„I just want to live in peace and don’t want any trouble or war“. Schon klar, aber wie weit kommt man mit dem Sich-Raushalten in einer Welt voller Gewalt? Zu Mattias Anderssons feinfühliger Inszenierung von Ingmar Bergmanns „Schande“ im Thalia in der Gaußstraße.
Die Kritik
Wir haben es doch gut. Kriege finden für uns nur in den Fernsehnachrichten statt. Zerbombte Städte, Tote, Verletzte, schreiende Menschen ob in der Ukraine oder im Gaza-Streifen – schnell wechseln die Bilder. Schrecklich das alles, aber nun schnell umschalten zum Spielfilm und zurück auf die Couch. Eine Schande, findet offenbar auch der schwedische Dramatiker, Regisseur und Intendant des Stockholmer „Dramaten“ Mattias Andersson. Im Rahmen der Lessingtage hat er Ingmar Bergmanns Film „Schande“ von 1968 für die Bühne bearbeitet und als Welturaufführung im Thalia in der Gaußstraße inszeniert. Bergmann war zur Zeit des Vietnamkrieges aufgefordert worden, sich auch mal politischen Themen zu widmen, statt ständig Filme über Beziehungs- und Eheprobleme zu drehen. Allerdings soll er mit dem Ergebnis gar nicht zufrieden gewesen sein.
Vielleicht wäre er aber mit Anderssons Arbeit einverstanden. Die vermeidet jede zeitliche oder örtliche Fixierung (mit Ausnahme der Gotland-Flagge), tippt nur an, lässt den Zuschauenden Raum für eigene Deutungen: Akustische Signale wie Sirenen, anschwellendes Dröhnen (Sound Design/Komposition: Anna Sóley Tryggvadóttir) oder kantige Befehle aus dem Off erschaffen die Atmosphäre einer nicht definierten kriegerischen Bedrohung, die jeder für sich selbst deuten kann.
Wir haben es doch gut, könnten auch Jan (Jirka Zett) und Eva (Maja Schöne) sagen. Früher spielten beide als Musiker in einer Band, jetzt leben sie seit gut einem Jahr zurückgezogen von der Welt in einem Haus auf einer Insel. Ulla Kassius hat die Bühne mit Küche und Bett im Ikea-Schick gestaltet, rundherum gibt es einen Garten mit Rhabarber-Pflanzen und Komposter. Eva verdient als Architektin im Homeoffice das Geld, Jan schreibt wenig motiviert an seiner Bachelor-Arbeit mit dem Titel „Der spielerische Umgang mit Farben und Formen in der Vorschule.“ Die totale Zurückgezogenheit, das Nur-um-sich-selbst-Kümmern hat Auswirkungen auf die Beziehung und zeigt sich in dem filmisch-realistischen sehr feinen Spiel von Schöne und Zett. Maja Schöne braucht nur die Augen zu verdrehen, um deutlich zu machen, wie sehr Jans Luschigkeit sie nervt. Andererseits lacht sie sich kaputt über seine Witze. Denn Jirka Zetts Jan ist zwar viel passiver und weicher als Eva, aber manchmal eben auch sehr lustig.
„Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.“
Andersson zeigt Jan und Eva in einer alltäglichen Beziehung mit Höhen und Tiefen. Mit dem schleichenden Hereinbrechen eines nicht näher bestimmten Krieges verändert sich ihr Verhalten, vielleicht sogar ihr Wesen. Zunächst knallt ein Kampfstiefel von der Decke, Sirenen dröhnen und Jacobi, Kommandant einer Truppe, tritt auf. „Wie ist die Lage?“, fragt Jan. „Nicht gut“, antwortet Jacobi. „Es ist wirklich ernst.“ Bernd Grawert zeigt die Ambivalenz dieses bulligen Typen, von dem man nicht weiß, ob er ein brutaler Kriegsverbrecher oder im Herzen ein reuiger Sünder ist. Irgendwann denkt er laut über „meine Sünden“ nach und singt ausgerechnet John Lennon Friedenshymne „Imagine“. Aber dann zwingt er Eva zum Sex und legt dafür Geld auf den Tisch. Es ist das Geld, das ihn vor dem Tod retten könnte. Eine Stimme aus dem Off fordert es für seine Freilassung, aber Jan verweigert es, behält es in seiner Tasche, opfert Jacobi und erschießt ohne mit der Wimper zu zucken einen Schutzsuchenden. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin“, wundert er sich. Er und Eva haben jeden Boden verloren, der Krieg ist mitten in ihrem Leben. Oder, hofft Jan, ist es doch „Theater“?
Das Ungefähre, Nicht-Fassbare ist sicher nicht jedermanns Sache und mag irritieren, vermeidet aber gerade dadurch einen aufdringlichen Zeigefinger. Andersson und sein exzellentes Ensemble spiegeln und hinterfragen auf subtile Art unsere Haltung und Verantwortung in einer Welt voller Kriege und Gewalt. Gut, dass die Vorstellung nicht auf die Lessingtage beschränkt, sondern weiterhin im Repertoire ist.
Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/schande-2023
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Eindringen kriegerischer Bedrohung in das Alltagsleben
- Verantwortung und Haltung gegenüber der Gewalt
- Auswirkungen von Krieg und Gewalt auf menschliche Beziehungen und die Persönlichkeit
Formale Schwerpunkte
- realistisch-psychologisches Spiel
- Realismus im Bühnenbild
- akustische Signale zur Darstellung von Krieg
- Einsatz von verfremdeten Figuren zur Darstellung von Krieg
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 16 Jahre, ab Klasse 10
- empfohlen für den Deutsch-, Geschichts-, Ethik- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Jan und Eva, beide Musiker, haben früher gemeinsam in einer Band gespielt. Seit einem Jahr leben sie zurückgezogen auf einer Insel mit eigenem Haus und Garten, in dem sie selbst Gemüse anbauen. Eva arbeitet als Architektin im Homeoffice und verdient das Geld für den Lebensunterhalt, Jan sitzt noch immer an seiner Bachelorarbeit mit dem Thema „Der spielerische Umgang mit Farben und Formen in der Vorschule.“ Ein recht friedliches Leben also, in das aber allmählich ein nicht näher definierter Krieg einbricht. Jacobi, angeblich ein Freund des Paares, ist Kommandant einer Truppe, er weiß, dass die Lage momentan „sehr ernst“ ist. Das Paar nimmt wahr, dass feindliche Soldaten näher kommen und vermutet sie sogar bei sich auf dem Dachboden. Eigentlich gegen jede Art von Gewalt eingestellt, holen beide zu ihrer Verteidigung ein altes Gewehr aus dem Keller. Wenig später werden sie unter Androhung von Gewalt gezwungen, in eine Kamera den Satz „“I just want to live in peace and don’t want any trouble or war“ zu sprechen, bald darauf erfahren sie, dass das Video viral gegangen ist und ihnen zum Verhängnis wird. Jacobi wird immer undurchsichtiger. Er lässt seine Leute das Haus des Paares durchsuchen, entschuldigt sich aber damit, dass er „alle gleich behandeln“ muss. Als die Lage sich zu beruhigen scheint, spendiert Jacobi Whisky, trinkt mit Eva und Jan, und als Jan volltrunken einschläft, zwingt er Eva zum Sex und legt dafür Geld auf den Tisch. Jan stellt Eva zur Rede, steckt das Geld in die Tasche und rückt es auch dann nicht heraus, als das feindliche Lager dieses Geld für Jacobi verlangt, der andernfalls umgebracht würde. Jan weigert sich und nimmt den Tod Jacobis in Kauf. Als ein Soldat um Schutz bittet, erschießt er ihn ohne zu zögern.
Mögliche VorbereitungeN
Als vorbereitende Hausaufgabe:
- Recherche zu Ingmar Bergmann und seinem Film „Schande“
- Anschauen des Films „Schande“ (im Netz verfügbar)
Die Schüler:innen sollen anonym folgende Fragen schriftlich beantworten:
- Wie nimmst du die aktuellen Kriege wahr?
- Durch welche Medien erfährst du davon?
- Inwieweit beeinflussen diese Kriege dein Verhalten und deine Haltung?
Die Antworten werden präsentiert und im Unterrichtsgespräch diskutiert.
Speziell für den Theaterunterricht
Übungen und Aufgaben zum Thema akustische Zeichen
Rhythmus und Stimme
Bodypercussion
Spieler:innen stehen im Kreis, ahmen folgende Bewegungen nach, die später immer schneller hintereinander im Rhythmus ausgeführt werden: 1x in die Hände klatschen, rechte Hand auf linke Schulter, linke Hand auf rechte Schulter, linke Hand auf linken Oberschenkel, rechte Hand auf rechten Oberschenkel, rechte Hand auf rechte Pobacke, linke Hand auf linke Pobacke.
Klatsch-Countdown
Alle stehen im Kreis, zählen im Rhythmus bis 10. Bei 1 stampfen alle gleichzeitig mit dem Fuß auf; dann wird runtergezählt; d.h. in der nächsten Runde geht es nur bis 9, dann bis 8 usw,, dabei wird bei 1 immer mit dem Fuß aufgestampft, das Zählen erfolgt stumm und möglichst so, dass man es von außen nicht sieht.
Erzeugen einer Rhythmusmaschine
Alle klatschen auf 1 (zählen stumm bis vier), dann wieder Klatscher auf 1
Aufteilung in drei Gruppen:
- Gruppe A behält das Klatschen auf 1 und 4 bei
- Gruppe B klatscht auf 1 und 3
- Gruppe C klatscht auf 1,2,3,4.
Chor der Laute
Alle gehen durch den Raum, suchen sich einen Ton, den sie vor sich hinsummen, schlagen dann mit den Fäusten leicht auf den Brustkorb, lassen den Laut immer lauter werden, andere können sich anschließen, bis gemeinsamer Laut gefunden worden ist und sich alle zu Kreis formieren
Spiegeln von Lauten
In Partnerübung ausprobieren, welche Geräusche sich mit den Lippen machen lassen. Ein Partner ist der „Leader“, der andere Partner spiegelt simultan. Nach jeder Übung wird nach etwa 30 Sekunden gewechselt (z.B.: Welche Geräusche lassen sich mit der Zunge erzeugen?)
Erzeugen von akustische Zeichen mit Alltagsgegenständen oder Instrumenten bzw. instrumentenähnlichen Gegenständen.
Die Spielleitung legt an verschiedenen Stellen des Raumes unterschiedliche Gegenstände (evtl. mit Anleihen bei der Musikfachschaft) aus (Papier, Folie, Tamburine, Trommeln, Xylophone, Trillerpfeifen o.ä.). Die Schüler:innen können weitere Alltagsgegenstände mitbringen.
Aufgabe
Geht durch den Raum, sucht euch verschiedene Gegenstände und probiert deren Möglichkeiten aus.
Aufteilung des Kurses in drei Gruppen.
Aufgabe
Entwickelt eine Szene mit Anfang und Ende, an der alle Spieler beteiligt sind, zum Thema „Gefahr“. Das akustische Zeichen dominiert in dieser Szene, alle anderen Zeichen sind dem untergeordnet. Folgendes Material soll dabei verwendet werden:
- Gruppe 1: Körper und Stimme
- Gruppe 2: Alltagsgegenstände
- Gruppe 3: Instrumente
Präsentation und Feedback