Der Sandmann

Verloren zwischen Wahn und Wirklichkeit – Charlotte Sprengers Inszenierung von Anna Calvis und Robert Wilsons Produktion „Der Sandmann“ nach E.T.A. Hoffmann.

Foto: Emma Szabó

DIE KRITIK

Ein merkwürdiger Kauz tastet sich durch das Publikum zur Bühne. Staunt. Da ist ein üppiges Büffett, davor ein runder Tisch und ein Durcheinander von Klappstühlen, hinter dem Büffett thront auf einem Podest eine dreiköpfige Band (Bühne: Aleksandra Paviović).  Stille. Wie im Traum inspiziert der Kauz einzelne Teile, bis plötzlich energischen Schrittes ein Kellner die Bühne betritt. Zielgerichtet ordnet er Gläser, arrangiert das Büffett, ignoriert den Fremden. Bis ihn dieser direkt anspricht: „Sie! Ich kenne Sie!“ Und der Kellner mit einem irritierten: „Verzeihung..?“ antwortet.

Keine weiß geschminkten Gesichter, keine marionettenhaften Bewegungen

Zweifellos ein eindrucksvoller Beginn in Charlotte Sprengers knapp 100minütigen Inszenierung von „Der Sandmann“. Die Musikerin Anna Calvi und der Theaterkünstler Robert Wilson hatten auf der Basis von E.T.A. Hoffmanns Erzählung eine eigene Version geschaffen und sie 2017 bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen und im Düsseldorfer Schauspielhaus aufgeführt. Von Calvi/Wilson hatte Sprenger offenbar keine Vorgaben. Ihre Arbeit kommt ohne typische Wilson-Charakteristika aus. Also keine weiß geschminkten Gesichter, keine marionettenhaften Bewegungen. Statt dessen – tja. So recht scheint sie nicht zu wissen, wie sie diese dunkle Geschichte um den Studenten Nathanael anpacken soll. Dessen traumatische Erlebnisse in der Kindheit beeinflussen ihn auch als Studenten. Wahn und Wirklichkeit verschwimmen. In toten Gegenständen wie der Puppe Olympia sieht er eine lebendige Frau, in die er sich verliebt, glaubt aber in seiner Verlobten Clara einen kalten Automaten zu erkennen. Schuld daran ist der Sandmann. In Nathanaels Kindheit hatte seine Mutter diese Märchenfigur im Zusammenhang mit einem Besucher erwähnt, dem furchterregenden Coppelius. Schon damals vermischte Nathanael die Mär vom Sandmann, der Kindern Sand in die Augen streut, mit seinen heimlichen Beobachtungen der alchimistischen Experimente zwischen seinem Vater und  Coppelius und seinen Alpträumen. Coppelius ist für Nathanael derjenige, der ihm die Augen ausreißt. Der Händler Coppola, der ihm  Jahre später ein Fernrohr verkauft, das Nathanaels Sicht auf die Wirklichkeit verzerrt, scheint für ihn identisch mit Coppelius.

„Welcome to my own Beerdigung.“

Die Vermischung von Traum, Wahn und Wirklichkeit hält Sprenger nach dem starken Einstieg zunächst durch. Merlin Sandmeyers Nathanael irrlichtet in tranceartigen, teilweise ins Akrobatische kippenden Bewegungen durch das Szenario. Dass er nicht von dieser Welt ist, macht André Szymanski als Kellner namens Coppola mit seiner präzisen Geschäftigkeit im Kontrast deutlich. Wenn Nathanael in seinem Brief an Freund Lothar von seinen Erlebnissen erzählt, versammeln sich die matronenhafte Mutter (Gabriela Maria Schmeide), seine spätere und hier recht handfeste Verlobte Clara (Toini Ruhnke) und  der farblose Freund Lothar (Pascal Houdus) um den Tisch. Sie sprechen mit einem anderen, unsichtbaren Nathanael. Den realen sehen sie nicht an. Irgendwann aber verwässert das Ganze. Das eigentliche Zentrum der Geschichte – das Augenmotiv, das klare Sehen und das Nicht-mehr-seinen-Augen-trauen – verliert sich. Möglich, dass es an den sehr langen Textpassagen liegt, die vor allem Sandmeyer zu bewältigen hat und die er durch die körperliche Illustration einzelner Worte farbig zu gestalten versucht. Dadurch generiert er zwar Lacher, Sinn ergibt es nicht. Unklar ist auch, warum plötzlich drei Kinder als die frühe Version von Nathanael, Clara und Lothar auftauchen und für eine gefühlte Ewigkeit ohne erkennbare Bedeutung auf der Bühne herumsitzen. Nathanaels Ende (er begeht Selbstmord) wird zu einer Show umgestaltet, bei der sich Sandmeyer mit einem aufgekratzten „Welcome to my own Beerdigung“ an das Publikum wendet. Ein Regieeinfall, okay, aber ohne erkennbare Zielführung. Gut, dass das Ensemble auf verlässlich hohem Niveau spielt und singt (wobei die Songs im Rahmen dieser Geschichte oft harmlos wirken und bis auf ganz wenige wirklich zünden). Insofern ist dieser recht langatmige unentschiedene Abend nicht ganz verschenkt.

https://www.thalia-theater.de/stueck/der-sandmann-2021

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Vermischung von Wahn und Wirklichkeit
  • Auswirkungen von traumatischen Kindheitserlebnissen auf das Leben als Erwachsener
  • Aussichtsloser Kampf der Vernunft
Formale Schwerpunkte
  • Kontrastierung von Traum/Wahn und Wirklichkeit durch unterschiedliche Tempi
  • Illustration des Geschehens/ der inneren Befindlichkeit durch Songs
  • Bebilderung einzelner Worte durch Bewegungen, Körperhaltungen
  • Karikieren von Begriffen durch überspitzte Betonungen und/oder Aussprachen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre; ab Klasse 10/11
  • empfohlen für Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Auf der Basis von E.T.A. Hoffmanns spätromantischer Erzählung haben Anna Calvi und Robert Wilson eine eigene Version geschaffen, die die Grundzüge von Hoffmanns „Der Sandmann“ beibehält: Der Student Nathanael schreibt in einem Brief an seinen Freund Lothar, dass er vor kurzem einen Händler getroffen hat, der ihm ein „Wetterglas“ (bei Hoffmann: „Perspektiv“, einer Art Fernrohr) aufgedrängt hat. Der Händler namens Coppola erinnert ihn stark an den unheimlichen Coppelius, einen Besucher seines Vaters, der sein Kindheitstrauma bedingt hat. Wann immer sich Coppelius ankündigte, wurde der kleine Nathanael mit der Geschichte vom Sandmann ins Bett geschickt, der, so die Erklärung der Mutter, den Kindern Sand in die Augen streut. Nathanael vermischt diese Mär mit dem Anblick von Coppelius, der mit dem Vater alchimistische Experimente veranstaltet, bei denen der Vater letztlich zu Tode kommt. Nathanael glaubt/träumt, dass Coppelius ihm die Augen ausreißen wolle, um sie für weitere Experimente zu verwenden. Dieser Alptraum manifestiert sich zu einem regelrechten Wahn, der auch den erwachsenen Nathanael in seiner Wahrnehmung bestimmt. Seine vernunftorientierte Verlobte Clara versucht seine Ängste mit dem Kindheitstrauma zu erläutern und ihm zu helfen, die Wahnvorstellungen als etwas Irreales anzuerkennen, allerdings ohne Erfolg. Durch das von Coppola erstandene Fernrohr wird seine Sicht auf die Wirklichkeit weiter verändert. Er sieht in der von seinem Professor Spalanzani gestalteten Puppe Olympia eine begehrenswerte Frau und in Clara, die ihn über den Irrtum aufklärt, einen leblosen Automaten. In seinem Wahn stürzt Nathanael sich von einem Turm in den Tod.

Mögliche VorbereitungeN
  • Lektüre der Erzählung „Der Sandmann“
  • Über Referate oder als vorbereitende Aufgabe: Grundzüge der Romantik an verschiedenen Gedichten im Vergleich zur Aufklärung
  • Interpretation des Gedichts von Novalis:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wisen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Gedichten
erkenn die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt von einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Speziell für den Theaterunterricht

Vorlesen – Gehen – Stehen bleiben

Die Lehrkraft liest die Inhaltsangabe langsam vor, dabei steht die Gruppe in einer Reihe und geht während des Vorlesens langsam Schritt für Schritt voran. Jede*r bleibt an der Stelle stehen, die ihm/ihr interessant erscheint und nennt im Anschluss den Aspekt, bei dem er/sie stehen geblieben ist. Anschließend werden diese Punkte der Reihe nach abgefragt und auf einzelnen Zetteln notiert, auch wenn mehrere denselben Aspekt genannt haben, denn hier zeichnen sich bereits Schwerpunkte ab. Um den gesamten Inhalt zu erfassen, wird dieser Vorgang noch einmal wiederholt: Vorlesen – Gehen – Stehen bleiben – Stichwörter notieren.

Danach bietet sich die Möglichkeit, über diese Themen zu recherchieren und Diskussionen zu führen oder – im Theaterunterricht- mögliche Darstellungsformen zu überlegen.

Erläuterungen und Übungen zu Energie (nach Lecoq)

Level 2 – der entspannte Körper

Die Bewegungen sind rund, weich; keine Anspannung, Leichtigkeit, bei-sich-sein

Level 3 – der ökonomische Körper

Ökonomische, funktionale Bewegungen, wenig (neutrale) Spannung; keine runden Bewegungen, keine Absicht; es gibt weder Zuneigung noch Konflikt. Innere und äußere Spannung sind gleich, dazwischen immer klare Brüche. Es gibt keine Grauzonen. 

Level 4 – der getragene Körper
Es gibt nichts Bedrohliches, man ist bereit für alles; konfliktlos; alle Sinne sind wichtig; man reagiert; was stattfindet, kommt aus dem Umfeld.

Die Körper sind offen, Mimik und Gestik ebenfalls; Neugier, zugewandt; weiche Bewegungen; 

Spannung: Innen hoch, außen weniger 

Übungen zu Level 3

Stühle tragen: Fünf Stühle an eine Seite. Aufgabe: ein:e Spieler:in trägt nach Anweisung den Stuhl auf die andere Seite; 

Variante: funktionales Lächeln, ohne Emotion

Zwei Gruppen: Gruppe A soll Stühle an die eine Seite stellen, B an die gegenüberliegende: alle Spieler:innen bleiben in Level 3. Es gibt keine Konflikte.

Variante: 

Ein:e Spieler:in bekommt Auftrag in Level 4 den Stuhl zu nehmen, die anderen bleiben in Level 3. Erst wenn der/ die Spieler:in den Stuhl abgibt an jemand anderen, wechselt er/sie in Level 3 zurück.

Variante: Eine:r in Level 2 kommt dazu, wenn er/sie den Stuhl abgibt, ist er/sie wieder in 3.

Variante: jede:r sucht sich ein eigenes Level, bei Abgabe des Stuhls, Rückfall in Level 3 

Übung zu Level 2-4

Spieler:in trägt Gegenstand über die Bühne: In Level 3, dann 4, dann 2. NICHT SPIELEN

Alle sitzen auf Stühlen, lassen los, extreme Entspannung, nichts wollen (Level 2)

Wirkung besprechen.