Es gärt im Untergrund. Leute wie der Gutsbesitzer Puntila merken noch nicht, dass sie abgewirtschaftet haben. Aber die Uhr tickt. Ihre Zeit ist gekommen. Und über all dem steht das Lachen. Zu Karin Beiers spritziger, erst nach der Pause allzu ausufernden Inszenierung von Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ am Schauspielhaus.
Die Kritik
Die Zeiten sind schwierig. Einfach so tun, als sei gar nichts los und sorglos weitermachen wie bisher, geht nicht. Das galt 1940, als Bertolt Brecht vor den Nazis über verschiedene Länder geflohen war und dann in Finnland landete, das gilt heute mit Blick auf die aktuelle Weltlage nicht minder. Nach der erzählerischen Vorlage seiner Gastgeberin Hella Wuolijoki hatte Brecht im finnischen Exil das Stück „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ geschrieben und ihm einen Prolog vorangestellt. Sorglosigkeit sei dumm, betont er darin. Nur wer besorgt ist, sei klug. Vor dem Eisernen Vorhang im Schauspielhaus zitiert der Schauspieler Jan-Peter Kampwirth diese Eröffnung, in der es etwas holprig heißt: „Doch ist nicht überm Berg, wer nicht mehr lacht/ Drum haben wir ein komisches Spiel gemacht.“ Wer über etwas lacht, lässt sich nicht unterkriegen, ermächtigt sich und wird nicht zum Opfer. Insofern hat Karin Beier in ihrer Inszenierung alles richtig gemacht: Es gibt vor allem im ersten Teil bis zur Pause brüllend komische Szenen, gespielt von einem großartigen Ensemble, doch dazu später.
Irgend etwas braut sich zusammen oder hat sich schon zusammengebraut.
Denn eigentlich herrscht hier Endzeitstimmung. Die Bühne ist bis zur Brandmauer aufgerissen. Schwarz ist der Hintergrund, auf dem Projektionen von Vogelschwärmen (oder sind es Flugzeuge?) und Wolkenstürme wie in alten Wochenschauen zu erahnen sind (Video: Severin Renke). Ein abgeranzter Campingwagen mit den beiden Musikern Vlatko Kučan (Klarinette) und Jakob Neubauer (Akkordeon) steht irgendwo am Rand, das Skelett eines Hauses, Müllsäcke, ein umgestürzter Tisch und durcheinander gewirbelte Stühle (Bühne: Johannes Schütz) verstärken den trostlosen Eindruck. Auf einer Bank sitzt die Schmuggleremma (Josef Ostendorf), mit ihrer rötlichen Bluse der einzige Farbfleck in einer Welt, in der auch die Kostüme (Wicke Naujoks) schwarzweiß gehalten sind. Mit dünner Stimme singt Ostendorf die Songs (Musik: Jörg Gollasch) zu dem Stück, gibt ihnen etwas Zartes, Zerbrechliches und lässt sie schweben über der dunkelschweren Düsternis.
Irgend etwas braut sich zusammen oder hat sich schon zusammengebraut. Was genau es ist, weiß man nicht. Aus einem Kofferradio sind Aufmärsche, einpeitschende Stimmen (die von Hitler?) und martialische Gesänge zu hören. Aber man versteht nichts. Das Knarzen des Radios, der ständig gestörte Sender verhindern eine eindeutige Einordnung. Die Unklarheit macht aber das dräuende Unheil nur noch größer.
Das Brodeln unter der lustigen Oberfläche ist nicht zu überhören.
Einer lässt sich davon überhaupt nicht beeindrucken: Puntila, Gutsbesitzer, und, wie er nicht oft genug betonen kann, Besitzer von 90 Kühen. Ein Angeber, ein vor Kraft und Männlichkeit strotzender Typ und ein Säufer vor dem Herrn. Wenn Puntila betrunken ist, und das ist er meistens, weil das sein Lieblingszustand ist, gibt er sich leutselig, spielt den guten Kumpel, der keine Standesunterschiede kennt und sich mit allen verbrüdert. Sobald er aber „sternhagelnüchtern“ ist, vergisst er alles, was er vorher gesagt und getan hat, und wird zum gefährlichen, andere demütigenden Machtmenschen. Mit Joachim Meyerhoff ist diese zwiespältige Figur fantastisch besetzt. Meyerhoff gibt nicht den lallenden Betrunkenen. Ein lustiger Kauz scheint er zu sein, der mit den Aquavitgläsern („Hep! Hep!“) wahre Kunststücke vollführen kann. Er zeigt sich als Charmeur, wenn er sich an einem Tag gleich mit vier verschiedenen Frauen verlobt. An dieser Stelle sei kurz auf deren urkomische Darstellung durch männliche Ensemblemitglieder hingewiesen: Jan-Peter Kampwirth als braves Stubenmädchen, Josef Ostendorf als sehr körperliche Schmuggleremma, Michael Wittenborn als altjüngferliches Apotherkerfräulein und Maximilian Scheidt als dreistes Stubenmädchen. Alle vier übernehmen weitere Rollen im Wechsel und machen dieses Spiel zu einem wahren Fest. Doch das Brodeln unter der lustigen Oberfläche ist nicht zu überhören. Eben noch hat Meyerhoffs Puntila sich an seine Mitmenschen herangewanzt, ihnen den Arm um die Schulter gelegt und ins Ohr gesäuselt. „Bist du mein Freund?“, fragt er treuherzig seinen Chauffeur Matti. Kristof Van Boven spielt ihn als das genaue Gegenteil zu Puntila. Klar in Bewegungen und Ansagen gibt er seinem betrunkenen Herrn die Richtung vor und behält auch dann noch seine Haltung, wenn der ihn, kaum dass er nüchtern ist, demütigt und beschimpft. Denn Matti ist in Puntilas Augen eine Gefahr, ein „Roter“. „Ich will nicht länger wie ein Stück Vieh behandelt werden“, schreit er seinen Herrn an. Puuntilas Tage scheinen gezählt.
Puntila ist ein Auslaufmodell.
Leute wie er sind Wegbereiter ihres eigenen Untergangs, aber sie merken es nicht. So wie Tochter Eva. Bei Lilith Stangenberg ein Marilyn-Monroe-blondes Dummchen in Glitzerkleid, das es irgendwie spannend findet, sich mit dem Chauffeur Matti einzulassen und nicht den selbstverliebten Attaché (Jan-Peter Kampwirth) zu heiraten, wie es der Papa befiehlt. Der Klassenunterschied ist für sie nur ein Spielfeld, auf dem sie sich ein bisschen ausprobieren kann. Ob einer dabei verletzt wird, ist ihr egal. Dass Matti auch nach der geplatzten Hochzeit nicht das Gut verlässt, sondern stoisch wie das moralische Gewissen bleibt, beweist, dass ihm die Zukunft gehört. Puntila dagegen ist ein Auslaufmodell.
Diesen Aspekt erzählt die gut dreistündige Inszenierung nach der Pause recht ausführlich, was schade ist. Dadurch wird sie unnötig in die Länge gezogen und verwässert etwas.
Und dennoch lohnt sich ein Besuch unbedingt.
Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/herr-puntila-und-sein-knecht-matti
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- die zwei Seiten des Machtmenschen und die damit verbundenen Gefahren
- die herrschende Klasse als Verursacher eines drohenden Untergangs
Formale SchwerpunKte
In Anlehnung an Brechts episches Theater:
- Vorstellung eines Prologs
- auf den Bühnenhintergrund projizierte, den Szenen-Inhalt vorweg nehmende Überschriften
- Einbettung von Songs
- Einbettung von Erzählungen
- direkte Ansprache an das Publikum
- für das Publikum sichtbarer Rollenwechsel
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11 (da die Vorstellung mit gut drei Stunden sehr lang ist, sollten die Schülerinnen unbedingt vorbereitet werden!)
- empfohlen für den Deutsch- und Theaterunterricht.
Zum Inhalt
Herr Puntila ist ein wohlhabender Gutsbesitzer und gibt, wann immer es ihm möglich ist, mit seinen 90 Rindern an. Außerdem hat er eine schöne Tochter, Eva. Die will er, um seinen gesellschaftlichen Stand zu wahren, mit einem eher langweiligen und eitlen Attaché verheiraten. Puntila hat zwei Gesichter: Wenn er betrunken ist, gibt er sich als liebenswerten Zeitgenossen, der keinen Unterschied macht zwischen den sozialen Klassen. Im Suff verlobt er sich sogar gleichzeitig mit vier verschiedenen Frauen, hat das allerdings sofort vergessen, wenn er wieder nüchtern ist. In diesem Zustand mutiert er zu einem gewalttätigen, andere demütigenden Machtmenschen und zeigt damit offenbar sein wahres Gesicht. Tatsächlich geht es ihm hauptsächlich um sich selbst, alles andere interessiert ihn nicht. Zu spüren bekommt das vor allem sein Chauffeur Matti, den Puntila für einen „Roten“ und damit für eine Gefahr hält. Matti ist stark, selbst bei den schlimmsten Demütigungen verleugnet er seine aufrechte Haltung nicht. Für Eva ist er (in dieser Inszenierung) interessant, weil sie einmal durchspielen kann, wie es wäre, mit einem Mann seiner Klasse verheiratet zu sein. Sie nimmt das alles aber nicht ernst und achtet nicht auf Mattis etwaige Gefühle. Während im Brechtschen Original der betrunkene Puntila die Hochzeit mit dem Attaché abbläst, seine Tochter nun mit Matti verheiraten will und Matti daraufhin stolz das Gut verlässt, bleibt Matti in dieser Inszenierung und bleibt damit für Puntila eine Bedrohung. Dessen Klasse hat abgewirtschaftet.
Mögliche Vorbereitungen
- Lektüre oder ausführliche Inhaltsangabe zu Bertolt Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti
- Recherche zu Brechts Situation 1940/41
- Recherche zur Situation von Dichtern und Schriftstellern in Deutschland zwischen 1933 und 1940
- Recherche zu Brechts politischer Einstellung
- Recherche zur sozial-ökonomischen Schere in der aktuellen Gesellschaft und den daraus entstehenden Konsequenzen.
Im Unterrichtsgespräch
- Wie wird die untere soziale Schicht politisch wahrgenommen?
- Was muss sich ändern? Welche Möglichkeiten gibt es?
Speziell für den Theaterunterricht
Recherche zu Brechts epischem Theater: Herausarbeiten der wichtigsten Aspekte
Alternativ gibt die Spielleitung folgende Zusammenfassung aus:
Bertolt Brecht (1898 – 1956)
- gilt zusammen mit dem dt. Regisseur Erwin Piscator als Schöpfer des epischen Theaters
- will im Gegensatz zu Stanislawki keine Wirklichkeitstreue, keine Illusion
- will die Wirklichkeit als veränderbar darstellen
- vergleicht das Theater mit wissenschaftlichem Labor, in dem der Zuschauer an einem
- Forschungsexperiment teilnimmt und durch aktives Mitdenken selbstständig zu einer besseren Einsicht in gelangt
- Voraussetzung dafür: Distanz des Betrachters zum Geschehen
- macht Verfremdung des Altbekannten zur zentralen Kategorie des epischen Theaters
- entwickelt eine Reihe von Verfremdungseffekten, die die Einfühlung des Zuschauers verhindern und zur Auseinandersetzung sollen (z.B. angedeutete Räume für das Bühnenbild, mobile Requisiten wie Plakate mit Aufschriften zu Ort und Zeit, Projektionen u.ä.)
- fordert vom Schauspieler keine Identifikation mit der Rolle, sondern ein Vorführen, ein distanziertes Zeigen der Rolle. Der Schauspieler soll durch z.B. erzählende Momente und Songs aus der Rolle heraustreten und sich direkt an den Zuschauer wenden. Dadurch wird das Geschehen auf der Bühne kommentiert.
- Besprechung im Plenum
- Wenn möglich, sollte die Aufnahme einer typischen Brecht-Inszenierung gemeinsam angesehen und im Anschluss an die Einführung zu Brechts Theaterstil besprochen werden. Möglich sind die Szenen 1- 5 in z.B. Heiner Müllers Inszenierung von „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ am Berliner Ensemble auf Youtube.
Im Unterrichtsgespräch mit Kursen, die bereits theatererfahren sind (oder evtl. per Vortrag durch die Lehrkraft):
- Welche Elemente des epischen Theaters haben in heutigen Inszenierungen Eingang gefunden?
Anschließende Aufgabe:
Aufteilung des Kurses in Vierer- oder Fünfergruppen.
Inszeniert Kafkas Parabel „Heimkehr“ im Stil des epischen Theaters.
Heimkehr
Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind.
Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.
aus: https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/misc/chap029.html
Präsentation, Feedback und Besprechung der möglichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung.