Johanna

Heilige? Aktivistin? Hexe? Oder doch nur ganz normaler Alltagsmensch? In ihrer klugen, unterhaltsamen Inszenierung spürt Leonie Böhm zusammen mit drei Schauspielerinnen und einer Musikerin dem Mythos Johanna nach.

„Wir sind Johanna“ – Wiebke Mollenhauer, Fritzi Ernst, Maja Beckmann, Josefine Israel – Foto: Sinje Hasheider

DIE KRITIK

Es heißt, sie habe als Dreizehnjährige beim Schafehüten Stimmen gehört. Sie solle dem geschwächten König Karl zur Krone und Frankreich zum Sieg gegen die Engländer verhelfen. Johanna nimmt den Auftrag an und hat Erfolg: Karl wird gekrönt, sie kämpft weiter für den Sieg, gerät aber in Gefangenschaft und wird schließlich von der Inquisition als Hexe verbrannt. Erst Jahrhunderte später spricht der Papst sie heilig.

So geht die Legende. So etwas macht einen Menschen zum Mythos. Unter dem Titel „Die Jungfrau von Orléans“ schreibt Friedrich Schiller Ende des 18. Jahrhunderts eine „romantische Tragödie“, in der Johanna für den Kampf und das Volk jegliche Gefühle zurückstellt. „In rauhes Erz sollst du die Glieder schnüren, mit Stahl bedecken deine zarte Brust“, hatten die Stimmen befohlen. Und Johanna, die sich ausgerechnet in einen Engländer verliebt, entsagt ihrer Liebe, wird – nach Schiller – dadurch innerlich frei. Ihre Kräfte wachsen, sie entkommt der Gefangenschaft und fällt in ihrem letzten Kampf als Heldin.

„Ich bedarf in der Not einer Beschützerin.“

Wie umgehen mit so einem schon -zigmal erzählten und auf der Bühne gespielten Stoff? Leonie Böhm befragt ihn einfach. In der Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich und dem Malersaal des Deutschen Schauspielhauses Hamburg begibt sich die Regisseurin mit den Schauspielerinnen Josefine Israel, Maja Beckmann und Wiebke Mollenhauer (beide vom Schauspielhaus Zürich) sowie der Musikerin Fritzi Ernst auf die Suche nach dem Menschen Johanna. Was bedeutet es denn für  jemanden, eine so große Verantwortung zu übernehmen? Und wer oder was ist überhaupt der Feind? Zeilen aus Schillers Text werden hinterfragt und erhalten einen neuen, aktuellen Bezug. So zum Beispiel die Beschreibung des hundertjährigen Krieges. Josefine Israel zitiert daraus, als sie von einer spürbaren um sich greifenden Bedrohung spricht. „Ich bedarf in der Not einer Beschützerin“, lautet ihr Fazit. Aber wer soll das sein? „Wir sind Johanna“, erklärt Maja Beckmann und deutet auf ihre Mitspielerinnen. Vielleicht meint sie die Seiten einer einzigen Person, vielleicht aber auch unterschiedlich starke Frauen. In den Kostümen (Magdalena Schön, Helen Stein) ähneln sie einander. Zwar trägt jede eine andere Farbe – blau, rot oder gelb -, aber alle haben über ihren derben Röcken oder Hosen ein durchsichtiges Chiffon-Oberteil. Ebenso wie das helmartige Netz, das die Haare bedeckt, ein Zeichen für eine die Kraft überdeckende Zartheit. 

„Keine Ahnung, wie wir den Karren aus dem Dreck ziehen.“

Mit der Musikerin Fritzi Ernst (sie ist Teil der Hamburger Band Schnipo Schranke), deren schlichte stimmige Songs eine weitere Seite Johannas beleuchten, betreten sie summend die Bühne des Malersaals. Bleiche bis rosarote Äste, die wie Kraken oder Fangarme von oben herabhängen, lassen an einen Wald denken, in dem man sich fürchten könnte (Bühne: Zahava Rodrigo). Summen hilft gegen die Angst. Eine Angst, von der Josefine Israel als erste spricht. „Babies, we are lost“, singt sie und dann, wie um sich Mut zu machen, „Babies, we are loved“. Aber eine Lösung ist der Rückzug in eine heile Welt nicht. Wiebke Mollenhauer hat auch „keine Ahnung, wie wir den Karren aus dem Dreck ziehen“. Bis Maja Beckmann die Idee hat zu kämpfen. Am besten gemeinsam. In einer sehr lustigen Szene besteigen sie imaginäre Pferde und reiten los, aber mit solchen abgedroschen Kampfklischees kommt man natürlich nicht weiter. Wiebke Mollenhauer versucht schließlich in einer aus dem Ruder laufenden Vernichtungs-Folter-Fantasie zu zeigen, was sie mit dem Feind täte. Eine Johanna, die keine Gefühle, keine Empathie mehr zulässt („mit Stahl bedecken deine zarte Brust“). 

„Man kann nicht immer Johanna sein.“

Nur – wer genau ist der Feind? Böhm und ihr fantastisches Ensemble machen keinen konkreten Gegner aus. Ihr Feind ist „alles, was mir feindlich gesonnen ist“. Auch die eigene Angst und die eigenen Widerstände. Johanna (Wiebke Mollenhauer) kämpft schließlich gegen Johanna (Josefine Israel). Zunächst mit urkomischem Blockflöten-Fechten, dann im Ringkampf. Maja Beckmanns Johanna versucht es noch einmal alleine. „Du musst umwälzen des Unglücks Rad“, das ist ihr Auftrag. Sie will Verantwortung übernehmen, muss aber erkennen, dass das alles manchmal doch zu schwer ist. Erfahrungen, die jede und jeder von uns im Alltag mit eigenen Konflikten und Entscheidungen erlebt. „Man kann nicht immer Johanna sein. Alleine schon gar nicht“, erkennen die Johannas. Sie sind keine Heiligen. Keine Heldinnen. Nur ganz normale Alltagsmenschen, die sich so gut es geht bemühen. Ein großartiger, kluger und unbedingt sehenswerter Abend.

https://schauspielhaus.de/stücke/johanna

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte

Befragung des Mythos Johanna:

  • Wer ist Johanna? 
  • Was ist zu tun gegen die aktuelle Bedrohung?
  • Wer kann wie Verantwortung übernehmen?
  • Welche Widerstände gilt es zu überwinden?
Formale Schwerpunkte
  • Figurensplitting (drei Johannas)
  • Erproben von Zitaten aus Schillers Tragödie mit Hilfe von Improvisation, Rollenspiel, Songs
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre; Jahrgangsstufe 11
  • geeignet für Deutsch-, Ethik-und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Leonie Böhm und ihr Ensemble erzählen keine kontinuierliche Geschichte, sondern greifen Aspekte aus Schillers Tragödie heraus, um den Mythos Johanna zu befragen.

Schillers „Die Jungfrau von Orléans“ erzählt von der jungen Johanna, die eines Nachts beim Hüten der Schafe eine göttliche Stimme aus dem Dornbusch hört. Sie trägt ihr auf, Frankreich von den britischen Invasionstruppen zu befreien. In einem bereits hundert Jahre andauernden Krieg sind die Engländer weit nach Frankreich vorgedrungen, König Karl ist geschwächt, sein Heer kann er nicht mehr bezahlen. Als Johanna einem Landsmann mit einem Helm begegnet, erkennt sie das als Zeichen und begibt sich in die Schlacht. Sie führt das Heer zu Siegen und schafft es auch, König Karl auf ihre Seite zu bringen. Ein Sieg folgt dem anderen. Doch dann trifft Johanna im Kampf auf Lionel, einen Engländer, und verliebt sich in ihn. Sie, die geschworen hatte, keine Gefühle zu zeigen und sich ganz dem Kampf für das Vaterland zu widmen, wird schwach. Bei den Feierlichkeiten in Reims, wo Karl dank der Siege Johannas gekrönt wird, verurteilt sie ihr eigener Vater als Hexe. Johanna wird verbannt, Lionel hilft ihr, sie gerät dennoch in Gefangenschaft. Aber weil sie der Liebe zu Lionel entsagt und ihr eigenes Glück dem des Vaterlandes unterordnet, erhält sie übermenschliche Kräfte und kann sich aus der Gefangenschaft befreien. In einem letzten Kampf fällt sie und ist nun als Heldin wieder mit ihren Landsleuten versöhnt.

Mögliche VorbereitungeN
Über Referate, Gruppenarbeit oder im Unterrichtsgespräch :
  • Welche Probleme, Bedrohungen beschäftigen euch?
  • Gibt es Lösungsmöglichkeiten?
  • Was kann der Einzelne tun? 
  • Welche Schwierigkeiten, Hindernisse stellen sich?
  • Was macht Menschen zu Helden? zu Mythen?
  • Gibt es überhaupt Helden?
Über Vortrag oder Referat:
  • Jeanne d’Arc – Wer war das? Was sagt die Legende? Wie ist der Mythos künstlerisch verarbeitet worden?
  • Die Gruppe erhält die Aufgabe, Schillers Tragödie zu lesen oder sich über eine detaillierte Inhaltsangabe über deren Inhalt zu informieren.
Vorlesen – Gehen – Stehen – Bleiben

Die Spieler:innen  stehen in einer Reihe; die Spielleitung liest die Inhaltsangabe zu Schillers Tragödie vor; die Reihe geht langsam auf die gegenüberliegende Seite des Raumes zu; wann immer dem /der einzelnen Spieler:in etwas interessant vorkommt, bleibt er/sie stehen; nach dem Vorlesen nennt jede:r seinen/ihren Themenschwerpunkt, die auf Karten gesammelt werden; bei einem zweitem Durchgang können weitere hinzukommen.

Auf diese Weise werden Interessenschwerpunkte erkennbar, über die sich Diskussionen anschließen können.

Speziell für den Theaterunterricht

Vorlesen – Gehen – Stehen – Bleiben (s.o)

Zu den gesammelten Schwerpunkten lassen sich Standbilder oder Tableaus bauen. Die jeweiligen Gruppen präsentieren ihre Ergebnisse, die zuschauenden Gruppen  beschreiben, was sie gesehen und welche Wirkung die Bilder haben (z.B.: die Körperhaltung der Johanna-Figur: Was sagt sie aus? o.ä.)

Annäherung über das Kostüm

Nach dem Verlesen der Inhaltsangabe erhalten die Schüler:innen die Aufgabe, für Johanna ein Kostüm zu entwickeln (zeichnen oder darstellen mit Mitteln aus dem Fundus). Anschließend werden die Ergebnisse präsentiert und erläutert (z.B.: Johanna im weißen Kleid: unschuldig, zart; Johanna in schwarzer Ledermontur: kampfstark, brutal u.ä.). Auf diese Weise werden die verschiedenen Perspektiven auf die Figur deutlich.

Der heiße Stuhl

Ein:e Schüler:in setzt sich als Johanna  in die Mitte, alle anderen setzen sich im Kreis um sie herum und stellen ihr Fragen, die sie möglichst spontan beantworten muss. Mehrere Wechsel sind möglich. Dadurch ist eine Annäherung an die Figur/ an den Menschen Johanna möglich.