Der einsame Weg

Du hast nur ein Leben. Wenn du es richtig machst, reicht eines. Das war die Meinung der Designerin Coco Chanel. Wie man es richtig macht, verriet sie allerdings nicht. Und auch Schnitzler gibt in seinem Stück „Der einsame Weg“ dafür keine Anleitung. Aber er wirft Fragen auf. Zu Antoine Uitdehaags feinfühliger Inszenierung Inszenierung am Ernst Deutsch Theater.

ZUsammentreffen im Hause Wegrat (von li: Ulrike Knospe, Stephan Benson, Lennart Hillmann, Dirk Ossig, Linda Stockfleth) – Foto: Oliver Fantitsch

Die Kritik

Johanna (Linda Stockfleth) tanzt mit weit ausgebreiteten Armen, frei und ausgelassen. Alles scheint möglich, das ganze Leben liegt noch vor ihr. Und wie schön es zu sein verspricht! Die überlebensgroßen, impressionistisch anmutenden Landschaftsgemälde, zwischen denen Türen Aufbruch verheißen, nähren diese Hoffnung. Tom Schenk, Maler und Bühnenbildner, hat für Antoine Uitdehaags Inszenierung von Schnitzlers Stück ein ganz zauberhaftes, federleichtes Bühnenbild geschaffen. Bilder und Türen können verschoben und gedreht werden, ebenso die weißen Gartenstühle davor. Verheißungsvolle Natur kann durch die stumpfe Rückwand der Gemälde ganz schnell in einem beinahe klaustrophobischen Ort verwandelt werden. „Solange man jung ist, steht die Welt offen und vor jeder Tür fängt eine Welt an“, resümiert am Ende des Abends Stephan von Sala (Dirk Ossig). Da lebt Johanna bereits nicht mehr. Ihre Tür führte in den Freitod. 

Wie geht das mit dem Leben? Soll man das Absolute verlangen? Sich jede Freiheit nehmen und sich selbst verwirklichen? Ohne Rücksicht auf Verluste und andere Menschen? Oder geht man Kompromisse ein, bleibt rücksichtsvoll und übernimmt Verantwortung? Ursprünglich wollte Arthur Schnitzler sein Stück „Egoisten“ nennen, entschied sich dann aber doch für „Der einsame Weg“, unter dem es 1904 in Berlin uraufgeführt wurde. Tatsächlich beschreibt er darin Menschen, die einsame Entscheidungen treffen. Sie deshalb als Egoisten abzustempeln, würde sie jedoch zu eindimensional erscheinen lassen. Gerade Schnitzler ist ja ein Dichter, der in die Psyche oder besser: Seele seiner Figuren eintaucht und sie dadurch zu vielschichtigen, interessanten Charakteren macht, deren Werdegang und Gedanken man mit Spannung verfolgt. 

„Wer kümmert sich denn überhaupt um die anderen?“

Dem niederländischen Regisseur Antoine Uitdehaag ist es gelungen, eben diese Spannung über zweidreiviertel Stunden (allerdings gibt es eine Pause) zu halten. Er macht mit seiner Inszenierung genau das, was mittlerweile so häufig ersehnt wird, nämlich auf der Bühne wieder eine Geschichte zu erzählen. Er vertraut dem wunderbaren Text, ändert nur hier und da etwas im Handlungsablauf. Es sind die „betrogenen Betrüger“, die er beobachtet. Menschen wie den Maler Julian Fichtner (Christian Nickel), der nach Jahren wieder an den Ort zurückkehrt, den er verlassen hat, um ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen. Es kümmerte ihn damals wenig, dass er damit seine Geliebte Gabriele, todunglücklich gemacht hat. Die war zwar schon mit einem anderen verlobt, hätte wohl aber für Fichtner alles aufgegeben. Jetzt, da er nach mehr als zwanzig Jahren wieder zurück ist, muss er erfahren, dass Gabriele (mit stiller Gelassenheit: Ulrike Knospe) nach schwerer Krankheit gestorben ist und er mit ihr einen gemeinsamen Sohn, nämlich den ans Sterbebett seiner Mutter eilenden Felix hat (unnachgiebig und bedingungslos: Lennart Hillmann). Seine Bemühungen um den „neuen“ Sohn bleiben erfolglos, Felix hängt sehr viel mehr an Gabrieles Mann, Professor Wegrat (abgeklärt: Stephan Benson), der ihn großgezogen hat. Wegrat mag den Betrug geahnt haben, aber für ihn stand und stehen Familie und Verantwortung an erster Stelle. Christian Nickels Fichtner tigert hin und her, versucht seine Haltung zu rechtfertigen und muss doch erkennen, dass er mit seinen Entscheidungen auch Irene Herms unglücklich gemacht hat (berührend in ihrer mühsam kaschierten Verzweiflung und aufgesetzten Heiterkeit:  Katharina Abt). Sie hatte sich damals ein Kind von ihm gewünscht und war verlassen worden.  Einer, der das alles wie von außen beurteilt, ist der todgeweihte Stephan von Sala. Dirk Ossig spielt ihn mit souveräner, bitterer Lässigkeit und einem Hauch von Zynismus. Ihm kann niemand mehr etwas vormachen, er muss auch niemandem mehr etwas beweisen. Diese Haltung fasziniert Felix’ Schwester Johanna, die sich in ihn verliebt und mit ihm gehen will. Allerdings ist sie bei Linda Stockfleths durchgängig eine bockige, patzige Göre, bei der sogar ein „Ich liebe dich“ wie eine Beschimpfung klingt. Warum sie ins Wasser geht, was sie überhaupt empfindet, bleibt unklar. (Dennoch ist die kurze Selbstmordszene eindringlich inszeniert: Johanna wirft alle Stühle um, legt sich hin und ein den gesamten Hintergrund einnehmendes Gemälde wird sichtbar). Nach einer vergeblichen Suche erkennen die Familie, inklusive Doktor Neumann (Oliver Warsitz), von Sala und Fichtner, dass sie tot ist. „Wer hat sie gekannt?“, fragt Felix aufgebracht. „Wer kümmert sich denn überhaupt um die anderen?“ Gute Frage. Ein unbedingt sehenswerter Abend.

Weitere Informationen unter: https://www.ernst-deutsch-theater.de/programm/veranstaltung/der-einsame-weg-337

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • das Recht auf Selbstverwirklichung vs Kompromisse und Verantwortung
  • die Folgen von Entscheidungen
  • Selbstbetrug
  • Betrogene Betrüger
Formale SchwerpunKte

realistische Spielweise

Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe

ab 17/18 Jahre, ab Klasse 11/12

empfohlen für Deutsch-, Philosophie- und Theaterunterricht

Zum Inhalt

Uitdehaags Inszenierung weicht inhaltlich in manchen Punkten vom Original ab. U.a. trifft der Maler Julian Fichtner seine ehemalige Geliebte Gabriele Wegrat nicht mehr an, als er gut 20 Jahre später in den Ort zurückkommt, den er verlassen hat und in dem sie jetzt mit ihrer Familie wohnt. Am Ernst Deutsch Theater wird die Geschichte folgendermaßen erzählt:

Der Maler Julian Fichtner kehrt nach gut zwanzig Jahren in den Ort zurück, in dem seine ehemalige Geliebte Gabriele wohnt. Damals hatte er sie verlassen, um sich als Künstler alle sich ihm bietenden Freiheiten zu nehmen und sich selbst zu verwirklichen. Nach seinem Weggang hatte Gabriele Professor Wegrat geheiratet, mit dem sie schon in ihrer Zeit mit Fichtner verlobt war. Etwa zur gleichen Zeit hatte Fichtner eine Affäre mit der Schauspielerin Irene Herms, die von seinem Verhältnis mit Gabriele nichts wusste. Sie hätte gerne ein Kind gehabt und muss erst jetzt bei ihrem Besuch in Fichtners Atelier erfahren, dass er er einen Sohn hat. Gabriele hatte damals ihre Schwangerschaft vor Wegrat verheimlicht, der dann das Kind als seinen Sohn Felix aufgezogen hatte. Gemeinsam mit Gabriele bekam er noch die Tochter Johanna. Wegrat scheint sich mit dem Betrug Gabrieles arrangiert zu haben. Jedenfalls macht er ihr keine Vorwürfe und spricht das Thema nicht einmal an. Felix, der als Leutnant in der Armee dient, ist nach Hause gekommen, um seine todkranke Mutter zu besuchen. Durch Andeutungen reimt er sich nach ihrem Tod zusammen, dass Fichtner sein biologischer Vater ist. Fichtner selbst wird mit dieser Tatsache durch seinen Freund Stephan von Salsa konfrontiert. Der hat seinerseits eine tödliche Krankheit, was ihn in eine besondere Position rückt: Er macht nur noch, was er will und nimmt auf niemanden mehr Rücksicht. Er schlägt Felix vor, mit ihm auf eine nicht ganz ungefährliche Expedition zu gehen, und auch Johanna soll ihn begleiten. Dafür würde er sie sogar heiraten. Johanna, ein junges, lebenslustiges Mädchen, soll zwar den Arzt Doktor Franz Neumann heiraten, findet von Salsa Angebot aber ungleich spannender. Sie willigt ein, erkennt jedoch auch, dass von Salsa nicht mehr lange leben wird und begeht Selbstmord. Fichtner und von Salsa erkennen, dass ihre Entscheidungen Unglück über andere gebracht haben.

   

Mögliche VorbereitungeN
Als Hausaufgabe oder über Referate
  • Lektüre oder Inhalt zu Arthur Schnitzler: Der einsame Weg
  • Biografie und Werk von Arthur Schnitzler (u.a. sein Verhältnis zur Psychologie)
Speziell für den Theaterunterricht
Vorlesen – Gehen – Stehen – Bleiben

Die Spieler:innen stehen in einer Reihe; die Spielleitung liest die Inhaltsangabe zu „Der einsame Weg“ vor; die Reihe geht langsam auf die gegenüberliegende Seite des Raumes zu; wann immer dem /der einzelnen Spieler:in etwas interessant vorkommt, bleibt er/sie stehen; nach dem Vorlesen nennt jede:r seinen/ihren Themenschwerpunkt, der auf je einer Karten gesammelt wird; bei einem zweitem Durchgang können weitere hinzukommen. Die Themenschwerpunkte werden ausgelegt.

Rollenbiografien erstellen

Die Spielleitung liest die Inhaltsangabe vor und  verteilt anschließend Karten mit je einem Figurennamen: Professor Wegrat, Gabriele Wegrat, Felix Wegrat, Johanna Wegrat, Julian Fichtner, Stephan von Sala, Irene Herms, Doktor Franz Reumann je nach Anzahl der Spielenden müssen mehrere Karten mit demselben Namen ausgegeben werden).

Aufgabe:

Erstellt eine Rollenbiografie zu eurer Figur. Überlegt euch anschließend für sie eine Körperhaltung, eine Gangart und eine Art zu sprechen.

Wählt ein Kostüm für eure Figur und begründet eure Entscheidung

Präsentation und Feedback

Im Anschluss kann die Gruppe überlegen, welche Personen aufeinander treffen sollen.

Daraus können kurze Szenen entwickelt werden zu einem Thema, das sich aus der Schwerpunktsetzung von „Vorlesen – Gehen – Stehen – Bleiben“ ergeben hat.   

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