Die Freiheit wiederherstellen, für Gerechtigkeit sorgen – wer kann diese Ziele nicht unterschreiben? Problematisch ist nur, dass bei deren Durchsetzung unterschiedliche Interessen eine Rolle spielen und Demokratien ins Wanken geraten oder gar stürzen. Rache folgt auf Vergeltung, auf Vergeltung folgt auf Rache. In seiner Neufassung der „Orestie I-IV“ am Thalia Theater reflektiert Nicolas Stemann diesen ewigen Kreislauf mit einem fantastischen Ensemble.
Die Kritik
Agamemnon hat seine Tochter Iphigenie getötet. Die Götter hatten sie als Opfer für günstige Winde gefordert, damit er mit seinen Truppen nach Troja segeln konnte, um die entführte Helena zu befreien. Eine schlimme Sache für einen Vater, aber hat er nicht sein individuelles Schicksal einem höheren Ziel untergeordnet? Ist er schuldig? Interessierte in Athen aber niemanden. Im Gegenteil. Seine Frau Klytaimnestra nahm sich während seiner Abwesenheit mit Aigisth einen Liebhaber und kaum, dass Agamemnon siegreich aus Troja zurückgekehrt ist, ermordet sie ihn aus Rache für die Tochter und die Seherin Kassandra, die er aus Troja mitgebracht hat, gleich mit. Aigisth besteigt den Thron, Gerechtigkeit scheint wieder hergestellt zu sein. Aber dem ist nicht so. Agamemnons Kinder Elektra und Orest rächen die Bluttat der Mutter, wieder sind es die Götter, die den noch zögerlichen Orest bestärken. Schließlich tötet er Klytaimnestra und Aigisth und wird vor ein Bürgergericht gestellt. Das Volk soll entscheiden, so geht Demokratie.
Wie der Urteilsspruch ausfällt, haben zwei antike Dichter unterschiedlich gesehen: Aischylos, dessen „Orestie“ noch in drei Teilen überliefert ist, lässt Orest freisprechen und damit die Demokratie siegen. Der deutlich jüngere Euripides sieht dagegen das Bürgergericht von Korruption unterwandert. Es spricht Orest und Elektra schuldig, worauf beide beschließen Helena – um die es ja am Anfang ging – zu ermorden. Die ewige Gewaltspirale wird nur unterbrochen durch das Erscheinen des Gottes Apoll, der als Deus ex Machina das Urteil der Bürger aufhebt und ein Happy End herbeizaubert.
Stemanns Handschrift ist auch bei dieser Arbeit unverkennbar.
Aber gibt es das heute noch? Die Demokratie steht heute mehr denn je auf der Kippe. Die Menschheit scheint nicht klug zu werden. Dieses Problem untersucht Nicolas Stemann in seiner Neufassung der „Orestie I-IV“. Dafür hat er sich für Teil eins und drei bei Aischylos, für Teil zwei bei Sophokles und für Teil vier bei Euripides bedient und damit Sichtweisen einander gegenübergestellt und Figuren genauer beleuchtet. Stemann, der am Thalia Theater für spektakuläre Inszenierungen wie „Ulrike Maria Stuart“, „Die Räuber“ oder „Faust I + II“ verantwortlich zeichnete, ist mit der „Orestie I-IV“, einer Koproduktion mit den Salzburger Festspielen, ans Alstertor zurückgekehrt. Seine Handschrift ist auch bei dieser Arbeit unverkennbar: Live-Videos (Claudia Lehmann/ Konrad Hempel) verstärken Situationen und psychische Befindlichkeiten, eine Live-Band (Alexander Hinze/Stephan Kraus, Lothar Müller, Laurenz Wannenmacher) untermalt das Geschehen oder treibt es an, die Figuren werden von den fünf fantastischen Schauspielenden gedoppelt, gewechselt oder vervielfacht, es gibt reflektierende Erzählpassagen, Show-Einlagen und Publikumsbeteiligung. Langweilig ist der mit drei Stunden und 45 Minuten lange Abend also nicht. Allerdings auch manchmal ein bisschen drüber, gerade dann, wenn Stemann sich zu sehr am Mainstream-Entertainment orientiert (Kassandra als Stargast bei „Menschen bei Aischylos“ bringt nun wirklich keine neuen Erkenntnisse). Eindrucksvoll gerät dagegen Teil zwei, in dem Elekras psychische Situation und Orests Zögern im Mittelpunkt stehen. Während Klytaimnestra (Patrycia Ziólkowska) als elegante Herrscherin nur mit schwarzem Blazer und Highheels (Kostüme: Sophie Reble) vor ihrem Spiegel sitzt und nicht einen Funken Reue über ihren Mord an Agamemnon zeigt, wird ihre verzweifelte Tochter Elektra (Julia Riedler, Barbara Nüsse) in verschiedenen Video-Projektionen zu einer immer größer werdenden Bedrohung oder zu einer Art Gewissen. Elektras Hoffnung ist, dass ihr Bruder Orest „endlich seinen Arsch nach Argos“ tragen möge, um Rache zu üben und die Mutter und ihren unrechtmäßig auf Agamamnons Thron sitzenden Liebhaber zu töten. Auf einem zweistöckigen, mit fahrbaren Sichtblenden versehenen Gestell (Bühne: Katrin Nottrodt) steht Orest (Sebastian Zimmler) und zögert. Immerhin geht es hier um Muttermord. Aber der Gott Apoll (Sebastian Rudolph) nennt diesen Mord „das Gute und Gerechte“, deshalb setzt Orest ihn in die Tat um. Von nun an verfolgt ihn der schwarz gekleidete Chor der Rachegöttinnen.
Um die Verurteilung Orests zu reflektieren, setzt Stemann in Teil drei und vier den Schluss von Aischylos und den von Euripides gegeneinander. Den Traum des Aischylos nennt er den Jahrtausende alten demokratischen Freispruch. 2024 soll wieder das Publikum, dem zuvor je eine „Ja“ und eine „Nein“-Karte ausgehändigt worden ist, über Orest urteilen. Die eiligst vom Chor eingesammelten Stimmen werden auf die Bühne gekippt und bewusst willkürlich geordnet. Eine Pattsituation, die Göttin Athene mit einer doppelten Stimme entscheidet. Wieder wird Orest, der Muttermörder, freigesprochen. Plakate brüllen „Orest for President“. In dem etwas verkasperten vierten Teil , in dem Orest und Elektra eigentlich zum Tode verurteilt werden, bringt dann ein maximal gelangweilter Apoll (gekleidet wie ein Showmaster mit Glitzerhose: Sebastian Rudolph) das Ganze zu einem glücklichen Ende. Aber nur, weil ihm die Menschen eh auf den Keks gehen und sie sowieso nicht dazu lernen. Er verabschiedet sich mit: „Euer Überleben? Das wird schon. Toi, toi, toi!“ Wirklich? Die aktuelle Nachrichtenlage macht dazu wenig Hoffnung.
Weitere Informationen unter:https://www.thalia-theater.de/stueck/orestie-i-iv-2024
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Teufelskreis von Rache und Vergeltung
- Rechtfertigung von Morden als Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Freiheit
- Bedrohung der Demokratie durch Korruption
- Demokratie als Sprungbrett für Tyrannen
Formale SchwerpunKte
Überwiegend gleichberechtigt:
- Einsatz von Live-Videos
- Einsatz von Live-Musik
- Einsatz von reflektierenden Erzählpassagen
- Einsatz von Show-Einlagen
- Einsatz von chorischen Elementen
- Einbeziehen des Publikums ins Spiel
- Auflösung der Figuren durch Verdoppelung, Vervielfachung und Wechsel der Spielenden
- Auflösung von Raum- und Zeitstrukturen
- Umbau der Bühne durch Bühnenarbeitende
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11
- empfohlen für den Englisch-, Deutsch- und Theaterunterricht (hier besonders im Zusammenhang mit dem Thema „postdramatisches Theater“)
Zum Inhalt
Nicolas Stemanns Neufassung basiert auf der Trilogie von Aischylos (Teil eins und drei) sowie Sophokles’ „Elektra“ (Teil zwei) und Euripides’„Orest“ (Teil vier).
Um die von Paris nach Troja entführte Helena, die Frau seines Bruders Menelaus, zurückzuholen, muss Agamemnon mit seinen Truppen übers Meer segeln. Leider bleiben die notwendigen Winde aus. Die schicken die Götter nur, wenn Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfert. Agamemnon gehorcht, weil er glaubt, damit einem höheren Ziel zu dienen. Als Feldherr hat er Glück, er besiegt Troja und kehrt als Held nach Athen zurück. Seine inneren Kämpfe, als Vater die eigene Tochter geopfert zu haben, interessieren in seiner Heimat keinen Menschen. Schon gar nicht seine Frau Klytaimnestra. Die hat sich während seiner Abwesenheit mit Aigisth einen Liebhaber genommen und ist jetzt wenig erbaut, ihren Gatten zu empfangen, der dazu noch mit Kassandra eine Frau mitbringt, die die Zukunft voraussehen kann. Klytaimnestra lockt Agamemnon und Kassandra in den Palast, tötet dort beide und macht Aigisth zum König. Damit, glaubt sie, habe sie ihre Tochter gerächt und die Gerechtigkeit wiederhergestellt. Ihre zweite Tochter Elektra jedoch verzeiht ihr den Mord an dem Vater nicht. Ihr Hass wächst immer stärker, sie sehnt sich danach, mit ihrem fern von Athen lebenden Bruder Orest den Mord zu rächen. Orest ist jedoch sensibel und voller Skrupel. Die Mutter zu töten und sei es aus noch so hehren Gründen, scheint ihm unmöglich. Doch die Götter, allen voran Apoll, bestärken ihn, die Rache umzusetzen, um wieder Gerechtigkeit herzustellen. Orest setzt die Tat um, wird jedoch fortan von den Rachegöttinnen, den Erinnyen, heimgesucht und findet keine Ruhe. Seine Tat kommt vor ein Athener Bürgergericht, das ihn tatsächlich demokratisch freispricht und ihm das Gewissen erleichtert. Aber das, so in Stemanns Fassung, ist lediglich der „Traum des Aischylos“. In einem vierten, auf Euripides basierenden Teil, werden Elektra und Orest zum Tode verurteilt. Beide fliehen, entführen die Tochter von Helena, stürmen deren Palast und versuchen Helena, die immerhin der Ursprung allen Übels gewesen ist, zu ermorden. Die Gewaltspirale ist auf dem Weg eine weitere Umdrehung zu vollführen. Doch da erscheint erneut Apoll als ziemlich genervter Gott. Er spricht Elektra und Orest frei und bringt die Geschichte ohne Begeisterung zu einem positiven, aber halbherzigen Ende.
Mögliche Vorbereitungen
Über Referate oder als vorbereitende Hausaufgabe
- Aischylos: Orestie (Inhalt)
- Sophokles: Elektra (Inhalt)
- Euripides: Orest (Inhalt)
- Recherche zum Zustand aktueller Demokratien (z.B. Israel, USA, Deutschland, u.ä.)
Im Unterrichtsgespräch
- Welche Gefahren bestehen für eine Demokratie?
- Wie kann sie den Gefahren begegnen?
- Wann kippt eine Demokratie hin zu einer Diktatur?
Speziell für den Theaterunterricht
Die Vorstellungen von „Orestie I-IV“ eignen sich unbedingt im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem postdramatischen Theater.
Als vorbereitende Hausaufgabe, als Referat oder Vortrag der Lehrkraft:
Was versteht man unter postdramatischem Theater? Worin unterscheidet es sich vom traditionellen dramatischen Theater?
Diskussion
Die Spielleitung teilt die Gruppe ein in
A: Verfechter des postdramatischen Theaters
B: Gegner der postdramatischen Theaters
einen Moderator/eine Moderatorin
Aufgabe:
Bereitet in euren Gruppen kurz ein paar Argumente vor, ebenso eine mögliche Reihenfolge bei der anschließenden Diskussion.Der Moderator/die Moderatorin bereitet ein paar Thesen und provokative Fragen vor (10 Min. max.)
Der Moderator/die Moderation eröffnet mit einer These und damit die Diskussion zum postdramatischen Theater. Die Mitglieder der Gruppe A und B gehen jeweils auf die Fragen und die Argumente der anderen Gruppe ein
Erarbeitung einer Szene
Das postdramatische Theater löst u.a. feste Figuren auf, indem mehrere Spielende die Rolle einer Figur übernehmen, die Figur verdoppelt oder vervielfacht wird.
Die Spielleitung teilt die Gruppe in Gruppen zu sechs Personen ein.
Aufgabe:
- Erstellt aus dem nachfolgenden Auszug eine Szene im Stil des postdramatischen Theaters, in der er die Figur der Elektra auflöst: d.h. sie soll in dieser Szene von verschiedenen Personen und von zwei oder mehreren Personen gleichzeitig gespielt werden.
- Die Textstellen dafür könnt ihr selbst auswählen.
- Die Passagen des Chors sollten chorisch von den übrigen Mitgliedern der Gruppe gesprochen werden.
- Alle Textpassagen dürfen gekürzt und auch in eine neuere Sprache umgesetzt werden.
- Überlegt euch, wie die Szene aufgebaut ist: Wo steht der Chor? Wie bewegt er sich?
- Wie geschieht der Wechsel , die Doppelung der Elektra-Figuren? Wie stehen sie zum Chor? Wie bewegen sie sich?
Präsentation, Feedback und anschließende Überlegung: Welche Wirkung erzielt diese Art der Figuren-Darstellung?
Text:
Der nachfolgende Auszug aus Sophokles’ „Elektra“ zeigt Elektra im Streit mit dem Chor.
(…)
Chor: So will ich dir denn alles sagen, was ich weiß. Sie haben vor, stellst du nicht ein dein Wehgeschrei, dorthin dich zu verschicken, wo du niemals mehr der Sonne Licht erblicken sollst, nein, lebend in gewölbter Gruft, entrückt der Heimat, Klagearien singen magst. Bedenke dies und laste später nie das Leid mir an, das du erlitten! Denn Vernunft tut nunmehr not!
Elektra: Mir dieses anzutun ist also ihr Beschluss?
Chor: Gewiss, sobald Aigisthos heimgekommen ist.
Elektra: Ist’s weiter nichts, so komme er in Eile her!
Chor: Was wünschtest du, Unselge, da auf dich herab?
Elektra: Dass er nur komme, wenn dergleichen er zu tun gedenkt.
Chor: Damit dir was geschieht? Wo steht dir nur der Kopf ?
Elektra: Damit von euch ich möglichst weit entfliehen kann.
Chor: Und ist dein Leben hier dir nicht der Rede wert?
Elektra: Schön ist wahrhaft mein Leben, zum Erstaunen schön!
Chor: Nein, wäre es, wenn du verstündest, klug zu sein.
Elektra: Das lehr mich nicht, zu meinen Lieben schlecht zu sein!
Chor: Ich lehr dich’s nicht, nur, dich den Mächtigen zu beugen.
Elektra: Kriech du nur so! Was du da vorschlägst, ist nicht meine Art.
Chor: Doch trefflich ist es, nicht durch Unverstand zu fallen.
Elektra: Wenn es denn sein muss, falle ich, den Vater rächend.
Chor: Doch wird, ich weiß, der Vater dies verzeihn.
Elektra: Das sind die Reden, die nur Feige loben!
Chor: So hörst du nicht auf mich und pflichtest mir nicht bei?
Elektra:. Nein! Möge nie ich so vernunftlos sein!
Chor: So geh ich weiter den mir anbefohlnen Weg.
(…)