Ajax und der Schwan der Scham

Heldinnen und Helden werden gefeiert. Odysseus zum Beispiel. Den kennt jeder. Aber Ajax? Keine Ahnung. Die US-Schauspielerin Natalie Portman hält strahlend ihren Oscar für „Black Swan“ in die Kamera. Und was ist mit ihrem Double, das für sie die Tanz-Szenen absolviert hat? Verschwindet in der Versenkung. Ruhm und Hybris auf der einen Seite, Demütigung und Rachegedanken auf der anderen. Am Thalia Theater haben sich Christopher Rüping und sein Ensemble haben sich in „Ajax oder der Schwan der Scham“ mit diesen Fragen auseinandergesetzt. 

Blutrache. (v.li: Nils Kahnwald, Maja Beckmann) – Foto: Krafft Angerer

Die Kritik

Das mit dem Schwan kommt später. Erstmal geht es in „Ajax oder der Schwan der Scham“  um die Titelfigur, einen um seinen Ruhm betrogenen Kämpfer, einen ewigen Zweiten. Sophokles hatte ihm im 5. Jahrhundert v. Chr. zwar eine Tragödie gewidmet, aber sie geriet im Gegensatz zu den bis heute präsenten „Antigone“ und „König Ödipus“ in Vergessenheit. Nicht so bei Regisseur Christopher Rüping. Zusammen mit einem fünfköpfigen Ensemble untersucht er aus heutiger Sicht, das, was er den „Ajaxkomplex“ nennt. Grundlage blieb Sophokles’ Drama. 

Die Geschichte ist schnell erzählt: Ajax kämpft im Trojanischen Krieg für die Gemeinschaft und bringt nach dem Sieg den Leichnam Achills sowie dessen Rüstung nach Hause. Aber nicht er bekommt dafür die entsprechende Anerkennung, sondern der charismatische Odysseus. Ajax, gedemütigt und verletzt, schwört blutige Rache an allen Heerführern, was aber die Göttin Athene zu verhindern weiß. Sie schlägt ihn mit Wahnsinn, und Ajax tötet statt der Heerführer deren Vieh. Als der Wahn verfliegt, erkennt er seine Schande und schämt sich im Wortsinn zu Tode, indem er sich nämlich in sein Schwert stürzt.

„Eine Second-Hand-Rüstung, du Spacken?“

Muss sich Ajax wirklich für seine Tat schämen? Trägt er dafür die Verantwortung oder war er nicht eher eine Marionette der Göttin? Diese Fragen führten Rüping und Ensemble dazu, darüber nachzudenken, wer denn heute für was verantwortlich gemacht werden kann, wenn beispielsweise über KI oder andere Tricks Personen und Handlungen manipuliert werden. Die US-Schauspielerin Natalie Portman war für ihre Rolle in „Black Swan“ mit dem Oscar belohnt worden, aber die Tanz-Szenen hatte ein Double ausgeführt, das im Abspann des Films lediglich unter ferner liefen erwähnt wurde. Wie Ajax wird das Double nicht gewürdigt, der Star dagegen mit Ruhm überschüttet. 

Die Parallele mag in dieser Hinsicht einleuchten, so ganz geht der Vergleich bei Rüping jedoch nicht auf, die Inszenierung zerfällt dadurch in zwei Teile. Das mag allerdings durchaus gewollt sein und am Stil des Regisseurs liegen, der sich jeglicher Identifikation verweigert: Die Schauspieler:innen halten Distanz zu ihren Rollen, improvisieren, geben der Bühnentechnik Anweisungen, kommentieren den Gang der Handlung, nehmen direkten Kontakt zum Publikum auf. So wird immer deutlich, dass hier ein Spiel demonstriert und damit – wie bei Brecht – zur Diskussion gebracht wird. Schon mit der Besetzung wird das in dieser Inszenierung deutlich: Maja Beckmann übernimmt die Rolle des Ajax und wird im Laufe des gut zweistündigen Abends auch als weibliche Person angesprochen. Ähnlich ist es bei Hans Löw, der die Rolle von Ajax’ Frau Tekmessa spricht. Nils Kahnwald als Odysseus und Maike Knirsch als Göttin Athene kommentieren ihre Rollen ebenso wie Pauline Rénevier, die im „Black-Swan“-Teil die Rolle der Sarah Lane als Portmans Tanz-Double zeigt. Diese Art der Inszenierung ist einerseits durchaus  amüsant, etwa wenn Nils Kahnwald als Odysseus die Rüstung widerspruchslos an Ajax zurückgeben will und Maja Beckmann das mit den Worten „eine Second-Hand-Rüstung, du Spacken?“ zurückweist. Manches wirkt jedoch bemüht, teilweise sogar zäh (was die Spieler:innen durchaus selbst formulieren). Da wird ein Prospekt mit einem Bild zum Trojanischen Krieg hochgezogen (Bühne: Jonathan Mertz), zu dem Maja Beckmann dem Publikum Fragen stellt und  die Antworten nur spärlich kommen. Oder wenn sie die Odysseus-Figur zu brachialen Industrial-Klängen (Musik: Christoph Hart) eimerweise mit Blut überschüttet („Ich sag, wenn’s reicht!“), um Ajax’ Raserei und seinen Ehrgeiz zu demonstrieren. „Ich war’s nicht“, sagt sie später, wäscht unter der Dusche alles Blut ab und stürzt sich eben nicht in ein Schwert. „Spring!“ ruft ihr Odysseus zu. „Nö!“ antwortet sie – und da tritt eine ihr täuschend ähnlich gestylte Pauline Rénevier auf, die sich als Double anbietet.

Mit dem Gesicht von Natalie Portman. (Pauline Rénevier) – Foto: Krafft Angerer

Zur Verblüffung aller (auch des Publikums) trägt sie auf dem hereingerollten Bildschirm im Live-Video (Lill Thalgott. Linda Verweyen) das Gesicht von Natalie Portman und erzählt von ihrer „Black-Swan“-Demütigung. Portmans Gesicht wandert auch auf das von Maja Beckmann, deren Gesicht auf das von Rénevier, womit eine etwas angestrengte Parallele zwischen den beiden Figuren gezogen wird. Am Ende erscheint vom Schnürboden her Maike Knirsch im Adler-Kostüm (Kostüme: Lene Schwind) als Göttin Athene. Sie bekommt das Gesicht von Maja Beckmann projiziert und stürzt sich an ihrer Stelle in den Tod. Wirklich? Das Publikum sieht den Filmtrick: die Kamera und die senkrecht hereingeschobene Matte, die den Sturz echt aussehen lässt.  Die Verursacherin von Ajax’ Handlung und der darauffolgenden Scham hat scheinbar die Verantwortung übernommen. Eine schöne Idee – aber vielleicht ist das auch nur Fake. 

Diese Unsicherheit und die sich damit aufbauenden Fragen sind die Stärke dieses Abends. Warum genau es dazu die Ajax- Geschichte brauchte, bleibt Rüpings Geheimnis. 

Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/ajax-und-der-schwan-der-scham-2024

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Ehrgeiz und Hybris  vs Demütigung
  • Mögliche Reaktionen auf Demütigung
  • Frage nach der Verantwortung von Taten
  • Frage nach der richtigen Wahrheit
Formale SchwerpunKte

Distanz der Spieler:innen zur Rolle durch

  • Kommentare
  • Improvisation
  • Demonstration des Gespielten
  • Einbeziehung des Publikums als Publikum
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11
  • empfohlen für den Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Die Fassung von Christopher Rüping und dem Ensemble orientiert sich lose an dem Drama von Sophokles. Darin geht es um die Demütigung, die anschließende Rache und die Scham von Ajax. Der hatte Seite an Seite mit den griechischen Heerführern im Krieg gegen Troja gekämpft und an dessen Ende den Leichnam Achills sowie dessen Rüstung nach Hause gebracht. Doch nicht er bekommt Anerkennung, Ruhm und die legendäre Rüstung, sondern Odysseus. Bei Rüping verlangt Ajax mit den Worten „Ich will, was mir zusteht“ die Herausgabe der Rüstung, mehr aber noch die damit verbundene Achtung. Als die ausbleibt, richtet er ein Blutbad an und betrachtet anschließend genüsslich das Schlachtfeld. Erst als seine Frau Tekmessa ihn auf die Sinnlosigkeit dieser Tat hinweist („Der stolze Ajax hat dem Loblied des Gewalt eine neue Strophe hinzugefügt.“), beginnt er nachzudenken, weist aber mit den Worten „Das war nicht ich!“ die Schuld zurück. Dennoch liebäugelt mit dem Selbstmord, kehrt aber in letzter Sekunde um. Im Moment seines Zögerns erscheint mit Sarah Lane eine Gestalt, die ihm wie ein Zwilling ähnelt. Sie stellt sich als Tanz-Double der US-Schauspielerin Natalie Portman in „Black Swan“ vor und beklagt, dass ihre Arbeit ähnlich der von Ajax nicht die gebührende Anerkennung bekommen hat. Portman bekam einen Oscar, sie wurde unter ferner liefen erwähnt. sie erzählt die Geschichte einer Freundin, deren Ex-Partner sie mit Hilfe von KI in Pornofilmen zeigt. Sie empfindet Scham, obwohl sie nichts getan hat und fremde Kräfte am Werk waren. Achill hört ihr zu, ebenso Odysseus, bis schließlich Athene als Deus ex machina erscheint und mit dem projizierten Gesicht der Ajax-Darstellerin den Sprung in den Tod vollzieht. Vielleicht ist es aber auch nur ein Filmtrick und auch wieder nicht wahr. 

Mögliche Vorbereitungen
  • Recherche zu Sophokles Drama „Ajax“ (Inhalt)
  • Recherche zu Scham/Schamgefühl und dem Umgang damit
  • Recherche zum Umgang von Facebook und X mit Wahrheit und Verantwortung
  • Darren Aronovskys Film „Black Swan“ ansehen
Im Unterrichtsgespräch:
  • Auswertung der Recherchen
  • Wann ist man für seine Taten/Worte verantwortlich?
  • Lässt sich Wahrheit noch von Fake unterscheiden? Was bedeutet das für unser Zusammenleben? 
Speziell für den Theaterunterricht

Im Zusammenhang mit einer Einheit zu unterschiedlichen Regiestilen/Theaterformen lässt sich Rüpings Vorstellung vom Theater mit Hilfe der aktuellen Szenenarbeit eines jeden Kurses erarbeiten. Folgende Zitate können (evtl. im Vergleich zu Bertolt Brechts Auffassung von Theater) helfen:

„Es klingt so banal und Netflix-geschädigt, aber als Zuschauer bin ich gefährdet, das Offensichtliche zu vergessen: nämlich dass Theater live, im jetzt stattfindet. Dass die Atmosphäre im Zuschauerraum das Bühnengeschehen beeinflusst und andersrum. Dass die Möglichkeit einer realen, flüchtigen Gemeinschaft besteht. Die direkte Ansprache erinnert mich daran.“

„Viele unserer Arbeiten beginnen eher im Geiste des Erzählers als im Geiste des Dramas. (…) Alle Gefühlen sind gewissermaßen erzählte und nicht erlebte Gefühle. Alle Gefühle sind gewissermaßen erzählte und nicht erlebte Gefühle. Dadurch sind sie nicht weniger intensiv. Für mich persönlich werden sie sogar intensiver, weil ich nicht nur erlebe, wie eine Figur xy in jenem Moment fühlt, sondern auch, wie der oder die Schauspieler:in xy sich die Mühe macht, sich in die Figur hineinzudenken. dieses Sich-Hineindenken führt dazu, dass die Spieler:innen immer einen minimalen Abstand zu ihren Figuren halten, sie nähern sich ihnen an, ohne sie sich je ganz einzuverleiben.“ 

(zitiert im Programmheft Nr 275 des Thalia Theaters zu „Ajax oder Schwan der Scham“, S. 17/18, aus: Nahaufnahme Christopher Rüping: Gespräche, Begegnungen, Material. Herausgegeben von Vasco Boenisch und Malte Ubenauf, Berlin 2004.)

Aufgabe:
  • Nehmt eine Szene aus der laufenden Arbeit oder z.B eine aus Büchners „Woyzeck“ (s.u.).
  • Lest die Szene und kürzt den Dialog auf das für euch Notwendige ein.
  • Überlegt, wer welche Figur darstellen soll und überlegt euch, wie sich die Figur dem Publikum vorstellt.
  • Überlegt, wo ihr/eure Figur anderer Meinung sein kann als das, was im Text gesagt wird und lasst es eure Figur oder einer Figur von außen aussprechen. Es kann sich dabei auch um eine Frage handeln (z.B. „Wieso machst du das denn jetzt?“), die die Figur bzw deren Darsteller:in beantwortet. Sie verlässt damit die Rolle.
  • Probt die Szene mehrfach und überlegt auch, wie ihr auf die Anwesenheit des Publikums reagiert (Begrüßt ihr einzelne Personen? Fragt ihr die Zuschauer:innen nach ihrer Meinung? o.ä.)
Text:

Beim Hauptmann

Hauptmann auf dem Stuhl, Woyzeck rasiert ihn.

Hauptmann: Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem andern! Er macht mir ganz schwindlig. Was soll ich dann mit den 10 Minuten anfangen, die Er heut zu früh fertig wird? Woyzeck, bedenk Er, Er hat noch seine schönen dreißig Jahr zu leben, dreißig Jahr! Macht dreihundertsechzig Monate! und Tage! Stunden! Minuten! Was will Er denn mit der ungeheuren Zeit all anfangen? Teil Er sich ein, Woyzeck!

Woyzeck: Jawohl, Herr Hauptmann.

Hauptmann: Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke. Beschäftigung, Woyzeck, Beschäftigung! Ewig: das ist ewig, das ist ewig – das siehst du ein; nur ist es aber wieder nicht ewig, und das ist ein Augenblick, ja ein Augenblick – Woyzeck, es schaudert mich, wenn ich denke, daß sich die Welt in einem Tag herumdreht. Was ’n Zeitverschwendung! Wo soll das hinaus? Woyzeck, ich kann kein Mühlrad mehr sehen, oder ich werd melancholisch.

Woyzeck: Jawohl, Herr Hauptmann.

Hauptmann: Woyzeck, Er sieht immer so verhetzt aus! Ein guter Mensch tut das nicht, ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat. – Red er doch was Woyzeck! Was ist heut für Wetter?

Woyzeck: Schlimm, Herr Hauptmann, schlimm: Wind!

Hauptmann: Ich spür’s schon. ’s ist so was Geschwindes draußen: so ein Wind macht mir den Effekt wie eine Maus. – Pfiffig: Ich glaub‘, wir haben so was aus Süd-Nord?

Woyzeck: Jawohl, Herr Hauptmann.

Hauptmann: Ha, ha ha! Süd-Nord! Ha, ha, ha! Oh, Er ist dumm, ganz abscheulich dumm! – Gerührt: Woyzeck, Er ist ein guter Mensch – aber – Mit Würde: Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat ein Kind ohne den Segen der Kirche, wie unser hocherwürdiger Herr Garnisionsprediger sagt – ohne den Segen der Kirche, es ist ist nicht von mir.

Woyzeck: Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehen, ob das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kleinen zu mir kommen.

Hauptmann: Was sagt Er da? Was ist das für eine kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus mit seiner Antwort. Wenn ich sag‘: Er, so mein‘ ich Ihn, Ihn –

Woyzeck: Wir arme Leut – Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat – Da setz einmal eines seinesgleichen auf die Moral in der Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub‘, wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.

Hauptmann: Woyzeck, Er hat keine Tugend! Er ist kein tugendhafter Mensch! Fleisch und Blut? Wenn ich am Fenster lieg‘, wenn’s geregnet hat, und den weißen Strümpfen nachseh‘, wie sie über die Gassen springen – verdammt, Woyzeck, da kommt mir die Liebe! Ich hab‘ auch Fleisch und Blut. Aber, Woyzeck, die Tugend! Die Tugend! Wie sollte ich dann die Zeit rumbringen? Ich sag‘ mir immer: du bist ein tugendhafter Mensch – gerührt: –, ein guter Mensch, ein guter Mensch.

Woyzeck: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – ich hab’s noch nit so aus. Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt‘ ein‘ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt‘ vornehm rede, ich wollt‘ schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!

Hauptmann: Gut, Woyzeck. Du bist ein guter Mensch, ein guter Mensch. Aber du denkst zuviel, das zehrt; du siehst immer so verhetzt aus. – Der Diskurs hat mich ganz angegriffen. Geh jetzt, und renn nicht so; langsam, hübsch langsam die Straße hinunter!

aus: https://www.projekt-gutenberg.org/buechner/woyzeck/chap02.html

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