Eine Wahrheit ist eine Wahrheit und damit unumstößlich. Stimmt aber leider nicht. Je nachdem, wer gerade mit welchen Erfahrungen auf eine Situation blickt, hat er oder sie eine eigene Sichtweise. Plötzlich gibt es statt einer mindestens zwei oder mehrere Wahrheiten, und alle sind gleichberechtigt. Oder? Lutz Hübner und Sarah Nemitz haben ihr Stück vorsorglich „Die Wahrheiten“ genannt, Milena Mönchs kurzweilige Inszenierung in den Hamburger Kammerspielen lässt dennoch genügend Raum zum Nachdenken.
Die Kritik
Der Abend scheint entspannt zu enden. Sonja (Katja Weitzenböck) und Bruno (Ulrich Bähnk), ein Ehepaar mittleren Alters, haben einen Film im Kino gesehen (laut Bruno zwar eher etwas für Frauen, aber egal). Jetzt räkeln sie sich mit einem abschließenden Glas Wein auf den roséfarbenen Polstern, die exzellent mit ihrer hellen Kleidung harmonieren (Bühne und Kostüme: Jonas Vogt). Alles gut also. Bis plötzlich eine SMS aufblinkt.
Der gemeinsame Freund Erik schreibt, dass er und seine Frau Jana ab sofort keinen Kontakt mehr haben möchten, und: „Wir wollen das nicht mit euch diskutieren.“ Ein Affront, ganz klar. „So geht man nicht mit guten Freunden um“, schnaubt Bruno. Was tun? Abwarten? Sofort reagieren? Und was könnte denn überhaupt den Grund für diese Nachricht sein?
Er nennt sich selbstironisch einen „alten weißen Mann“.
Was zunächst wie eine leichte Gesellschaftskomödie beginnt, entwickelt nach und nach die doch sehr ernsten Fragen zu Vertrauensbruch und Machtmissbrauch. Lutz Hübner und Sarah Nemitz beleuchten im ersten Teil von „Die Wahrheiten“ die Sichtweise von Sonja und Bruno. „Die haben massiv von uns profitiert“, tönt Ulrich Bähnk als Bruno. Er ist gekränkt, fühlt sich von den befreundeten Ehepaar ausgenutzt. Immerhin hat er doch Jana das Psychologie-Studium ermöglicht und sie später als Leiterin eines Firmen-Coachings empfohlen. Dass sie dabei gescheitert ist und seither selbst in Therapie ist, findet er eher albern („als Therapeutin ’ne Therapie!!!“), als dass er sich die Mühe macht, den Sachverhalt zu verstehen. Politisch unkorrekte Bemerkungen rutschen ihm einfach so durch, er nennt sich selbstironisch einen „alten weißen Mann“ und hat damit nicht ganz unrecht. Trotzdem wirkt er in seiner lauten, schwitzenden Verzweiflung über den plötzlichen Bruch des Freundes hilflos. Bruno ist eigentlich ein gutmütiger, großzügiger Mensch. Vor Jahren hat er das Kind, mit dem Sonja nach einer Vergewaltigung schwanger war und das sie unbedingt behalten wollte, adoptiert, weil er sie nicht verlieren wollte. Darüber sollte Stillschweigen gewahrt bleiben. Aber jetzt muss Bruno erfahren, dass Sonja Jana davon erzählt und ihn somit gedemütigt hat. Katja Weitzenböcks Sonja versucht alles. Sie beschwichtigt, sie schreit, sie ringt um Verständnis, findet aber kein Gehör.
Ihr hat jemand an den Hintern gefasst? Findet Erik komisch.
Wie es zu der SMS gekommen ist, wird im zweiten Teil des 100minütigen Abends untersucht. Jana (Naima Laube) erklärt ihrem Mann Erik (Tobias Dürr), dass sie Bruno nicht mehr sehen will. Was der als Unterstützung angesehen hat, empfand sie als Machtmissbrauch: das Studium, das Coaching-Seminar und dass er sich wie ein „Macho-Arsch“ benommen hat, der ihr allein die Schuld am Scheitern des Seminars zugeschoben hat. Naima Laube steigert sich als Jana so sehr in die empfundene Verletzung hinein, dass ihr tatsächlich die Tränen herunterlaufen. Tobias Dürrs Erik ist ein sportlicher Frauentyp. Von seinen kleinen Affären hat er Bruno und vielleicht auch anderen Männer-Freunden erzählt, aber natürlich nicht seiner Frau, schließlich muss sie ja nicht alles wissen. Was Jana umtreibt, versteht er nicht wirklich. Ihr hat jemand auf den Hintern gefasst? Findet er eher komisch. Aber klar, er will ihr helfen. Und weil sie Bruno nicht mehr sehen will, schreibt er kurzerhand in seinem und ihren Namen die SMS. Dass das übergriffig ist, begreift er nicht.
Wie jede der vier Figuren die Situation bewertet, wird im letzten Szenenbild deutlich. Diagonal zueinander angeordnet sprechen jeweils die Männer und die Frauen zueinander. Sie hören einander nicht, jeder hat seine eigene Wahrheit. Die einzige, die daraus eine Konsequenz zieht, ist Jana. Sie wird Erik verlassen.
Weitere Informationen unter: https://hamburger-kammerspiele.de/programm/die-wahrheiten-2/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Vertrauensbruch
- Machtmissbrauch
- unterschiedliches Bewerten von Sachverhalten
Formale SchwerpunKte
- realistisches Spiel
- Stellung der Figuren auf der Bühne; Auflösung des Ortes (letzte Szene)
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 16 Jahre, ab Klasse 10
- empfohlen für Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Bruno und Sonja und Erik und Jana sind seit Jahren als Paare eng miteinander befreundet. Man glaubt sich gut zu kennen und vieles miteinander geteilt zu haben. Umso entsetzter sind Bruno und Sonja, als sie eines Abends nach dem Kinobesuch eine SMs von Erik erhalten, in der er jeden weiteren Kontakt aufkündigt und darüber auch nicht mehr diskutieren will. Unterschrieben ist sie mit seinem und mit Janas Namen. Nach der anfänglichen Fassungslosigkeit suchen Bruno und Sonja nach Gründen und erfahren dabei bisher nicht Gesagtes von dem anderen. Wer hat wessen Vertrauen gebrochen? Welche Wahrheiten wurden verheimlicht? Darum und vor allem um Machtmissbrauch und Übergriffigkeit geht es bei Jana und Erik. Erik versteht Jana genauso wenig wie Bruno Sonja. Es bleibt die Frage, wessen Wahrheit richtig im Sinne einer funktionierenden Ehe und/oder Freundschaft ist.
Mögliche Vorbereitungen
Im Unterrichtsgespräch:
- Was bedeutet Wahrheit?
- Kann man von einer einzigen Wahrheit sprechen?
- Wie wichtig ist es, sich im Rahmen einer Freundschaft oder einer Beziehung alles zu erzählen?
Speziell für den Theaterunterricht
Die Spielleitung teilt Vierer- oder Fünfergruppen ein.
Aufgabe:
Setzt den nachfolgenden Text, bei dem es um einen Streit geht, in drei verschiedenen Versionen um. Sprecht frei und ohne den Text in der Hand zu halten. Ihr könnt selbst auswählen, wie viele Personen sprechen( das ‚P‘ bedeutet nur, dass eine Person spricht).
- aggressiv und körperlich: Schreit euch an, schubst euch herum o.ä..
- stoisch und kalt: Stellt euch weit voneinander entfernt auf, blickt beim Sprechen ins Publikum, sprecht den Text möglichst kühl.
- Opfer und Täter: Überlegt, wer im A- und wer im B-Status, wer also laut und dominant und wer leise und unsicher ist und wie die Figuren zueinander stehen.
Probt alle drei Möglichkeiten und wählt dann eine, die ihr präsentiert. Begründet eure Wahl.
Feedback
Text
P: Warum hast du das rumerzählt über uns?
P: Ist das richtig, wenn jetzt alle über uns reden?
P: Wie man halt so redet.
P: Nein, nicht, wie man halt einfach so redet. – Ich mach dich verantwortlich für das. Ich könnte dich ja auch zusammenschlagen für das.
P: Was mir am liebsten wäre. Einfach reinschlagen.
P: Gute Lust hätt ich dazu.
P: Tus doch, bitte.
P: Vielleicht. Und dir? Fällt dir nichts Besseres ein?
P: Meinst du was Bestimmtes?
P: Ich schon. Das kannst du mir glauben.
P: Ich versteh kein Wort von dem, was du da sagst.
P: Dann überleg mal. Denk einfach mal nach. keine Idee? Nix? Und jetzt?
P: Jetzt sag halt, was du meinst.
P: Ich denk an eine kleine Abfindung.
P: Genial. Du bist genial.
Nach: Rainer Werner Fassbinder: Preparadise sorry now