Mittagsstunde

Im Thalia Theater wird die Musik zum Angelpunkt einer sensiblen Inszenierung von Dörte Hansens Roman

Cathérine Seifert (Marret) mit Band – Foto: Armin Smailovic

DIE KRITIK

Dörte Hansens Romane haben Konjunktur. Ihre Warmherzigkeit und Menschlichkeit, die ganz ohne Schnörkel auskommt, berührt und bietet Anreize, sie auch im Film oder Theater umzusetzen. Nach einer auf der ganzen Linie missglückten Fernsehfassung von „Altes Land“ ist jetzt Lars Jensens Verfilmung der „Mittagsstunde“ in die Kinos gekommen. Bereits im letzten Jahr  hatte das Thalia Theater mit „Mittagsstunde“ die Nach-Corona-Spielzeit eröffnet und man fragte sich, ob eine Bühnenfassung dieses wunderbar behutsamen Romans gelingen könnte. Schließlich reden Hansens norddeutsche Figuren wenig, was sie bewegt, spielt sich vor allem in ihrem Inneren ab.  Es sind Menschen wie das Ehepaar Sönke und Ella Feddersen, das einen Gasthof in Brinkebüll betreibt und stillschweigend akzeptiert hat, dass der Vater von Ellas Tochter Marret eben nicht Sönke, sondern der Dorfschullehrer Steensen ist. Es sind Menschen wie Heiko Ketelsen, der stoisch und ohne zu heulen die Schläge seines Vaters erträgt. Auch das Dorf muss ertragen. Die Flurbereinigung zerstört alte Strukturen, entwurzelt die Menschen. Die neue Zeit walzt die Natur platt und nur „der Wind ist immer noch der alte.“ 

Musik wird zum Angelpunkt

Wie erzählt man das auf der Bühne?  Indem man die Musik zum Angelpunkt macht und ein Ensemble zu Verfügung hat, das sich nicht nur blitzschnell von einem jungen in einen alten Menschen verwandeln, sondern das auch famos singen und musizieren kann. Unterstützt wird es von einer großartigen Live-Band (Volker Zander, Tobias Levin, Martin Wenk, Henning Wandhoff, Dinesh Ketelsen). Anna-Sophie Mahler, selbst Musikerin und Opern-Regisseurin, hat in Abstimmung mit Dörte Hansen eine kluge Fassung geschrieben und inszeniert. Ausgangspunkt sind die Schlager der 50er Jahre. Mit ihnen ist Marrets Sohn Ingwer (Thomas Niehaus) groß geworden, sie verfolgen und quälen ihn bis heute. Niehaus, meist am Bühnenrand, singt und spielt sie an, kommentiert sie als Erzähler mit beißendem Humor und macht damit gleichzeitig auch die Verlorenheit seiner Figur deutlich. 

Ingwer kehrt zurück

Denn Ingwer hat vor mehr als zwanzig Jahren das Dorf (und damit die Schlager) verlassen, in Kiel promoviert, wo er immer noch in seiner alten Studenten-WG lebt, aber keinen Halt gefunden hat. Gegen die Schlager hat er Neil Young gesetzt. Dessen Songs hört er rauf und runter, wenn er von Kiel nach Brinkebüll fährt – seine Art von Abgrenzung. Ingwer  kehrt er zurück, um seine alten Großeltern Sönke (Bernd Grawert) und Ella (Christiane von Poelnitz) zu pflegen. 

Ein Holzkarren mit Strohballen, dazu ein Tresen symbolisieren das alte Brinkebüll (Bühne: Katrin Connan), in dem Marret (Cathérine Seifert) immer wieder den „Untergang“ prophezeit. Tatsächlich zeichnet er sich ab: Die Musik zerbricht, projizierte Gitter verwandeln die nunmehr düstere Bühne in eine seelenlose Karte oder ein Gefängnis und behelmte Männer erscheinen als drohende Vorboten einer neuen Zeit am Bühnenrand. 

Verletzt wie die Figuren ist auch das Land

Über die Musik gelingt es Mahler, die verschiedenen Zeitebenen des Romans miteinander zu verknüpfen und den Figuren bei allem Humor ihre Verletz- lichkeit zu lassen. Es bricht einem das Herz, wenn Björn Meyers Heiko Ketelsen mit Cowboy-Hut und Fransenjacke im Line-Dance die Spuren seiner empfangenen Schläge mit einem stolzen „Nicht geheult“ kommentiert. 

Verletzt wie die Figuren ist auch das Land. Von den Kastanienbäumen sind nur noch die Stümpfe übrig. Mit diesem Bild und mit seiner Balance zwischen Humor und Melancholie erinnert „Mittagsstunde“ an Tschechows „Kirschgarten“. Ein großer, berührender, unbedingt gelungener Abend.

https://www.thalia-theater.de/stueck/mittagsstunde-2020

 

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Strukturwandel auf dem Land
  • Verletzungen des Landes, Verletzungen der Figuren; dabei Einbettung der Schicksale in einen größeren Zusammenhang
  • Rolle der Musik (Schlager der 50er Jahre vs Neil Young)
Formale Schwerpunkte
  • Einsatz von Musik zur Unterstützung der Erzählung
  • Rolle und Funktion eines Erzählers
  • Wechsel der Figuren durch Körperhaltung
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre/ Jahrgangsstufe 10
  • geeignet für den Theater, – Musik-, und Deutschunterricht
Zum Inhalt

Ingwer Federsen hat vor Jahrzehnten sein Heimatdorf verlassen, um in Kiel zu studieren, zu promovieren und dort an der Uni zu arbeiten. Jetzt ist er fast 50, lebt aber lebt immer noch in seiner alten Studenten-WG und bekommt sein Leben nicht so recht auf die Reihe. Um dem abzuhelfen, vor allem aber, um seine Großeltern zu pflegen, kehrt er jetzt nach Brinkebüll zurück. Dort hat sich seit der Flurbereinigung einiges verändert: Kleine Felder sind zu großen Ackerflächen zusammengefügt worden, eine asphaltierte Landstraße, auf der man richtig rasen kann, durchschneidet das Dorf. Schon lange vorher hatte Marret Feddersen, Ingwers Mutter, prophezeit, „De Welt geht dünner“, was ihr den Spitznamen Marret   Ünnergang eintrug. Aber Marret, die Gutgläubige, Naive, die damals im Dorfkrug ihrer Eltern so gerne Schlager gesungen und die einer der Landvermesser ausgenutzt und geschwängert hatte, ist verschwunden. Sie kann de alten Eltern nicht pflegen, also fühlt sich Ingwer in der Pflicht. Schließlich hatten Sönke und Ella Feddersen sich stets um ihn gekümmert, als er noch klein und seine Mutter Marret nicht ganz zurechnungsfähig war. Angekommen in Brinkebüll setzt sich Ingwer mit seiner eigenen und der Vergangenheit des Dorfes auseinander: Zum Beispiel damit, dass seine Großmutter Ella in den Kriegsjahren Trost beim Dorfschullehrer gefunden hatte und Marret dessen Kind ist. Dass aber Sönke weiter zu seiner Frau gestanden hat und mit ihr die Goldene Hochzeit ganz groß feiern will.  Dazu wird es nicht mehr kommen, denn Sönke stirbt, Ingwer regelt  alles Notwendige und kehrt mit neuen Zielen nach Kiel zurück. 

Mögliche Vorbereitung
Vorlesen – Gehen – Stehen bleiben

Die Lehrkraft liest die Inhaltsangabe langsam vor, dabei steht die Gruppe in einer Reihe und geht während des Vorlesens langsam Schritt für Schritt voran. Jede*r bleibt an der Stelle stehen, die ihm/ihr interessant erscheint und nennt im Anschluss den Aspekt, bei dem er/sie stehen geblieben ist. Anschließend werden diese Punkte der Reihe nach abgefragt und auf einzelnen Zetteln notiert, auch wenn mehrere denselben Aspekt genannt haben, denn hier zeichnen sich bereits Schwerpunkte ab. Um den gesamten Inhalt zu erfassen, wird dieser Vorgang noch einmal wiederholt: Vorlesen – Gehen – Stehen bleiben – Stichwörter notieren.

Danach bietet sich die Möglichkeit, über diese Themen zu recherchieren und Diskussionen zu führen oder – im Theaterunterricht- mögliche Darstellungsformen zu überlegen.

Speziell für den Theaterunterricht
VORSCHLÄGE FÜR ÜBUNGEN
Rolle und Funktion von Musik im Theater: 

Die Gruppe wird in vier oder sechs Gruppen aufgeteilt, die eine Hätte (Gruppe 1,2, 3) bekommt den Auftrag, ein Standbild z.B.zum Thema Ankunft  zu erstellen, die andere Hälfte eines zum Thema Konflikt.

Bei der Präsentation werden die Standbilder mit drei unterschiedlichen Arten von Musik unterlegt. Die Zuschauer erklären im Feedback die jeweilige Wirkung.  Einführung der Begriffe paraphrasierend Musik  (unterstützt das Bild) und kontrapunktierende Musik (kontrastiert das Bild)

Bereits erarbeitete Szenen mit unterschiedlichen Musikstilen unterlegen, evtl. auch mit den Schüler:innen bekannten Liedern.

Bei der Präsentation auf Assoziationen zu einzelnen Musikstücken achten

Körperhaltungen und ihre Wirkungen: die sieben Energie-Level (Lecoq)

Einführung im Warm Up und Erproben in Gruppenarbeit

  • Level 1: der unterspannte Körper (nicht tot sein);
  • Der Körper zerfließt, hat keinerlei Spannung mehr.
  • Level 2: der entspannte Körper
  • Die Bewegungen sind rund, weich; keine Anspannung, Leichtigkeit, Bei-sich-sein
  • Level 3: der ökonomische Körper
  • Ökonomische, funktionale Bewegungen, wenig (neutrale) Spannung; keine runden Bewegungen, keine Absicht; es gibt weder Zuneigung noch Konflikt. Innere und äußere Spannung sind gleich. 
  • Level 4: der getragene Körper
    Die Körper sind offen, Mimik und Gestik ebenfalls; Neugier, zugewandt; weiche Bewegungen; 
  • Spannung: Innen hoch, außen weniger 
  • Es gibt nichts Bedrohliches, man ist bereit für alles; Konfliktlos; alle Sinne sind wichtig; man reagiert; Was stattfindet,  kommt aus dem Umfeld.
  • Level 5: der schwankende, unentschiedene Körper
  • Der Körper zeigt seine Unentschiedenheit; trifft dann eine Entscheidung, macht sie deutlich. 
  • Level 6: der überspannte Körper
  • Überspannung, totale Emotion, große Bewegungen.
  • Level 7: der maximal  muskulär gespannte Körper
  • (Der Körper ist maximal gespannt bis zur Bewegungslosigkeit („starr vor Schreck/Staunen/Bewunderung“)