Kann man einen Film wie Fatih Akins „Aus dem Nichts“, der 2018 mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurde, auf eine Theaterbühne bringen? Ohne, dass Themen wie das Entsetzliche, die Wut und der Zweifel am Rechtsstaat verloren gehen? Man kann. Klaus Schumacher und Stanislava Jeviç haben nach dem gleichnamigen Film eine überzeugende Bühnenfassung geschrieben, Schumacher hat sie im Jungen Schauspielhaus mit sparsamen Mitteln packend inszeniert.
Die Kritik
Die Explosion und dann die Schreie der Mutter wie bei einem zu Tode gefolterten Tier. „Ich will zu meiner Familie!“, brüllt Katja (Anastasia Lara Heller) und wird mit Gewalt von den Umstehenden (Christine Ochsenhofer, Parma Yaghoubi Pour, Payam Yazdani) daran gehindert. Eine Nagelbombe hat das Büro ihres Mannes vollkommen zerstört. Er und die kleine Tochter sind dabei ums Leben gekommen. Die Polizei vermutet dahinter Bandenkriminalität, schließlich hat Katjas türkischer Ehemann schon mal wegen Drogendealerei für vier Jahre im Gefängnis gesessen. Dass er im Knast ein BWL-Studium absolviert und danach ein Übersetzungs- und Steuerbüro gegründet hat, interessiert nicht. Vielleicht sei das Ganze ja auch ein islamistischer Anschlag oder einer der türkischen, kurdischen oder albanischen Mafia. Katjas Vermutung, dass die Täter im Nazi-Milieu zu suchen sind, wird erst einmal nicht verfolgt. Als die sich aber als richtig erweist und die Täter gefasst und vor Gericht gebracht werden, bekommen sie aus Mangel an eindeutigen Beweisen einen Freispruch. Katja scheint am Rechtsstaat zu verzweifeln und überlegt, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen.
„Wir wissen nicht, ob diese Geschichte in allen Teilen der Wahrheit entspricht.“
Zwischen 2000 und 2006 verübte die Terrorgruppe Nationalsozialister Untergrund (NSU) eine Reihe von rassistisch motivierten Morden. In seinem Film „Aus dem Nichts“, in dem es um einen fiktiven Terroranschlag eines Nazi-Paares geht, hat Fatih Akin darauf Bezug genommen. Im Fokus steht bei ihm das Leid der Mutter Katja und ihr Verzweifeln an einem Rechtsstaat, der auf dem rechten Auge blind zu sein scheint und eher die Opfer zu Sündenböcken macht als nach den wahren Tätern zu suchen. In Zeiten, in denen der Rechtsextremismus weltweit und gerade auch in Deutschland auf dem Vormarsch ist, schien es Klaus Schumacher und Stanislava Jević geboten, Akins Film als Grundlage für eine – wie sich herausstellt durchaus gelungene – Bühnenfassung am Jungen Schauspielhaus zu nehmen. Sie folgt der Geschichte in den wesentlichen Punkten, stellt aber am Ende Katjas Selbstjustiz in Frage und verweist – man hat es hier vornehmlich mit einem Publikum zwischen 14 und 18 Jahren zu tun- auf alternative Möglichkeiten. Schumacher hat die Geschichte mit nur vier Schauspielenden inszeniert. Außer Anastasia Lara Heller als Katja übernehmen Christine Ochsenhofer, Parma Yaghoubi Pour und Payam Yazdani im Wechsel alle anderen Rollen sowie die der Erzähler.
„Wir wissen nicht, ob die Geschichte in allen Teilen der Wahrheit entspricht“, bekennen sie gleich zu Anfang und erläutern, dass sie eine „Geschichte von Hass und Dummheit“ erzählen werden, die ständig gegenwärtig ist. Wie ein Leitmotiv wiederholen sie diesen Einstieg innerhalb des 80minütigen Abends und ebenso oft wird die Explosion und Katjas Reaktion gespielt. Es bleibt im Kopf, es hört nicht auf. Schumacher bricht die Chronologie der Ereignisse auf, lässt zurückspulen zu dem Moment, als Katja die Tochter im Büro ihres Mannes abgibt, dann wieder zu dem Tag, als sie beide im Gefängnis heiraten. Drei verschiebbare Wände, die die sparsam ausgestattete Bühne (Katrin Plötzky) umrahmen, dienen als Projektionsfläche für Videos (Jürgen Salzmann) mit Katjas Erinnerungen und Träumen: die Hochzeitsparty mit den traditionellen Tänzen, der Urlaub mit der Familie am Meer, die Sehnsucht nach einer ewigen Vereinigung zu Dritt. Umso grausamer wirken die Wiederholungen der Explosionsszene. Mit wenigen Mitteln gelingt es Schumacher und seinem Ensemble, die Geschichte von Akins Film eindringlich und überzeugend auf die Bühne zu bringen.
Am zweiten Abend nach der Premiere besteht das Publikum überwiegend aus Schulklassen, viele Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund. Dass diese jungen medienverwöhnten Menschen, denen gemeinhin nur eine geringe Aufmerksamkeitsspanne zugesprochen wird, bis zur letzten Minute gebannt zuschauen, beweist, wie sehr die Inszenierung zu fesseln vermag. Und sie macht Hoffnung, dass Theater vielleicht auch etwas bewegen kann.
Weitere Informationen unter: https://junges.schauspielhaus.de/stuecke/aus-dem-nichts
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Ausländerhass und dessen Konsequenzen
- Sündenbockdenken
- Frage nach Rache und Selbstjustiz als Option
- Hoffen auf Gerechtigkeit durch Rechtsstaat
Formale SchwerpunKte
- Annahme unterschiedlicher Rollen im Kontext der Handlung
- Wechsel von Spielszenen und ein- oder weiterführenden Erzählpassagen
- Leitmotivische Wiederholung von Einführung und Schlüsselszene
- Videoprojektionen zur Darstellung von Erinnerungen und Träumen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 14 Jahre, ab Klasse 9
- empfohlen für den Geschichts-, Politik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
s. die unten angeführten Vorbereitungen vom Jungen Schauspielhaus
Mögliche Vorbereitungen
Eine ausführliche Vorbereitung bietet das Jungen Schauspielhauses an:
Audioeinführung:
https://soundcloud.com/hoerspielhaus/audio-einfuhrung-zu-aus-dem-nichts-im-jungen-schauspielhaus
Recherchetipps:
https://junges.schauspielhaus.de/sites/default/files/2025-01/Recherche-Tipps_Aus%20dem%20Nichts.pdf
Materialmappe:
Speziell für den Theaterunterricht
Die Situation des Anders-Sein, der Ausgrenzung könnte über die folgende Übung „Defekt“ spielerisch vorbereitet werden:
Die Gruppe geht zur Musik durch den Raum, jede:r probiert, sich dabei von einem unterschiedlichen Körperteil (Nase, Bauch, Knie o.ä.) beim Gehen führen zu lassen und wählt dann einen „Defekt“ für sich aus.
Die Gruppe stellt sich anschließend in einer langen Reihe mit dem Gesicht zum Publikum auf. Zwei Spieler:innen werden zum Zuschauen vor die Bühne gesetzt.
Die Spielleitung spielt eine Musik ein und der/die erste Spieler:in geht mit seinem/ihren „Defekt“ im Abstand von ungefähr 1,5 m an der Reihe ganz langsam entlang bis zum Ende und schließt sich der Reihe an. Während der/die Spieler:in an der Reihe vorbei geht, reagiert diese im Dominoverfahren Rei auf Ansagen der Spielleitung und behält die Position bei, bis das Ende der Reihe erreicht ist:
- mit ausgestrecktem rechten Arm auf die vorbei gehende Person zeigen
- die Hände vors Gesicht schlagen und die Schultern auf und ab bewegen
- breit grinsen und die Schultern auf und ab bewegen
- applaudieren
- sich überdies linke Schulter wegdrehen, so dass nur der Rücken zu sehen ist
- beide Arme der vorübergehenden Person entgegenstrecken
Besprechung im Kreis:
- Wie hat sich die „Defekt“-Person gefühlt? Wie die Reihe?
- Welche Wirkung hat diese Szene auf die Zuschauer?