Freundschaft, Ehe, Mafia,Rote Brigaden, Erdbeben und schreibendes Erinnern. Elena Ferrantes Roman ist ein dicht gewebtes Netz aus Figuren und ihren Handlungen. Aber kann das alles auf eine Bühne? Zu Ewelina Marciniaks Inszenierung am Thalia Theater.
Die Kritik
Elena Ferrante ist nur ein Name oder besser: ein Pseudonym. Dahinter verbirgt sich seit Jahren eine Schriftstellerin, die ihre Anonymität wahren will, um unbehelligt Romane über ihre Heimatstadt Neapel schreiben zu können. Dass sie damit einen Nerv getroffen hat, beweisen die mehr als 10 Millionen weltweit verkauften Bücher, allein 1,4 Millionen davon im deutschsprachigen Raum. Da scheint es nahezuliegen, dass sich dafür auch ein Theaterpublikum interessiert. Am Thalia Theater jedenfalls schien das die Überlegung zu sein, als man Ewelina Marciniak mit der Inszenierung von „Meine geniale Freundin“ beauftragte. Immerhin hatte die polnische Regisseurin am Nationaltheater Krakau bereits den ersten der vier Bände auf die Bühne gebracht, in Hamburg sollte es nun der letzte Teil mit dem Untertitel „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ sein. Eine nicht unproblematische Entscheidung, gibt es doch ein Themen- und Figurennetz, das mit jedem Band komplexer wird. Letzteres liegt auch an der Art der Erzählung. Ferrante setzt mit Elena Greco eine erwachsene Erzählerin ein, die aus der Erinnerung ihre Freundschaft mit Lila Cerullo beschreibt. Beide sind anfangs kleine Mädchen aus einfachen Verhältnissen, die in Nachbarhäusern des Arbeiterviertels Rione aufwachsen. Während Lila ihren scharfen Intellekt nicht für eine höhere Schulbildung nutzt und einen Mafioso heiratet, macht Elena Abitur und später als Schriftstellerin Karriere. Beide Frauen verbindet eine Art Hassliebe. Sie beäugen und beneiden sich, sie helfen einander, aber sie schaden sich auch wissentlich. Mit 66 Jahren ist Lila plötzlich unauffindbar, nachdem ihre Tochter auf ungeklärte Art verschwunden ist. Das bietet Elena den Anlass, über sich, ihre Freundschaft zu Lila und den Rione mit seinen Bewohnern nachzudenken.
Die Erzählerin vermischt Gehörtes, Ängste und Fantasien mit selbst Erlebtem und historischen Tatsachen.
Ewelina Marciniak, die am Thalia Theater schon „Der Boxer“, „Die Jakobsbücher“ und „Iphigenia“ inszeniert hat, verwebt in ihren Arbeiten häufig verschiedene Realitäten: Das konkret Nachweisbare verbindet sich mit Gedanken oder Träumen zu einer neuen Wirklichkeit. Ferrantes Stil kommt ihr da sehr entgegen. Denn auch ihre Erzählerin Elena vermischt Gehörtes, Ängste und Fantasien mit selbst Erlebtem und historischen Tatsachen und reflektiert dabei ihren Schreibprozess. Aber wie das alles auf die Bühne bringen? Wie diese Vielzahl an Figuren sinnvoll reduzieren und eine Geschichte erzählen, die auch diejenigen verstehen können, die Ferrantes Bücher nicht kennen? Sicherheitshalber sind im Programmheft schon mal die handelnden, auf neun reduzierten Figuren mit Foto und Kurzbeschreibung aufgeführt. Letztlich hilft das aber nicht wirklich.
„Ich habe mich von Männern erfunden gefühlt.“
Schon das Video am Anfang stiftet Verwirrung. Es greift auf den Schluss vorweg und zeigt Elena (Rosa Thormeyer) und Lila (Anna Blomeier), die sich wegen Lilas verschwundene Tochter streiten. „Wir sind für Kinder nicht geschaffen“, stellt eine von ihnen fest. Aha, es geht an diesem Abend also um die Frau, die ihr zugedachte Rolle als Mutter und Ehefrau und das Ausbrechen daraus. „Ich hab mich von Männern erfunden gefühlt“, erkennt auch Elena. Im Grunde sind das Marciniaks Themen, aber sie verheddert sich in der Vielzahl der Angebote, die die Romane bereit halten. Das Erdbeben, bei dem die glutrot ausgekleidete Bühne (Mirek Kaczmarek) zu wackeln beginnt, bleibt ohne Funktion ebenso wie einige der Figuren. Carmen Peluso (Meryem Öz) zum Beispiel mit ihrer Verbindung zu den Roten Brigaden hätte mehr verdient als nur Stichwortgeberin zu sein – oder man hätte sie weglassen müssen. Sicher, es geht um Elenas Erinnerungen und um das, was ihr wichtig erscheint. Einiges verzerrt sich und wirkt absurd. Dann tanzen die Figuren synchron (Choreografie Agnieszka Kryst) oder reihen einen Kalauer an den anderen im Stile von: „Du bist nicht nur der Hammer, du bist der ganze Werkzeugkasten.“ Rosa Thormeyer als Elena hat offenbar die Vorgabe zu erfüllen, eine temperamentvolle Neapolitanerin zu geben. Dass diese sonst so feinfühlig und differenziert agierende Schauspielerin hier verblüffend grob chargiert, ist ein Jammer. Anna Blomeiers Lila bleibt zurückhaltender, aber was diese beiden Frauen nun eigentlich verbindet, was ihr besonderes Verhältnis ausmacht, ist nicht zu erkennen.
Am Ende des dreistündigen Abends geht es zurück in die Wirklichkeit der Schriftstellerin Elena Greco. Adele Airota (unschlagbar komisch-souverän: Christiane von Poelnitz) präsentiert Elena und ihr neues Buch. Sie verspricht, dass Elena dem Publikum erklären werde, „worum es in dieser Geschichte eigentlich geht.“ Tja, das wäre interessant zu wissen.
Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/meine-geniale-freundin-2023
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- die Freundschaft zwischen zwei Frauen
- die tradierte Rolle der Frau
- der Umgang mit der tradierten Frauenrolle
- die Verwurzelung mit einem Stadtteil wie dem neapolitanischen Rione
- die Versuche der Loslösung von Stadtteil und Familie
- das sich erinnernde Schreiben
- die Vermischung von tatsächlicher und erinnerter und erträumter Wirklichkeit
Formale Schwerpunkte
- parallele Handlungen auf der Bühne
- Darstellung subjektiver Erinnerungen durch Choreografien
- Wechsel zwischen aktueller Wirklichkeit des Schreibens und erinnerter Wirklichkeit
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- 16 Jahre, ab Klasse 10
- empfohlen für den Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Die Geschichte beginnt mit dem letzten Band des Vierteilers „Meine geniale Freundin“. Die mittlerweile arrivierte Schriftstellerin Elena Greco trennt sich von ihrem Mann Pietro Airota, einem Universitätsprofessor, und zieht mit den gemeinsamen Töchtern aus der komfortablen Wohnung in Florenz zurück ins Rione, dem Arbeiterviertel in Neapel, in dem sie groß geworden ist. Dort ist sie Haus an Haus mit Lila Cerullo, der Tochter eines Schusters, aufgewachsen. Beide Mädchen sind intelligent, beide wollen den alten Strukturen entfliehen. Während aber Lila sich mit einem der Sa-Brüder aus der das Viertel beherrschenden Mafia-Familie einlässt, ihn heiratet und ein luxuriöses Leben führt, wird Elena nach ihrem Studium Schriftstellerin. Beide Frauen lieben den Intellektuellen Nino Sarratore. Lila verlässt seinetwegen ihren Mann und bekommt von ihm ein Kind, Elena verlässt Jahre später ebenfalls ihren Mann in Florenz, um mit Nino in Neapel zusammenzuleben. Im Rione treffen Lila und Elena wieder zusammen, beide erwarten ein Kind, Lila von ihrem Partner Enzo, Elena von Nino. Dieser ist jedoch nicht bereit, sich von seiner Ehefrau zu trennen. Er bleibt ein unsicherer Kandidat, der nur ab und zu zu Besuch kommt und dabei natürlich auf Lila und Elena trifft. Beide Frauen bekommen ungefähr zum gleichen Zeitpunkt Töchter, beide verstehen sich mittlerweile gut. Bei einem seiner Besuche nimmt Nino beide Mädchen mit auf einen Ausflug, bei dem aber Tina, Lilas Tochter, plötzlich verschwindet. Auch Jahre später weiß niemand, was tatsächlich passiert ist. Lila vermutet eine Entführung und meint, dass man ihre Tochter mit der Elenas verwechselt habe. Sie gibt Elena die Schuld an Tinas Verschwinden. Irgendwann verschwindet auch Lila, und Elena versucht über das Schreiben ihre seltsame Freundschaft zu ergründen.
Mögliche VorbereitungeN
Über Referate oder als vorbereitende Hausaufgabe:
- Inhalt von Elena Ferrante: „Meine geniale Freundin“ (Band 1 – 4)
- Darstellung der Beziehung der Figuren zueinander (Skizze)
- Recherche zu traditionellen Frauenbildern
- Die Wirklichkeit im Roman – das zuverlässige Erzählen
Speziell für den Theaterunterricht:
Die Inszenierung arbeitet mit Choreografien und Bildern, um Träume, Fantasien oder Erinnerungen darzustellen.
Erstellen von Bildern:
Die Gruppe geht zu einer von der Spielleitung ausgewählten Musik durch den Raum. Die Spielleitung oder auch wechselnde Mitglieder der Gruppe geben Begriffe vor und halten dazu kurz die Musik an. Die Gruppe führt dann die angesagten Begriffe aus (als Standbild oder in der vorgegeben Bewegung), löst sie auf ein Zeichen auf und geht dann wieder durch den Raum, bis ein neuer Begriff folgt. Möglich ist es auch, das gestellte Bild durch einen weiteren Begriff zu ergänzen. (s. auch das Methoden-Repertoire von Maike Plath: „Freeze“ & „Blick ins Publikum“, Beltz-Verlag, ISBN: 978-3-407-62775-9)
Folgende Begriffe (die die Gruppe geschlossen mit dem Blick ins Publikum ausführt) bieten sich an:
Familienfoto, Streit, Gehen in Zeitlupe, Tanzen in Zeitlupe/ im Zeitraffer; Winken in Zeitlupe/Zeitraffer o.ä.