ANTHROPOLIS IV: Iokaste

Wie hoch sind die Erfolgschancen von Friedensverhandlungen, wenn sich zwei unversöhnliche Kriegsparteien gegenüberstehen? Roland Schimmelpfennigs Text und Karin Beiers Inszenierung spiegeln erschreckend die derzeitigen globalen Krisen. 

Foto: Thomas Aurin

Die Kritik

Da sitzen sie zu Dritt an einem langen Tisch und reden: „Es muss Frieden geben. Es muss Frieden geben können,“ wiederholt gebetsmühlenartig eine kahlköpfige Iokaste (Julia Wieninger). Links und rechts ihre beiden Söhne Eteokles (Maximilian Scheidt) und Polyneikes (Paul Behren), beide bis aufs Blut verfeindet, denn es geht um die Herrschaft in Theben. Sie sollen sich turnusmäßig abwechseln mit der Macht, so hatte es ihr Vater, König Ödipus, verfügt. Aber Eteokles, der zuerst dran war, will Bestehendes bewahren und ist nicht bereit, den Thron zu räumen. Polyneikes hat er vertrieben, doch der ist jetzt mit einem Heer zurückgekommen, um seinen ihm zustehenden Machtanspruch geltend zu machen. Ein Krieg Bruder gegen Bruder ist die Konsequenz.

Als hätten Schimmelpfennig und Beier diesen vierten Teil direkt nach den aktuellen „Tagesthemen“ geschrieben und inszeniert.

In „ANTHROPOLIS IV: Iokaste“ sind entfernt Raketeneinschläge zu hören, manchmal untermalt ein düsterer elektronischer Sound (Jörg Gollasch) das Geschehen, auf die schwarze Wand im Hintergrund werden die weißen Schatten der Akteure einfach oder vervielfacht projiziert (Video: Vox Bärenklau). Der Kampf um Theben ist im Heute angekommen. Inspiriert durch „Die Phoenikerinnen“ des Euripides, das ca 409/408 v. Chr. in Athen uraufgeführt wurde, hat Roland Schimmelpfennig diesen Text und die Tragödie „Sieben gegen Theben“ von Aischylos sprachlich in die Gegenwart geholt und bestehende Aspekte vertieft und ausgestaltet. Erschreckend deutlich werden Parallelen zu dem, was gerade in der Welt geschieht, ob zwischen Israel und Palästinensern oder zwischen Russland und der Ukraine.  Ganz so, als hätten Schimmelpfennig und Karin Beier diesen vierten Teil ihrer „ANTHROPOLIS“- Serie direkt nach den aktuellen „Tagesthemen“ geschrieben und inszeniert. Das geschieht ohne angestrengte Aktualisierungsbemühungen, es ergibt sich vielmehr zwingend aus den antiken Vorlagen. Einzelne Partien sind in Prosa verfasst. Sie enthalten Beschreibungen von zerstörten Krankenhäusern, von verzweifelten Menschen und zu engen Fluchtkorridoren. In diesen Momenten werden die Figuren zu Berichterstattern, die von sich selbst in der dritten Person sprechen und das Geschehen wie Korrespondenten aus der Distanz beschreiben. Die Handlung wirkt danach umso grausamer, absurder, die beiden verfeindeten Parteien umso unbelehrbarer. 

„Jetzt stellt euch das Leben vor eine Wahl.“

Hat denn Polyneikes gar nichts begriffen? Sicher, er ist zu Recht wütend auf seinen Bruder, der ihn aus Theben vertrieben und um den Thron gebracht hat. Aber rechtfertigt das einen Angriffskrieg, bei dem so viele Menschen sterben? Ist er wirklich der „Befreier“ und Theben „die Stadt der Blinden“? Auf der anderen Seite Eteokles. Der klebt an seinem Thron, wiederholt immer nur: „Und jetzt muss einer anfangen zu sprechen, auch wenn es nichts zu sagen gibt.“ Denn für ihn ist die Sache klar. Er bleibt König, mehr gibt es für ihn nicht zu sagen. 

Im Zentrum steht Iokaste, die Witwe von König Laios, die ahnungslos ihren eigenen Sohn, Ödipus, geheiratet und mit ihm vier Kinder bekommen hat: neben den beiden Töchtern Ismene und Antigone auch die Söhne Eteokles und Polyneikes. Iokaste ist in Schimmelpfennigs und Beiers Version eine sachliche, nüchtern denkende Frau. Sie hatte damals nur auf Drängen von Laios  ihren Sohn Ödipus verstümmelt und ausgesetzt, weil Laios an den Fluch glaubte, nach dem er von dem eigenen Sohn getötet werden würde. Sie hatte auch bis zuletzt nicht daran geglaubt, dass ihr zweiter Mann ihr eigener Sohn und der Mörder seines Vaters war. Jetzt, nachdem Ödipus sich geblendet hat und von den Söhnen eingesperrt worden ist, sitzt sie am Verhandlungstisch mit einem hitzköpfigen Polyneikes und vergleichsweise ruhigen Eteokles. Über ihnen kreist an einem Kran die Silhouette eines Bombers, weiße Quader bilden links das zugemauerte Haus von Ödipus, rechts sind sie Teile einer zerstörten Mauer (Bühne: Johannes Schütz). Julia Wieningers Iokaste bemüht sich um Verhandlungen, will Vernunft walten lassen. „Niemand hatte eine Wahl“, weiß sie und pariert damit die Anschuldigungen von Eteokles, nach denen sie, Laios und Ödipus die Stadt an den Abgrund gebracht hätten. Aber jetzt sei die Lage anders, sagt sie den beiden Söhnen: „Jetzt stellt euch das Leben vor eine Wahl.“  Sie könnten sich frei für eine vernünftige Lösung entscheiden. Dass beide auf ihren Ansprüchen beharren und nicht zu Kompromissen bereit sind, zeigt ein eindrucksvolles Bild am Ende: Beide stehen im Kampf verschlungen und blutüberströmt einander gegenüber. In dieser Pose verharren sie minutenlang. Im Hintergrund weint Kreon (Ernst Stötzner) um seinen jüngsten Sohn Menoikeus (Daniel Hoevels), der sich auf Anraten des Sehers Teiresias (Michael Wittenborn) für die Stadt geopfert hat. Kreons Drohung, den Aggressor Polyneikes und dessen Anhänger unbegraben vor den Toren Thebens liegen zu lassen, liefert den Link zu  „Antigone“, den letzten Teil dieser bis hierhin großartigen und klugen Serie. Was für ein Abend!

Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/iokaste

Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/iokaste

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Starre Positionen von Kriegsparteien und ihre Konsequenzen
  • Grenzen der Diplomatie
  • Verhandlungsbemühungen
  • Verknüpfung des privaten mit dem politischen Schicksal
Formale Schwerpunkte
  • Distanzierung der Figuren von der Handlung durch Berichte
  • Darstellung des Unausweichlichen durch Wiederholung des Anfangs am Ende
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe

ab 16 Jahre; ab Klasse 10/11

für Geschichts-, WiPo-, Deutsch – und Theaterunterricht 

Zum Inhalt

Roland Schimmelpfennigs Text ist inspiriert von „Die Phoenizierinnen“ des Euripides, einem Drama, das um ca 409/408 uraufgeführt und später in den Kanon der antiken Schullektüre aufgenommen worden ist. Eine andere Quelle ist die Tragödie „Sieben gegen Theben“ des Aischylos.

König Ödipus hatte erkennen müssen, dass die Prophezeiung des Orakels stimmte: Er hatte seinen Vater, König Laios erschlagen und dessen Frau, seine Mutter Iokaste, geheiratet ohne zu wissen, wer sie sind. Mit Iokaste hatte er vier Kinder gezeugt, die Töchter Antigone und Ismene und die beiden Söhne Polyneikes und Eteokles. Aus Verzweiflung über seine Schuld, die auch ursächlich für die Pest in Theben ist, hatte er sich beide Augen ausgerissen und war von seinen Söhnen in den Palast gesperrt worden. Theben sollte nun abwechselnd von Eteokles und Polyneikes regiert werden. Eteokles, der zuerst an der Reihe war, hatte seinen Bruder außer Landes geschickt, ist aber jetzt, da der Regierungswechsel ansteht, nicht bereit, die Macht abzugeben. Dies geschehe zum Wohle der Stadt, wie er meint. Daraufhin sammelt Polyneikes ein Heer und zieht damit gegen Theben. Er sieht sich als „Erneuerer“, der die Stadt von der konservativen Herrschaft seines Bruders „befreien“ will. Es kommt zum Krieg, Zerstörung, Tote und Flüchtlingsströme sind die Folgen. Um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, bittet Iokaste ihre beiden Söhne an den Verhandlungstisch. Ihr Ziel ist, dass es endlich zum Freden kommt. Allerdings scheitern ihre Bemühungen an den unverrückbaren Positionen der beiden Kontrahenten. Eine Lösung scheint sich dennoch anzubieten, allerdings ist sie religiöser, irrationaler Natur: Der blinde Schere Teiresias stiftet Iokastes Neffen Menoikeus an, sich freiwillig für Theben zu opfern, um damit die Zerstörung der Stadt zu verhindern. Menoikeus hört auf die fanatische Idee und opfert sich, Polyneikes und Eteokles sterben im Bruderkrieg, aber tatsächlich ist die Zerstörung der Stadt abgewendet. Kreon, der Vater von Menoikeus, wird der nächste Machthaber in Theben. Für ihn ist Polyneikes der Aggressor, ihm gibt er die Schuld am Krieg und speziell am Tod seines jüngsten Sohnes. Er verfügt, dass Eteokles und sein Heer in Ehren begraben werden,  Polyneikes und seine Anhänger aber unbestattet vor den Toren der Stadt den Vögeln zum Fraß dienen.

Mögliche VorbereitungeN
Über Referate, als vorbereitende Hausaufgabe oder in Gruppenarbeit:
  • Inhaltsangabe zu „Sieben gegen Theben“ von Aischylos
  • Inhaltsangabe zu „Die Phoenizierinnen“ von Euripides
  • Recherche zu den Positionen in aktuellen Krisenherden (Israel – Palästinenser; Russland – Ukraine)
Im Unterrichtsgespräch:
  • Welche Parallelen lassen sich zwischen den antiken Texten und den gegenwärtigen Krisen finden?
  • Welche Möglichkeiten einer Beendigung gäbe es? 
Speziell für den Theaterunterricht:
Vorübung:

Die Gruppe bewegt sich im Raumlauf. Auf ein Signal der Spielleitung bleibt jede:r stehen und findet eine Pose für das von der Spielleitung genannte entsprechende Wort: Zorn, Beleidigung Macht, Selbstgefälligkeit, Hilflosigkeit, Ausgleich, Fanatismus, Trauer, Angst, Flucht.

Bilder stellen

Die Spielleitung verteilt die Inhaltsangabe zu Schimmelpfennigs Text (s.o) oder zu den antiken Vorlagen und lässt Vierergruppen bilden.

Aufgabe:

Unterteil den Text in fünf Standbilder, die den Handlungsablauf widerspiegeln. Verbindet dann die Bilder durch eine langsame Bewegung in Zeitlupe (als wenn man bei einem Video auf „Play“ drückt) zu einer kontinuierlichen Abfolge.

Präsentation und Besprechung der Wirkung

Einen Text aktualisieren

Die Spielleitung verteilt den unten stehenden Textauszug aus „Sieben gegen Theben“.

Aufgabe:
  • Setzt diesen Text in die Sprache von 2023 um. Da es sich hier um einen Botenbericht handelt, könntet ihr euch vorstellen, dass ein Fernsehkorrespondent berichtet.  Das bedeutet, dass ihr die Situation an die Gegenwart anpasst. Ihr müsst den Text nicht Wort für Wort umsetzen, sondern könnt einiges auch zusammenfassen. Wichtig ist, dass die Grundaussage bestehen bleibt.
  • Präsentiert eure Neufassung zu einem der von euch gestellten Standbilder. 

Diskutiert über die jeweilige Schwerpunktsetzung und Wirkung.

Text:

Bote:
Eteokles, teurer König unsrer Kadmosstadt,
Vom Lager drüben bring ich sichre Kunde dir,
Ich selbst ein Augenzeuge dessen, was geschah:
Wie sieben Feldherrn, kampfgewaltig, mutentflammt,
Stieropfer schlachtend auf den schwarzgebundnen Schild
Und dann mit Stierblut jeder netzend seine Hand,
Bei Ares, bei Enyo, beim bluttrunknen Gott
Des Schreckens schwuren, unsre Stadt bewältigend,
Des Kadmos Feste ganz zu verwüsten oder, selbst
Dem Tod bestimmt, zu tränken unser Feld mit Mord.
Andenken dann daheim den Ältern hingen sie
Mit eigner Hand rings an Adrastos‘ Wagen auf,
Im Auge Tränen, sonder Klage jeder Mund.
Ihr eisenherzger, heiß in Kriegslust glühnder Mut
Schnob gleich den blutdurstblickenden, raubgereizten Leun. –
Und unverzüglich wird Gewißheit dessen dir;
Denn als ich fortging, losten sie, daß seinem Los
Gemäß an ein Tor jeder führte seine Schar.
Drum stelle du, Herr, unsrer Stadt erlesenste
Kriegsmänner eiligst bei den Torausgängen auf;
Denn Argos‘ Kriegsvolk, vollgerüstet, nahe schon
Anrückt’s, heranstäubt’s, und das Feld rings überwirft
Der Rosse Schnauben tropfenhaft mit weißem Schaum.
Du aber, König, gleich dem weisen Steuermann
Beschirm die Stadt dir, eh sich auf sie stürzt der Sturm
Der Schlacht; denn herbraust rings des Heers Landwelle schon.
So schnell wie möglich nutze jetzt die rechte Zeit;
Auch ich bewähre ferner dir ein eifriges,
Treuspähndes Auge, daß du durch mein Wort belehrt,
Was draußen vorgeht, ungefährdet könnest sein.
(Ab)

aus: https://www.projekt-gutenberg.org/aischylo/sieben/sieben1.html