Der Vorleser

War sie ein Monster? Oder „nur“ eine Erfüllungsgehilfin der Nazis? Was genau trieb jemanden wie Hanna Schmitz an? Die Auswirkungen ihrer Tat reichen bis in die Gegenwart. Zu Kai Hufnagels Inszenierung von „Der Vorleser“ am Altonaer Theater.  

Dunkle Geheimnisse (v.li: Johan Richter, Anjorka Strechel) – Foto: G2 Barniak

Die Kritik

Stockdunkel ist es auf der Bühne. Der beinahe rührende Versuch, mit einem Streichholz etwas Licht zu spenden, scheitert ebenso wie der zweier kurz aufleuchtender Taschenlampen. Die Dunkelheit dominiert in Kai Hufnagels Inszenierung von „Der Vorleser“, und das ergibt Sinn. Denn das Hauptgewicht von Bernhard Schlinks Roman ebenso wie von Mirjam Neidharts Bühnenfassung liegt auf den Ereignissen in der NS-Zeit und der damit verbundenen Schuld. Nie wird letztlich klar, was genau die KZ-Aufseherin Hanna Schmitz motiviert hat, den Gefangenentransport mit Frauen und Kindern in einer Kirche gefangen zu halten und sie auch dann nicht freizulassen, als dort ein Feuer ausbricht. Ist sie ein Monster? Oder „nur“ eine Nazi-Gehilfin, die naiv ihre Aufgabe erfüllt? Es ist nicht Hannas einziges Geheimnis. 

Ein wesentliches Ritual vor der Liebe ist das Vorlesen.

Der Erzähler der Geschichte sowohl in der Vorlage als auch in der Bühnenfassung ist Michael Berg (Johan Richter). Aus der Ich-Perspektive rekonstruiert er als Erwachsener, wie er als gerade mal Fünfzehnjähriger Hanna kennenlernte, wie er mit ihr, der Mittdreißigerin, eine Liebesbeziehung eingeht und wie sie urplötzlich aus seinem Leben verschwindet. Ein wesentliches Ritual bei ihrer Affäre war, dass Michael Hanna vorlesen musste. Daran erinnert er sich, als er sie Jahre später im Gerichtssaal auf der Anklagebank wiedersieht. Als Jurastudent interessiert er sich für die NS-Prozesse und erlebt, wie Hanna lieber die Schuld für einen von anderen verfassten Bericht auf sich nimmt, als über eine Schreibprobe das Gegenteil zu beweisen. Sie wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Michael erkennt, dass Hanna Analphabetin ist und sie ihr Geständnis aus Scham darüber geleistet hat. Er wagt es aber nicht, die Richter darüber zu informieren, um die Strafe eventuell zu mildern. Seine dafür empfundene Schuld versucht er zu kompensieren, indem er Bücher auf Kassetten einliest, der er Hanna ins Gefängnis schickt und die – wie er später erfährt – ihr helfen, sich selbst Lesen und Schreiben beizubringen. Nach 15 Jahren wird sie wegen guten Führung entlassen. Als Michael sie abholen will, hat sie sich bereits erhängt. Ihrem Testament gehorchend überbringt er ihr  Erbe der Überlebenden des Kirchenbrands.

Die eingespielten Schlager ironisieren eher, als dass sie die Zeit illustrieren.

Die Zeitsprünge, von den ausgehenden 50ern (die Affäre), über die 60er (der Prozess) und 70er (Hannas Haft) bis zu den 80er Jahren (Überbringen des Erbes), sowie die vielen Ortswechsel hat Ausstatterin Ulrike Engelbrecht geschickt vor allem über eine Vielzahl von Tischen gelöst. Hochkant, umgedreht oder parallel gestellt stellen sie unterschiedliche Orte in verschiedenen Zeiten dar. Weniger glücklich ist die Auswahl der eingespielten Schlager. Sie illustrieren weniger, als dass sie die Geschichte ironisieren, was die gerade von Michael so ehrlich gemeinte Liebe nicht verdient hat. Ein Chor (Franziska Schulze, Tobias Dürr, Sina-Maria Gerhardt) übernimmt im Wechsel mit Johan Richter Michaels Erzählpassagen, macht sie dadurch lebendiger, schafft aber auch Distanz zu dem Erlebten. Gerade im ersten Teil ist das von Bedeutung, denn Richter ist hier nicht älter als fünfzehn, Unsicher, tollpatschig und naiv-selig über Hannas Liebe. Anjorka Strechels Hanna bleibt überlegen, manchmal schroff, um ihr Geheimnis zu wahren. Im Prozess, bei dem einzelne Mitglieder des Chores die Rolle von Zeugen oder des Richters übernehmen, bleibt sie still, verstockt, als könne sie nicht begreifen, was ihr vorgeworfen wird, Johan Richters Michael wird dagegen zum erwachsenen, reflektierenden Beobachter. 

Hufnagels Inszenierung kommt zur richtigen Zeit. „Nie wieder ist jetzt!“ lautet die Parole von Hunderttausenden, die in diesen Wochen auf die Straße gehen.   

Weitere Informationen unter: https://www.altonaer-theater.de/programm/der-vorleser/

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Auswirkungen von Scham und Schuld
  • Vertuschung von Unzulänglichkeiten
Formale Schwerpunkte
  • Verteilung der Erzählpassagen auf mehrere Figuren
  • Übernahme einzelner Figuren durch den Chor
  • multifunktionales Bühnenbild
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • ab 15/16 Jahre ; ab Klasse 10
  • empfohlen für den Deutsch-, Geschichts-, und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Aus der Rückschau erzählt der erwachsene Michael Berg seine Geschichte mit Hanna Schmitz. In den ausgehenden 50er Jahren lernt er sie zufällig kennen. Er ist ein 15jähriger Schüler, sie eine Frau Mitte dreißig. Michael ist fasziniert von Hannas Körper, lässt sich verführen und beginnt eine Liebesbeziehung mit ihr, die immer dem gleichen Ritual gehorcht: vorlesen – duschen – lieben. Michael hält das Verhältnis vor seiner Familie und seinen Freunden geheim. Als Hanna plötzlich aus seinem Leben verschwindet, ist er am Boden zerstört und für sein weiteres Leben geprägt: Er fühlt sich emotionslos, kann keine echte Beziehung mehr aufbauen. Als Jurastudent, der sich für die NS-Prozesse interessiert, trifft er Mitte der 60er Jahre  auf,Hanna. Sie ist angeklagt, als KZ-Aufseherin einen Gefangenentransport mit Frauen und Kindern in einer Kirche eingeschlossen und auch dann nicht befreit zu haben, als in der Kirche Feuer ausbricht. Bis auf eine Frau und ihre Tochter überlebt niemand. Ein von anderen NS-Beteiligten verfasster Bericht hätte die Schuld eventuell auf mehrere Schultern verteilen können. Doch Hanna behauptet, den Brief alleine geschrieben zu haben, um einer Schriftprobe zu entgehen. Sie wird zu lebenslanger Haft verurteilt, und Michael, dem allmählich auffällt, dass Hanna Analphabetin ist, verschweigt dieses Wissen, empfindet dafür aber Schuld. Die versucht er zu kompensieren, indem er Bücher auf Kassetten einliest und sie Hanna ins Gefängnis schickt. Wie er später erfährt, helfen sie ihr, sich selbst Lesen und Schreiben beizubringen. Nach fünfzehn Jahren soll Hanna wegen guten Führung entlassen und von Michael, ihrem einzigen Kontakt zur Außenwelt, abgeholt werden. Michael hat bereits Wohnung und Arbeitsplatz für sie gefunden. Doch als er sie abholen will, hat sich Hanna bereits erhängt. Um ihr Testament zu erfüllen, reist Michael nach New York, wo er mit der Überlebenden des Kirchenbrandes die Verwendung des ererbten Geldes bestimmt.  

   

Mögliche VorbereitungeN
Über Referate oder als vorbereitende Hausaufgabe:
  • Inhaltsangabe oder Lektüre von Bernhard Schlink „Der Vorleser“
  • Deutschland zwischen 1933 und 1945: Was war von Hitlers Plänen bekannt?
  • Recherche zur Rolle von KZ-Aufseher:innen
  • Recherche zur Frage: Wer ging in die NSDAP? Warum? 
  • Recherche zum Verhalten im Faschismus
Im Unterrichtsgespräch:
  • Wie wird mit der NS-Zeit heute umgegangen? 
  • Welche Auswirkungen hat sie?
  • Welche Möglichkeiten hat jede/ jeder Einzelne, sich gegen einen aufkommenden Faschismus zu wehren?
Speziell für den Theaterunterricht
Erstellen eines multifunktionalen Bühnenbildes

Die Spielleitung teilt drei Gruppen ein. Die Gruppen A und B erhalten für die nachfolgende Aufgabe unterschiedliches Material. 

  • Gruppe A : zwei bis drei Tische und Stühle
  • Gruppe B: 8 – 10 Papp-Würfel 
  • Gruppe C: leerer Raum. Die jeweiligen Orte müssen über Standbilder deutlich werden
Aufgabe:

Erstellt aus dem Material ein Bühnenbild, das während des Spiels (also ohne Black oder Vorhang) folgende Orte darstellen kann:

  • ein Zimmer
  • ein Hausflur
  • eine Wiese im Strandbad
  • einen Gerichtssaal

Präsentiert eure Ergebnisse und diskutiert die verschiedenen Schwierigkeiten.

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