Legende

Lady Gaga sei Dank. Hätte der Theaterkünstler Kirill Serebrennikov nicht ihr Video zu „911“ Ivo van Hove, dem Intendanten der Ruhrtriennale, präsentiert, vielleicht wäre „Legende“ nie zusammen mit dem Thalia Theater produziert worden und die Theaterwelt um eine bildgewaltige, die Schönheit feiernde Inszenierung ärmer.  Da aber Lady Gagas Video durch einen Film von Sergej Paradjanov inspiriert war, half es, van Hove von der Bedeutung des im Westen weitgehend unbekannten Regisseurs zu überzeugen. Zu Serebrennikovs  überwältigenden und zu Recht mit stehendem Applaus gefeierten Uraufführung am Thalia Theater.

 Teile eines Lebens.(v.li: Campbell Caspary, Svetlana Mamresheva) – Foto: Frol Podlesnyi

Die Kritik

Zu sehen ist anfangs nur eine schiefe weiße Ebene mit einer Stufe in der Mitte, dahinter ein mehrstöckiges Holzgerüst, von dem einige Hohlräume mit Pressholz zugenagelt sind. Zwei Gestalten mit weiß geschminkten Gesichtern und hellen Arbeitsanzügen bearbeiten die Holzflächen mit weißer Farbe, machen kurz Pause, streichen weiter. Das unspektakuläre Nichts wird jedoch wenig später eine wahre Bilderflut entfachen: Das Gerüst wird lebendig durch Figuren, die singen, Geige spielen oder Teppiche ausrollen. Es wird gedreht, in unterschiedlichen Farben beleuchtet, mit Lichterketten oder bunten Bändern garniert. Die Ebene wird mit rieselnden Kristallen zur Eisfläche, driftet auseinander, wird zum reißenden Fluss. Darauf agieren Figuren mal in kafkaesken schwarzen Anzügen und Hüten, mal in wunderschön bestickten osteuropäischen Gewändern, mal in Glitzerroben oder in Alltagskleidung. Auf der schwarzen Brandmauer im Hintergrund suggeriert ein Flimmern die Idee von alten Stummfilmen.

Für Serebrennikow ist der Regisseur Paradjanov eine Herzensangelegenheit.

Der Theaterkünstler Kirill Serebrennikov hat nicht nur inszeniert, er hat auch Bühne und Kostüme gestaltet und das Buch zu „Legende“ geschrieben. Denn es geht ihm um den russisch-armenischen Arthouse-Regisseur Sergej Paradjanov, und der ist ihm eine Herzensangelegenheit. Weil er auch unter der fürchterlichsten Umständen das Schöne gesucht und gefunden und dadurch eine Freiheit erlangt hat, die ihn zu einer Gefahr für das sowjetische System machte. „Free All Political Prisoners“ wird am Ende des vierstündigen Abends an die Brandmauer projiziert werden.

Aber wer genau war Paradjonov? 1924 in Tiblissi als Sohn armenischer Eltern geboren, studiert er Tanz- und Gesang und später Regie in Moskau. Drei Jahre später wird er zum ersten Mal wegen angeblicher homosexueller Beziehungen verhaftet, jedoch auf Fürsprache seines Lehrers freigelassen. Von 1952 an dreht er zehn Jahre lang ins Surreale gehende Filme von hoher visueller Intensität, die aber dem verordneten Sozialistischen Realismus zuwider laufen. Einige Filme werden abgelehnt, Negative vernichtet oder liegen jahrelang auf Eis wie der Film „Sayat Nova“, der erst 1973 neu geschnitten unter dem Titel „Die Farbe des Granatapfels“ veröffentlicht wird – und Lady Gaga zu ihrem Video inspiriert hat. Es folgen weitere Verhaftungen wegen Homosexualität oder wegen exzentrischer Äußerungen gegenüber der russischen Regierung. Proteste internationaler Künstler wie Fellini, Antonioni oder Aragon sorgen jedoch bei der dritten Verhaftung für eine Freilassung. Paradjonov bleiben noch ein paar Jahre für weitere Filme, bis er 1990 an den Folgen einer Krebserkrankung stirbt.

Ensemble in „Legende“ – Foto: Frol Podlesnyi

In dem ausführlichen, unbedingt lesenswerten Programmheft (Abdruck des Textes inklusive) beschreibt Serebrennikov, dass Schönheit für Paradjonov eine Collage aus vielen Elementen wie dem Schwarz-Weiß-Stummfilm, Erinnerungen an die Kindheit oder die Musik  bedeutete. Diesen „explosiven Cocktail“ hat Serebrennikov in zehn Bildern mit einem unglaublichen Ensemble aus russisch-ukrainischen und deutschen Schauspieler*innen und der live gespielten Musik von Daniil Orlov (der bereits für die Musik in „Barocco“ verantwortlich war) auferstehen lassen. Statt einer durchgehenden Handlung gibt es Themen, die Paradjonov beschäftigten: die Gegenwart der Toten, das Bild der Infantin Margarita oder König Lear. Mit dem Thema Vergänglichkeit verbindet sich das letzte Bild auch ästhetisch mit dem ersten. Die Geister der Toten sprechen zu den Lebenden, die Eltern tauchen als junges Paar wie in einem altmodischen Film wieder auf, die Sängerin (Svetlana Mamresheva) erscheint wie vorher mit einer Sonnenkrone. Jedes  Bild hat einen eigenen Schwerpunkt und seine eigene Poesie durch die Choreographie (Evgeny Kulagin, Ivan Estegneev), die sogar den Auf- und Abbau der Bühne mitbestimmt.  Dazu kommen die Musik und der Gesang und tatsächlich  Witz und trockener Humor, nicht zuletzt bei Karin Neuhäuser in ihren unterschiedlichen Rollen. Berührend sind ihre im letzten Bild vorgetragenen Überlegungen zum Alter und zu dem, was bleibt. Hier schlüpft sie ganz in die Rolle Paradjonovs, wenn sie sagt: „Nach uns bleibt nur die Schönheit, die wir uns erlaubt haben … Ich habe mir sehr viel Schönheit erlaubt, gut so … Das war’s. Vorhang!“ Ein fantastischer, überwältigender Abend ist zu Ende. Ja, er dauert vier Stunden, aber man möchte keine Sekunde missen.

Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/legende-2024

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Freiheit und Macht der Kunst
Formale SchwerpunKte
  • Collage aus Musik, Tanz, Standbildern, Posen, Licht und Spiel
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11
  • empfohlen für den Kunst- und Theaterunterricht (und für alle aufgeschlossenen Schüler*innen, die keinen Handlungsfaden erwarten)
Zum Inhalt

„Legende“ ist in zehn Teile untergliedert, jeder einzelne wird als „Legende“ bezeichnet. Sie beschäftigen sich mit Themen, die den russisch-armenischen Regisseur Sergej Paradjanov umgetrieben haben, so dass darüber das Bild dieses Künstlers entsteht. Es beginnt mit den Erinnerungen an seine Kindheit und damit an die verstorbenen Eltern, es folgt mit der „Legende von der Infantin Margarita“ ein Besuch im Museum, dann die „Legende“ vom Ruhmhändler, der wirklich jeden Mist zu verkaufen versucht, bis hin zu der „Legende vom Greis, der das Eis bricht“ und Überlegungen zur Vergänglichkeit anstellt.

Mögliche Vorbereitungen
  • Recherche zu Sergej Paradjanov (Leben, Werk und Bedeutung)
  • Recherche zu Kirill Serebrennikov (Biografie, Arbeiten u.a. am Thalia Theater)
Speziell für den Theaterunterricht
Erstellen von spontanen Posen

Die Gruppe tanzt (oder bewegt sich extrem) zu einer ausgewählten Musik im Raum. Sobald die Musik stoppt, friert jede*r in seiner aktuellen Pose ein. Mehrere Wiederholungen.

Sinnvoll ist es, hier immer zwei Schüler:*innen als Zuschauer rauszunehmen, damit später die Wirkung besprochen werden kann. Die Zuschauenden können sich abwechseln.

Erstellen von Stimmungen/Situationen mit Tüchern 

Die Spielleitung teilt den Kurs in zwei möglichst gleich große Gruppen (A, B) auf. 

Gruppe A beginnt, B schaut zu, danach Wechsel.

Die Spielenden der Gruppe A bekommen jeweils ein buntes Jongliertuch (u.a. bei https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/) und gehen zur Musik mit dem Tuch durch den Raum, macht sich damit vertraut. Dazu könnte die Spielleitung vorgeben:

  • Werft das Tuch in die Luft, fangt es wieder auf.
  • Tanzt mit dem Tuch (u.ä.)
Stimmungen und Situationen darstellen

Die Gruppe geht mit dem Tuch durch den Raum. Entweder die Spielleitung oder Teilnehmende aus der Gruppe B geben nacheinander Stimmungen vor, die mit dem Tuch in einer Pose dargestellt werden sollen. Nach jeder Pose erfolgt auf ein Zeichen der Spielleitung wieder ein Raumlauf, bis die nächste Stimmung/Situation hereingerufen wird.

Möglich sind u.a. die Darstellung von Freude, Trauer, Angst, Hass usw.

Wechsel der Gruppen

Anschließend Feedback und Besprechung der Wirkung

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