definiert wird. Zurück in England lässt sie klären, dass Adelstitel und Besitztümer auch für ihn als Frau gelten, die Ehe mit der Tänzerin wird annulliert. Orlando beschließt, alles Bisherige aufzuschreiben und sucht die Begegnung mit bekannten Schriftstellern, die ihn aber als Dichter:in nicht ernst nehmen. Mittlerweile befindet sich Orlando im 19. Jahrhundert, der viktorianischen Epoche, und betrachtet mit Abstand die herrschende bürgerliche Moral. Sie verliebt sich in den Kapitän Shelmerdine und erkennt, dass beide Eigenschaften des jeweils anderen Geschlechts in sich tragen, beide sich nicht eindeutig als Mann oder Frau definieren lassen. Orlando schreibt weiter an seinem begonnenen Werk und sieht, wie sehr sich das Klima, die Gesellschaft und die Welt mit fortschreitender Zeit verändert und wie sehr diese mehr als 300 Jahre ihr eigenes Ich geformt haben. Doch Orlando ist noch nicht am Ende, sie schreibt an ihrem Werk „The Oak Tree“, notiert, wie die Zeit sie formt und ihr neue Ichs ermöglicht. Bis zur Gegenwart, bis jetzt.
Mögliche VorbereitungeN
Über Referate oder als vorbereitende Hausaufgabe:
- Leben und Werk von Virginia Woolf?
- Verbindung zwischen der Autorin und „Orlando“
- Charakteristische Züge der einzelnen Epochen (16. – 20. Jhdt.) .
- Rezeption des Romans von seinem Erscheinen 1928 bis heute
- Rollenverständnis und -aufteilung heute
- Geschlechterdefinition und Geschlechtergrenzen
Speziell für den Theaterunterricht
Eine Szene mit Subtext und Gesten ausstatten
Die Spielleitung teilt die oben stehende Inhaltsangabe in Teilen oder als Ganzes an die Gruppe aus und lässt die Teilnehmenden in Fünfer- oder Sechsergruppen zu folgendem Auftrag arbeiten:
- Lest euch die Inhaltsangabe laut vor (evtl. mit wechselnden Sprecher:innen).
- Sucht euch eine Passage aus, die euch interessiert.
- Notiert zu den jeweiligen Sätzen dieser Passage einen Subtext, also etwas, was euch als Frage oder Kommentar dazu einfällt. Das kann in der dritten Person, aber auch in der ersten Person formuliert werden. (Beispiel: „Doch die Gräfin verliert bald das Interesse an Orlando und kehrt, ohne sich von ihm zu verabschieden, zurück nach Moskau.“ – Subtext: Was habe ich falsch gemacht? Hatte ich sie verletzt?“).
- Versucht dann, diese Passage zusätzlich durch Bewegungen, Gesten oder Geräusche zu illustrieren. (Beispiel zu der oben genannten Passsage: winken, weinen o.ä.).
- Probt die Szene, indem eine:r den eigentlichen Text vorliest, jemand anderes (oder mehrere) dazu jeweils den Subtext sprechen und wieder andere entsprechende Bewegungen, Gesten o.ä. ausführen.
- Präsentieren und Wirkung besprechen