Immer nur sie. Die Heldin, die Kämpferin, die Widerständlerin, vielleicht auch die Märtyrerin. Antigone – ja, aber wer kümmerte sich um ihre kleine Schwester? Wie hat sie die aufwühlende Zeit erlebt? Die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans gibt ihr in „Ismene, Schwester von“ eine Stimme. Mia Massmann und Thomas Cesbron haben den Monolog eindrucksvoll auf der Plattformbühne des Ernst Deutsch Theaters inszeniert.

Die Kritik
Sie hat sich vorgenommen, ihren Namen nicht auszusprechen. „Meine Schwester“ muss reichen, um die berühmte Antigone zu benennen. Für die war sie ohnehin nur „ein niedriges Wesen“. Nein, jetzt geht es mal um sie, Ismene, die kleine Schwester. „Meine Geschichte“ will sie endlich erzählen. Die Schauspielerin Nina Carolin sitzt irgendwie verloren auf der leeren Bühne der Plattformbühne, der Nebenspielstätte des Ernst Deutsch Theaters. Auf der ansonsten leeren Bühne steht nur hinten eine Kletterwand, unaufhörlich tropft es von der Decke. Die Pfützen auf dem Boden werden sich im Laufe des 70minütigen Abends zu veritablen Lachen ausweiten. Carolin verkörpert Ismene. Die dunklen, zu den Knien reichenden Zöpfe, der weiße federartige Rock, das Spitzenoberteil und die nackten Füße (Ausstattung: Nadin Schumacher) geben ihr etwas Mädchenhaftes, Unschuldiges. Seit dreitausend Jahren, meint sie, sei sie nun schon tot, habe keine Zukunft mehr und höchstens eine eingeschränkte Gegenwart, in der sie Hunde bellen hört und sich gegen Fliegen wehren muss.
In punkto Zeit nimmt die Vergangenheit den meisten Raum ein. Da ist in ihrer Familie passiert, was Menschen normalerweise schwer traumatisiert zurücklässt: Der Vater, Ödipus, hat ohne es zu wissen seine eigene Mutter geheiratet und mit ihr die Söhne Polyneikes und Eteokles und die Töchter Antigone und Ismene gezeugt. Nachdem er die Blutschande erkannt hat, sticht er sich die Augen aus und verendet irgendwo in der Wüste, die Mutter erhängt sich. Im Bruderkampf um Ödipus’ vakanten Thron erschlagen sich die beiden Söhne gegenseitig, wobei Polyneikes als Angreifer auf die Stadt nicht begraben werden darf. Das ist das Gesetz des neuen Machthabers Kreon, ein Onkel von Ödipus’ Kindern. Dagegen rebelliert Antigone und wird von Kreon mit dem Tod bestraft, ihr Verlobter Haimon ersticht sich vor Kummer. Übrig bleiben in dieser furchtbaren Familiengeschichte nur noch Kreon und Ismene.
Sie hätte gerne geheiratet und Kinder bekommen.
Die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans hat ihr in „Ismene, Schwester von“ eine Stimme gegeben und lässt sie aus ihrer Perspektive erzählen. Auf der Plattformbühne haben Mia Massmann und Thomas Cesbron den Monolog mit Nina Carolin als Ismene inszeniert. Ja, es ist eine Abrechnung mit einer Familie, in der nur die Lauten gesehen und die Stillen vergessen und schließlich im Stich gelassen werden. Dennoch vermeidet Carolin eine Wutrede, bleibt vielmehr überlegt, manchmal traurig, manchmal auch sarkastisch. Denn, sagt sie, natürlich hatte sie eine Sehnsucht nach Normalität nach all dem Irrsinn. Sie hätte gerne geheiratet und Kinder bekommen. Aber welcher Mann würde sich für eine Frau interessieren, die einen derartigen Fluch mit sich herumträgt? Deshalb ist sie eben allein geblieben, auch mit ihren Zweifeln und ihrem Zorn auf die Schwester, die für ihre Überzeugung den Tod auf sich genommen hat. „Ja, ich hasse sie! Jetzt ist es raus!“, ruft sie in einem seltenen Wutausbruch. Carolin legt sich in eine der Pfützen, spiegelt sich darin und überdenkt ihre damalige Haltung: „Kann man mir vorwerfen, dass ich nicht sterben wollte?“ Sie glaubt, dass die Götter ohnehin nur um das Schicksal der Menschen würfeln. Wer Pech hat, verliert eben, und Niederlagen müsse man akzeptieren.
Ismene steht an diesem Abend als die Überlegtere, die weniger Heißblütige und auch als die Emphatische da. Kreon, den die Macht zu einem Tyrannen hat werden lassen, ist außer ihr das einzig überlebende Familienmitglied. Sie hat nur noch ihn. Als er alt und gebrechlich wird, ist sie es, die ihn pflegt. Der Mann, der ihr die Schwester genommen und seine Macht ausgespielt hat – Geschichte. Was jetzt noch zählt, ist der Mensch.
Ein geglückter, nachdenklich stimmender und unbedingt sehenswerter Abend.
Weitere Informationen unter: https://www.ernst-deutsch-theater.de/programm/veranstaltung/ismene-schwester-von-435
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
Reflexionen über
- das Schicksalhafte, der Fluch
- den Sinn vom Sterben für eine Idee
- die Sehnsucht nach Normalität und Akzeptanz
Formale SchwerpunKte
- Monolog
- Spiegelung der Protagonistin in Wasserlachen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- Ab 16 Jahre, ab Klasse 10
- Dringend (!) empfohlen für den Deutsch- und Theaterunterricht.
Zum Inhalt
Aus der Perspektive von Antigone kleiner Schwester wird noch einmal die tragische Geschichte der Familie erzählt und reflektiert:
Ödipus, der als Kind von seinen Eltern ausgesetzt worden war, tötet auf dem Weg nach Theben einen Mann, der ihm den Weg versperrt, und heiratet Iokaste, die Witwe des Königs. Dass der Mann der König von Theben und sein Vater war, erfährt er erst viele Jahre später, nachdem er mit seiner Mutter Iokaste vier Kinder; Polyneikes, Eteokles, Antigone und Ismene, gezeugt hat. Ödipus sticht sich die Augen aus und geht in die Wüste, Iokaste erhängt sich. Um den Thron kämpfen Eteokles und Polyneikes, der zuvor die Stadt verlassen hat. Beide kommen dabei ums Leben. Kreon übernimmt die Herrschaft und verfügt, dass Eteokles als Verteidiger der Stadt beerdigt werden darf, Polyneikes als Angreifer aber nicht. Wer sich nicht daran hält, wird mit dem Tode bestraft. Damit handelt er aber gegen das Gesetz der Götter, weshalb sich Antigone gegen Kreon auflehnt und Polyneikes begräbt. Sie wird zum Tode verurteilt, ihr Verlobter Hamon, Kreons Sohn, ersticht sich vor Kummer. Übrig bleibt Ismene. Sie würde gerne ein normales bürgerliches Leben mit einer eigenen Familie führen, aber durch ihre Geschichte ist ihr das nicht vergönnt. Mit Kreon bleibt sie alleine und pflegt ihn, als dieser alt und gebrechlich wird.
Mögliche Vorbereitungen
- Sophokles: Antigone (Lektüre oder sehr genaue Inhaltsangabe)
- Recherche zu: Der Fluch der Labdakiden
„Der heiße Stuhl“
Nachdem die Gruppe den genauen Inhalt der „Antigone“ kennt, kann die Lehrkraft drei Gruppen (A, B, C) bilden : A = Polyneikes, B = Eteokles, C = Ismene.
Aufgabe:
- Überlegt, wie eure Figur die Ereignisse erlebt haben mag.
- Setzt eine von euch gewählte Person auf den „heißen Stuhl“, auf dem sie Fragen der anderen Gruppe beantworten muss. Mitglieder eurer Gruppe können dabei mit Antworten einspringen.
- Überlegt euch Fragen an eine der anderen Gruppen (A fragt B, B fragt C, C fragt A.)
Nacheinander werden die drei Gruppen aufgerufen und jeweils befragt.
Die Ergebnisse werden am Ende besprochen.
Speziell für den Theaterunterricht
Perspektivwechsel
Die Spielleitung teilt die Gruppen A, B und C (A = Polyneikes, B = Eteokles, C = Ismene) ein.
Aufgabe:
- Schreibt für eure Figur in der Gruppe einen Monolog, in dem deutlich wird, wie eure Figur die Ereignisse erlebt hat.
- Erstellt anschließend eine Szene, in der ihr einzelne Sätze des Monologs auf verschiedene Spieler:innen verteilt.
- Präsentiert die Szene so, dass alle Spieler:innen als Gedanken einer Person erkennbar sind (Kostüme, Accessoires, Haltung, Verteilung auf der Bühne).
Präsentation und Feedback