„Das Tagebuch der Anne Frank“ ist heute aktueller denn je, der erstarkte Rechtsextremismus hierzulande und anderswo lässt Schlimmes befürchten. Es ist daher unbedingt zu empfehlen, sich Michael Schachermaiers Bühnenfassung und pointierte Inszenierung am Altonaer Theater anzusehen.
Die Kritik
Das sollte schon mal von Anfang an klar sein: Es geht hier nicht um ein Einzelschicksal. Was hier verhandelt wird, betraf seinerzeit viele Menschen. Jede:r der sieben Schauspieler:innen stellt sich deshalb mit „Ich bin Anne Frank“ vor, erst dann setzen sie sich – nun wieder ganz in ihren Rollen – um den festlich mit Blumen und Kerzen gedeckten Tisch. Vom Kronleuchter herab hängt eine aufblasbare 13 (Ausstattung: Malte Lübben), denn an diesem Tag, dem 12. Juni 1942, feiert Anne (Leyb-Anouk Elias) im Kreis von Familie und Freunden ihren 13. Geburtstag. Ein Geschenk ihrer Schwester Margot (Magdalena Suckow), das sie für immer unsterblich machen wird, ist das rotkarierte Tagebuch. Sie nennt es Kitty und wird fortan jeden Eintrag mit „Liebe Kitty“ beginnen.
„Die ganze Welt ist verrückt geworden.“
Schachermaier lässt in seiner Bühnenadaption die Figuren aus Annes Tagebuch lebendig werden: Dazu gehören neben ihr und der Schwester Annes Vater Otto (Benjamin Lew Klon), ihre Mutter Edith (Anne Schieber) , später die Familie Pels mit Vater (Nils Höddinghaus, auch als Zahnarzt Fritz Pfeffer) ), Mutter (Anne Schieber) und Sohn Peter (Len Bartens) sowie Victor Kugler (Markus Feustel), der die Familien im Versteck mit dem Nötigsten versorgt. Schachermaier gibt ihnen Dialoge, lässt sie aber auch Erzählpassagen sprechen. Kurz angerissen wird der Umzug in das Hinterhaus des Büros von Annes Vater, in dem die eigentliche Handlung spielt. Die jüdische Familie Frank muss sich vor den Nazis verstecken, um einer Deportation ins Konzentrationslager zu entgehen. „Die ganze Welt ist verrückt geworden“, stellt Anne fest.
Wie eine Erinnerung an glückliche Zeiten bleibt der Geburtstagstisch im Hintergrund stehen, an der Bühnenrampe wird ein zweistöckiges Gerüst an der Bühnenrampe mit Matratzen, Tischen und Stühlen nun zum eigentlichen Ort des Geschehens. Wenig Platz gibt es hier, an Privatsphäre ist kaum zu denken, zumal mit der Familie van Pels und schließlich dem Zahnarzt Fritz Pfeffer vier weiter Personen einziehen. Schwierig wird es auch, weil nur auf Zehenspitzen gegangenen, leise gesprochen und die Klospülung nicht benutzt werden darf. Ausnahme sind die Mittagspausen und die Zeit nach 18 Uhr, also dann, wenn im Büro niemand mehr ist.
„Ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen.“
Das Leben im Versteck ist zermürbend und monoton, es zerrt an den Nerven. Das Ticken eines Metronoms deutet an, wie langsam die Zeit vergeht. E-Gitarre und Schlagzeug (Musik: Christoph Kähler) geben dem Alltag seinen Rhythmus. Schachermaier lässt Handlungen wie Tisch decken, Essen ausgeben, essen, abdecken hintereinander wiederholen. Ein Klopfen, Scharren, Rühren und „Schscht!“Zischen steigert sich bis zur Eskalation. Dann gibt es wieder Momente der vollkommenen Stille, in denen die Personen rat- und hilflos vor dem stehen, was sie bedroht.
Leyb-Anouk Elias’ Anne ist trotzdem fröhlich, entwaffnend frisch und voll mit den Träumen und Hoffnungen eines jungen Mädchen. Eine Party in Hollywood als angehende Schauspielerin, eine filmreife Kussszene mit Peter van Pels gönnt ihr die Inszenierung und stellt sie der trostlosen Wirklichkeit gegenüber. Len Bartens zeigt Peter als einen sensiblen, schüchternen Nerd, der zwar ganz viel weiß, sich aber im Leben nicht zu einer tollen Liebeserklärung hinreißen lassen würde. Seine Mutter Auguste spielt Anne Schieber als schrille, verwöhnte Frau und stellt damit das genaue Gegenteil dar zu ihrer anderen Rolle als Annes eher stille, pragmatische Mutter, die sich mit dem pedantischen Zahnarzt auseinandersetzen muss.
Wie Annes Geschichte endet, ist bekannt. Kurz nach der Landung der Alliierten wird das Versteck verraten, Anne kommt im KZ ums Leben. „Ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen“, hatte sie ihrem Tagebuch anvertraut. Wenigstens das hat sich erfüllt. Schulklassen und alle anderen sollten sich die Inszenierung im Altonaer Theater ansehen. Es lohnt sich.
Weitere Informationen unter: https://www.altonaer-theater.de/programm/das-tagebuch-der-anne-frank/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Bedrohung durch Nationalsozialisten
- Leben im Versteck
- Hoffnung und Träume gegen Verzweiflung und Angst
Formale SchwerpunKte
Darstellung des Alltags durch
- Wiederholungen
- rhythmische, teilweise sich steigernde Klänge durch Alltagsgegenstände und/oder E-Gitarre
- stille, teilweise bewegungslose Momente
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 13/14 Jahre, ab Klasse 8/9
- empfohlen für den Geschichts-, Politik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Im Juni 1942 fliehen Anne Frank und ihre Familie vor den Nationalsozialisten von Deutschland nach Amsterdam. Dort können sie sich mit einer anderen jüdischen Familie bei Bekannten in deren Hinterhaus verstecken. Anne, ein lebensfrohes, energiegeladenes Mädchen, ist gerade 13 Jahre alt geworden. Ihre Leidenschaft gehört dem Schreiben, gerne möchte sie später als Journalistin arbeiten. Da sie in dem Versteck niemandem von ihren Gedanken und Gefühlen erzählen kann, erfindet sie sich eine Freundin namens Kitty, der sie in ihrem Tagebuch alles mitteilt, was sie bewegt. Sie erzählt von ihrer Neugier, der Spannung, mit der sie die neue Bleibe inspiziert und sich so gemütlich wie möglich macht. Von der Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt ist, weil sie nicht frei herumlaufen kann. Von der Dankbarkeit, immerhin doch ein bisschen in Sicherheit zu sein. Vom Streit mit den Eltern und dem dazu gekommenen Zahnarzt, mit dem sie ihr Zimmer teilen muss. Vom Verliebtsein und dem ersten Kuss von Peter. Zwei Jahre lang, bis zum August 1944 hält sie ihr Zweckoptimismus über Wasser, siegt immer wieder über ihre Angst und Verzweiflung. Sie erscheint in ihrem Tagebuch wie ein junges Mädchen, das wie alle ihre Altersgenossinnen zwischen Vernunft und Gefühlsstürmen hin- und hergerissen wird und das Träume und Sehnsüchte hat. Die letzte große Hoffnung, endlich wieder ganz normal und in Freiheit zur Schule gehen zu dürfen, scheint sich schon bald, im Oktober nämlich, zu erfüllen, als im August 1944 die Alliierten in der Normandie anlanden und sich der Krieg dem Ende neigt. Hier enden Annes Eintragungen. Anne und ihre Familie werden von der Gestapo aufgespürt und ins Konzentrationslager gebracht. Anne, ihre Mutter und die Schwester kommen dort um, der Vater überlebt. Annes Tagebücher werden in dem Amsterdamer Versteck gefunden, 1947 werden sie unter dem Titel „Die Heimatlosen“ in den Niederlanden veröffentlicht.
Mögliche Vorbereitungen
Im Internet findet sich für Lehrkräfte eine Reihe von Unterrichtsmaterial zu „Anne Frank“.
Darüber hinaus:
- Lektüre von „Das Tagebuch der Anne Frank“ (als Ganzschrift oder in Auszügen)
- Recherche zur Situation der Juden im Nationalsozialismus
- Recherche zu Hitlers Machtübernahme (Wie konnte es dazu kommen? Was charakterisierte die Gesellschaft der Weimarer Republik? Welche Gruppen stimmten für die NSDAP?)
- Recherche zu Goebbels Propaganda (Wie wurden bestimmte Gruppen zu Sündenböcken gemacht? Mit welchem Ziel? Wie wurden zu diesem Zweck Fakten verdreht?)
- Recherche zum Programm von Parteien wie der AfD in Bezug auf Migranten
- Recherche zum sogenannten Potsdamer Treffen.
- Recherche zum Wahlverhalten junger Leute ab 16 Jahre: Welche Gründe gibt es für den Rechtsruck?
Im Unterrichtsgespräch:
- Wo seht ihr Parallelen zwischen der Zeit vor 1933? Welche Unterschiede?
- Welche Wünsche habt ihr an die Politik?
Speziell für den Theaterunterricht
Zur Darstellung der unterschiedlichen Vorstellungen der Bewohner im Amsterdamer Versteck:
Palaver
Die Spiele:innen setzen sich zu zweit einander gegenüber und schließen die Augen. Dann beginnt jeder einfach draufloszureden, ohne auf den anderen einzugehen.
Auf diese Weise entsteht ein Klangteppich.
Der kann spezifiziert werden, indem das Thema für alle „Träume“ oder „Zukunftspläne“ ist.
- Variante 1: Einige Spieler:innen versuchen die anderen über Lautstärke zu übertrumpfen
- Variante 2: Ein:e Spieler:in geht herum und versucht mit den Sprechenden Kontakt aufzunehmen, indem er/sie diese anspricht und z:B. nach dem Weg fragt. Die Angesprochenen reagieren nicht.
- Variante 3: Eine:r der Angesprochenen hört auf zu sprechen und blickt die/den Fragende:n nur lange an, um sich dann dem Palaver wieder zuzuwenden.
Weitere Varianten sind vorstellbar.
Es empfiehlt sich, zwei oder drei Spieler:innen zuschauen und später die die jeweilige Wirkung besprechen zu lassen (zuschauende können wechseln).
Darstellung der Alltagsmonotonie durch rhythmische Klänge:
Bau einer Maschine
- Die Spielleitung lässt die Mitglieder der Gruppe durchzählen. Der Reihe nach treten sie auf die Bühne und bilden unter Ausnutzung aller drei Ebenen und verschiedner Rhythmischer Geräusche (schnalzen, klatschen, klopfe o.ä.) nach und nach eine Maschine.
- Sobald alle auf der Bühne stehen und die Maschine fertig ist, gehen die Spieler:innen in der Reihenfolge von 1 bis x wieder nacheinander ab, so dass am Ende der/ die letzte Spieler:in übrig bleibt.
Besprechung der Wirkung und er Einsatzmöglichkeiten für die eigene Szenenarbeit.