Der Prozess

Es gibt keine Anklage, kein Verfahren, nur eine mysteriöse Verhaftung und die verzweifelte Suche nach der eigenen Schuld. Zu Michael Thalheimers Inszenierung von Kafkas Roman am Thalia Theater.

Josef K. (Merlin Sandmeyer, li) trifft auf seltsame Figuren wie Leni (Marina Galic) – Foto: Armin Smailovic

Die Kritik

Nackt steht er da, schutzlos. Umgeben von einem wabernden psychedelischen Farbspiel, dazu untergründig pulsierende Elektroklänge. Die Bühne dreht sich, der folgende Raum ähnelt dem ersten, der nächste auch – und der Mann steht immer noch da in diesem irren Kreislauf.  Geschieht das alles im Inneren seines Kopfes? Ist er in einer äußeren Situation, einem labyrinthischen System gefangen? Ausweglos erscheint das eine wie das andere. 

Mit einem starken Bild beginnt „Der Prozess“ in der Inszenierung von Michael Thalheimer. Das Ausgeliefertsein des Protagonisten Josef K. an eine undurchdringliche, sein Leben dominierende Situation bringt der Regisseur zusammen mit Bert Wrede (Musik), Sven Baumelt (Sounddesign), Henrik Ahr (Bühne) und Ramses Rienecker (Video) auf den Punkt, ohne dabei eine Deutungsrichtung festzulegen. Unentschieden ist das nicht, denn wer sich mit Kafkas Werk auseinandergesetzt hat, weiß, dass es keine Eindeutigkeit gibt. Psychologische, philosophisch-religiöse, biografische und politische Interpretationen sind alle gleichermaßen schlüssig, in der Offenheit liegt der Reiz seiner Texte. Ein Regisseur wie Michael Thalheimer scheint für die Umsetzung eines von Kafkas Romane wie geschaffen. „Der Konzentrator“ wurde er vor Jahren in einem Porträt der Süddeutschen Zeitung genannt. Seine Arbeiten fokussierten sich auf eine Bild- und Körpersprache, ließen vom Text nur das Notwendige übrig oder verfremdeten ihn derart, dass er eher als Sound, denn als Bedeutungsträger fungierte. 

Thalheimer lässt nacheinander alle Romanfiguren auftreten.

„Der Prozess“ scheint ihn allerdings in die Knie zu zwingen. Thalheimer, mit Dramaturgin Emilia Heinrich auch verantwortlich für die Bühnenfassung am Thalia Theater, inszeniert zum ersten Mal einen Roman von Kafka und er folgt ihm an dem zweistündigen Abend werktreu Kapitel für Kapitel: Josef K. wird aus heiterem Himmel an seinem 30. Geburtstag von zwei Männern verhaftet, ohne je den Grund dafür zu erfahren. Seine Versuche, seine Schuld zu ergründen und ein Gericht zu finden, scheitern. Jeder, den er trifft, scheint mit einer höheren Instanz, dem Gericht, in Verbindung zu stehen, ihm aber nicht weiterhelfen zu können. Thalheimer lässt nacheinander von K.’s Wirtin Frau Grubach (Christiane von Poelnitz) über seine Zimmernachbarin Fräulein Bürstner (Pauline Rénevier) oder den Kaufmann  Block (Stefan Stern) tatsächlich alle Romanfiguren auftreten. In der sich drehenden, wiederholenden Welt Josef K.’s erscheinen sie verzerrt, mit eigentümlichen Posen und Gesten und irrem Lachen. Mit ihren Massen von teilweise rhythmisch gesprochenem Text erschlagen sie den oft stumm am Rand stehenden Josef K. Aber auch das Publikum, das irgendwann den Faden zu verlieren droht. 

Das Ensemble spielt einmal mehr auf sensationell hohem Niveau.

Wäre da nicht das grandiose Ensemble. Das spielt einmal mehr auf sensationell hohem Niveau. Merlin Sandmeyer als Josef K. ist eine stille, unterdrückte, irgendwann sich windende Gestalt. Blass, verängstigt und hilflos einer unbekannten Schuld ausgesetzt. Als Einziger spielt er seine Rolle durchgängig. Marina Galic, Johannes Hegemann, Christiane von Poelnitz, Pauline Rénevier, Falk Rockstroh und Stefan Stern zeigen unterschiedliche Figuren, jede mit einer eigenen, artifiziellen Körpersprache. Alptraumhafte Gestalten, die über K. herrschen und ihn in seiner Hilflosigkeit alleine lassen. Grandios ist hier von Poelnitz als Advokat mit einer monströs-absurden Textkaskade oder Marina Galic als Geistlicher. In einem weißen Anzug (Kostüm: Michaela Barth) steht sie, die Arme wie zu einem Kreuz vom Körper abgespreizt, an einer dunklen Wand.  Alle Farben sind erloschen, sie spricht die Parabel  „Vor dem Gesetz“ und damit K.’s Urteil. Nackt wie zu Beginn wird er abgeführt. Mit einem Plastiksack über dem Kopf stirbt er „wie ein Hund“.  Dann wird es dunkel. 

Weitere Informationen unter:https://www.thalia-theater.de/stueck/der-prozess-2023

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche SchwerpunkTe
  • die Annahme einer nicht näher definierten Schuld
  • der Einzelne in labyrinthischen Strukturen
  • die Suche nach dem Verstehen, nach Befreiung
  • das Scheitern
Formale Schwerpunkte
  • Überzeichnung der Figuren (außer K.) über Posen, Bewegungen und Stimme
  • mehrmalige Wiederholung  von Sätzen und Begriffen
  • Undefinierbarkeit des Raumes
  • durchgängige Untermalung des Spiels durch Sound 
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • ab 16/17Jahre, ab Klasse 11/12
  • für Philosophie-, Deutsch- und Theaterunterricht 
Zum Inhalt

Am Morgen seines 30. Geburtstages wird der bisher unbescholtene Bankangestellte Josef K. in seinem Zimmer von zwei Unbekannten verhaftet. K. wird weder der Grund dafür erklärt, noch hat er die Möglichkeit, sich an das Gericht zu wenden. Er darf seinem täglichen Leben nachgehen, wird von nun an aber ständig mit einem System konfrontiert, das er nicht versteht. Seine Versuche, die Situation zu klären, scheitern. Er trifft auf bizarre Gestalten, die auf ihn einreden, ihm aber nicht weiterhelfen können. Sie alle scheinen irgendwie mit dem Gericht als oberster Instanz in Verbindung zu stehen, nur K. steht außerhalb. Als er schließlich im Dom auf einen Geistlichen trifft, erzählt ihm dieser die Parabel von dem Mann vom Lande, der in das  hierarchisch gegliederte Gesetz gelangen möchte, daran aber von einem Türhüter gehindert wird. Der Mann stirbt vor dem Eingang, der nur für ihn bestimmt war, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Die Parabel „Vor dem Gesetz“ spiegelt die Situation von Josef K. wieder. Er wird von zwei Wächtern abgeführt und getötet, ohne je den Grund für seine Verhaftung und damit für seine Schuld erfahren zu haben.

 

Mögliche VorbereitungeN
Über Referate, in Gruppenarbeit oder als vorbereitende Hausaufgabe:
Im Unterrichtsgespräch:
  • Beschreiben von K.’s Situation
  • Was bedeutet kafkaesk?
Speziell für den Theaterunterricht
Übungen zu Mimik/Gestik/Posen/Bewegungen 
Überzeugen

Die Gruppe geht in Zeitlupe im Raumlauf. Die Spielleitung gibt eine Emotion, einen Zustand vor; Gruppe versucht sie so groß und übertrieben wie möglich umzusetzen. Die Gruppe schließt sich derjenigen/ demjenigen an, deren/dessen Ausdruck sie am meisten überzeugt und ahmt  Mimik/Gestik nach.

Small- Medium- Large

Die Spielleitung teilt Dreiergruppen ein. A, B, C sitzen nebeneinander,  A macht eine Geste/ Grimasse/ Bewegung, B nimmt sie auf, vergrößert sie, C vergrößert sie ins Überdimensionale. 

Liebe-Hass-Angst
  • Alle gehen in den Raumlauf. Gibt die Spielleitung das Wort  „Liebe“ vor, sucht jeder sich sofort einen Partner / eine Partnerin, mit dem er / sie „Liebe macht“. Die Spieler:innen  dürfen  nicht sprechen und sich nicht berühren. Nach ein paar Sekunden wird aufgelöst.
  • Raumlauf. Die Spielleitung gibt „Hass“ vor und jede:r sucht sich einen neuen Partner/ eine neue Partnerin, um sich gegenseitig zu hassen. Auch hier darf nicht gesprochen und sich nicht berührt werden. Nach ein paar Sekunden wird aufgelöst- 
  • „Liebe“ und „Hass“ werden ein paar Mal durchgespielt, dabei kommen immer wieder die gleichen Partner zusammen wie beim ersten Mal.
  • Anschließend nennt die Spielleitung „Angst“ und jeder sucht sich eine andere Person als bei Liebe und Hass,  um gegenseitige Angst auszudrücken (wieder ohne zu sprechen und ohne sich zu berühren).
  • Am Ende nennt die Spielleitung willkürlich „Liebe“, „Hass“, „Angst“ in wechselnder Abfolge und lässt die Spielenden immer kürzer zusammen gehen, wobei  immer wieder dieselben Partner zu den gleichen Gefühlen genommen werden sollen. 
Den Rhythmus durchbrechen

(zwei Spieler:innen im Wechsel als Zuschauer:innen, um Wirkung zu besprechen)

Die Spielleitung gibt vor: Jede:r sucht sich eine Linie. Verfolgt diese Linie in einer Gangart eurer Wahl so lange, bis ihr euren Rhythmus gefunden habt. Auf Impuls der Spielleitung brecht ihr aus dem Rhythmus aus (anderes Tempo, andere Gangart, andere Ebene). > mehrmals wdh.

Nehmt euren Rhythmus aus der vorigen Übung wieder auf. Wenn ihr jetzt jemandem begegnet, seht ihn an, dreht euch so lange nach ihm um, wie es geht. Dann setzt ihr euren Gang fort.

Variation:

Im Rhythmus gehen (s.o.). Auf Impuls der Spielleitung den Ablauf unterbrechen und in der Reihenfolge winken, lachen, sich zusammenkauern 

Die Masse und der/die Einzelne

(zwei Spieler:innen im Wechsel als Zuschauer:innen, um Wirkung zu besprechen)

Raumlauf, auf Impuls der Spielleitung findet sich Gruppe als Pulk zusammen, Blickrichtung nach vorne, alle ganz eng zusammen, jeder muss den anderen spüren.  Augen zu, einatmen gemeinsam, gemeinsamen Rhythmus finden, gemeinsam schwanken, auf die Zehenspitzen gehen, sich nach vorne beugen.

Pulk öffnet auf Zeichen der Spielleitung die Augen. Ein: e  S verlässt den Pulk, 

  • wandert hin und her- Pulk verfolgt ihn mit den Oberkörper, Kopfhaltung, Augen
  • dreht Pulk den Rücken zu, um sich Schuhe zuzubinden  – Pulk nach vorne, neugierig
  • rennt zornig auf Pulk zu – Pulk schreckt nach hinten zurück (Oberkörper, evtl. Schritt nach hinten)
  • schneidet Grimassen in Richtung Pulk – Pulk beginnt zu lachen
Drei Plätze im Gericht

Alle Spieler:innen suchen sich im Raum drei Plätze, dabei möglichst in weitem Abstand zueinander. Spielleitung legt den übergeordneten Ort fest: „Gericht“.

  • Die Spielenden stehen auf Impuls der Spielleitung  auf und gehen von Platz zu Platz. Auf jedem Platz nehmen sie eine andere, für sie zu der Situation „Gericht“ passende  Haltung ein. Wenn sie den Platz wechseln, passen sie ihre Gangart der Situation an. Hier sind Veränderungen möglich. 
  • Auf den jeweiligen Plätzen finden Bewegungen statt, beim Gehen von Platz zu Platz werden andere Figuren wahrgenommen, man reagiert (ohne Worte).
  • Die Spielleitung gibt zusätzlich eine Stimmung vor: ängstlich, gelangweilt, aufgeregt, selbstsicher, diktatorisch. Spieler entwickeln bei Begegnungen jetzt kurze Sätze oder Ausrufe, die der vorgegeben Stimmung entsprechen. 

(zwei Spieler:innen im Wechsel als Zuschauer:innen, um Wirkung zu besprechen)