Iphigenia

„Me Too“ – In Joanna Bednarczyks Neudeutung ist Iphigenie ein Missbrauchsopfer, das nicht länger schweigen will.

Rosa Thormeyer (Iphigenia) Sebastian Zimmler (Agamemnon) – Foto: Salzburger Festspiele / Krafft Angerer

DIE KRITIK

Es ist genug. Zu lange hat sie den Mund gehalten über den Missbrauch, der ihr Leben zerstört hat. Jetzt will sie reden. Nicht mehr tun, was andere von ihr erwarten. Sie selbst sein. Bis dahin ist es allerdings ein langer Weg. 

Frei nach den Dramen von Euripides und Goethe hat die Autorin Joanna Bednarczyk den Mythos um die Opferung Iphigenies durch Agamemnon einer Neudeutung unterzogen. Regisseurin Ewelina Marciniak, auch zuständig für das Bühnenbild, hat ihre „Iphigenia“ als Koproduktion mit den Salzburger Festspielen am Thalia Theater inszeniert und dafür eine Reihe wunderschöner Bilder gefunden: Da ist auf der leeren, nur von einem meterhohen Spiegel und zwei Wänden begrenzten Bühne ein Flügel zu sehen, an dem die junge Iphigenia (Rosa Thormeyer) gedankenverloren vor sich hin schaut. Am Rand finden sich Figuren aus ihrer Familie in Nacktkostümen, die sich in Zeitlupe auf sie zubewegen, sie hochheben, über ihre Leiber gleiten lassen und sich dann wieder an den Rand begeben. Später tauchen sie im Gegenlicht als Schatten auf, starr wie Scherenschnitte. Oder sie formieren sich nach und nach zu Statuen. Möglich, dass es sich um Traumbilder handelt. Denn Iphigenias Leben läuft nicht so, wie vor allem ihre Familie es sich vorstellt. 

Ein Buch, ausgerechnet über Opfer und Täter

Bednarczyks Neuinterpretation versetzt den Stoff auch sprachlich ins Hier und Jetzt. Ihre Iphigenia lebt in einer großbürgerlichen Intellektuellenfamilie. Mutter Klytaimnestra ist Schauspielerin am Staatstheater. Während sie bei Christiane von Poelnitz mit großer Geste den familiären Raum bestimmt, wirkt Vater Agamemnon, ein Ethik-Professor, mit hochgezogenen Schultern bei Sebastian Zimmler immer etwas linkisch, ein Mann in der zweiten Reihe. Dabei ist er es, der Iphigenie opfert, indem er sie bittet  über den Missbrauch zu schweigen. Kurz vor der Veröffentlichung seines Buches, ausgerechnet über Opfer und Täter, könnte das seiner Karriere schaden. Sein Bruder Menelaos ist der Täter. Stefan Stern zeigt ihn als durchsichtigen Schwadronierer, der das Ganze herunterspielt. Ein Looser, den seine selbstbewusste, aber im Grunde todunglückliche Frau Helena (Lisa-Maria Sommerfeld) nicht ernst nimmt. Iphigenia opfert sich für die Familie: Sie bricht ihre Finger und verhindert damit ihre Karriere als Pianistin. Sie verlässt ihren Freund Achill, bei Jirka Zett ein geradliniger, das Leben liebender Fußballer und somit ein Fremdkörper in dieser verlogenen, dysfunktionalen Familie.

Aus dem Flügel schlagen Flammen

Bis hierhin lässt sich die Neudeutung des Stoffes nachvollziehen, die Inszenierung ist kurzweilig und stimmig. Allerdings soll Iphigenia, so will es diese Fassung, ihr Handeln aus einer spätere Perspektive betrachten und kommentieren. Ihr erwachsenes Ich (Oda Thormeyer) war schon in manchen Szenen still dazu gekommen, später aber unterbricht sie die Handlung, untersucht das Treffen mit ihrem früheren Ich auf der Insel, die Begegnung dort mit ihrem Bruder Orest (Jirka Zett) und dessen Leiden zu Hause mit der alkoholsüchtigen Mutter. Der Rest des Ensembles  muss sich  während dieser Reflexionsphase fast 40 Minuten an einem imaginären Strand aalen. Dieser Teil gerät eindeutig zu lang und konstruiert. Aber er endet mit einem berückenden Bild: Die junge Iphigenia sitzt wie zu Anfang an ihrem Flügel. Aus dem Flügel schlagen Flammen

https://www.thalia-theater.de/stueck/iphigenia-2022

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Missbrauch innerhalb der Familie
  • Schweigen über Missbrauch zugunsten des eigenen Rufs/ der eigenen Karriere
  • Befreiung des „Opfers“ durch radikale Besinnung auf sich selbst.
Formale Schwerpunkte
  • Trennung der Hauptfigur in junges, abhängiges und reflektierendes, erwachsenes Ich
  • Vermischung zweier Zeitebenen
  • Einfügen von zeitlupenhaften Traumsequenzen 
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre/ Jahrgangsstufe 10/11
  • geeignet für den Deutsch-, Ethik- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Iphigenia, eine junge Starpianistin mit fantastischen Karriereaussichten, kann das Verschweigen nicht länger ertragen. Dass ihr Onkel Menelaos sie als Kind und Jugendliche missbraucht hat, scheint in ihrer Familie jeder zu wissen, aber niemand spricht darüber. Ihre Mutter Klytaimnestra weiß als erfolgreiche Theaterschauspielerin wie man die Wirklichkeit überspielt. Sie hat ihre Tochter nicht vor den Übergriffen des Onkels geschützt und rät ihr auch jetzt, das Ganze nicht an die große Glocke zu hängen, weil es nur alles wieder aufrühren und im Endeffekt nichts nützen würde. Ihr Vater Agamemnon ist Ethikprofessor und steht kurz vor der Veröffentlichung eines Buches über Täter und Opfer. Um Ruf und Karriere nicht zu gefährden, bittet er Iphigenia zu schweigen. Sie stimmt zunächst zu und opfert damit ihr eigenes Leben für den Vater:  Sie verlässt Achill, den Mann den sie liebt. Sie bricht sich die Finger, um nie wieder Klavier zu spielen. Sie flieht auf eine Insel. Dort begegnet sie nach zwanzig Jahren ihrem jüngeren Ich und ihrem Bruder Orest, der die an der Situation zerbrochene und alkoholkranke Mutter getötet hat. Die erwachsene Iphigenia blickt zurück auf ihre dysfunktionale Familie und entscheidet sich gegen Rache und für ein selbstbestimmtes Leben.

Mögliche VorbereitungeN
  • Referate zum „Iphigenie“-Mythos
  • Vergleich zwischen dem Drama von Euripides und dem von Goethe über Inhaltsangaben 
  • Vorstellung der Fassung von Joanna Bednarczyk
  • Diskussion: Frauen als Opfer?
  • Diskussion: Die „Me Too“-Bewegung – Anlass und Konsequenzen

Speziell für den Theaterunterricht

Übungen zur Wirkung von Zeitlupe
Übung 1

Raumlauf, dabei ganz bewusst ein Bein heben, langsam absetzen (Fuß abrollen von Hacke bis Zehenspitze), dann das zweite Bein ebenso langsam nachziehen und aufsetzen. Jede einzelne Bewegung muss dabei ganz bewusst und exakt ausgeführt werden.

In einem zweiten Schritt können die Arme mit dazu genommen werden.

Übung 2
  • Tempo 0: Freeze
  • Tempo 1: Zeitlupe
  • Tempo 2: langsames Gehen
  • Tempo 3: neutrales, alltägliches Tempo
  • Tempo 4: eiligeres Gehen 
  • Tempo 5: angestrebtes, sehr eiliges Gehen, nicht Rennen (man muss den Bus noch erreichen)

Spielleitung gibt unterschiedliche Tempo für Raumlauf an. 

Übung 3

Spielleitung bestimmt ein:e Spieler:in, der nur Tempo 1 geht, alle anderen in Tempo 4 oder 5. 

Danach umgekehrt: Alle in Tempo 1, ein:e Spieler:in in  Tempo 4 oder 5. Zwei Spieler:innen zum Zuschauen und Feedback geben; Wirkung besprechen.

Statuen bauen

Ein:e  Spieler:in geht an die Rampe der Bühne, verkörpert mit Körper und Mimik eine Emotion. Ein:e Spieler:in kommt dazu, ergänzt diese Emotion, indem er/sie eine andere Ebene einnimmt und seine/ihre Version der Emotion darstellt. Das gleiche macht ein:e dritte:r Spieler:in , evtl. ein:e vierte:r Spieler:in.

Zweiter Schritt: Alle Spieler:innen auf der Bühne rücken so dicht wie möglich zusammen.

Dritter Schritt: Alle Spieler:innen suchen einen gemeinsamen Fixpunkt auf der gegenüberliegenden Seite.

Zuschauer:innen erraten gezeigte Emotion, erläutern die  Wirkung der Veränderung in Schritt zwei und drei.