Herr der Diebe

Erwachsen sein – das ist das Ziel für Bo, Prosper und die anderen Kinder in der Bühnenadaption von Cornelia Funkes Roman am Schauspielhaus.

Auf der Flucht im überfluteten Venedig – Foto: Thomas Aurin

DIE KRITIK

Prosper und Bo sind auf der Flucht. Ihre Mutter ist gestorben, Bo, der Jüngere der beiden, soll von Verwandten, den Hartliebs, adoptiert und Prosper in ein Heim abgeschoben werden. Die Jungs sind auf dem Weg nach Venedig, dem Sehnsuchtsort ihrer Mutter. Im Schauspielhaus turnen Jonas Bonham Neubauer (Bo) und Cedric Eich (Prosper) quer durch die Zuschauerreihen hin zur Bühne. Dort soll Venedig sein – aber wie sieht es hier aus? Alles ist überflutet, nirgendwohin kommt man mit trockenen Füßen. Und diese Stadt soll ein Traum sein? 

Markus Bothe (Regie) und Ralf Fiedler (Dramaturgie), die Cornelia Funkes Erfolgsroman „Herr der Diebe“ für die Bühne adaptiert haben, legen offenbar Wert darauf, neben der Geschichte auch das Klimaproblem anzusprechen. Gerade eine Stadt wie Venedig ist davon besonders betroffen, droht im Wasser zu versinken. Um das zu verdeutlichen, haben sie einen Touristenführer (Kola Schumann) eingeführt. Er trägt Öljacke und ist trotz der Krise dauergut gelaunt. Ohne erkennbare Motivation tritt er immer mal wieder vor das Publikum, doziert, was zum Beispiel Kreuzfahrtschiffe für die Stadt bedeuten, und betet Zahlen herunter. 

„Kinder sind iiiiiiiii!“

Doch zurück zur eigentlichen Geschichte. Bo und Prosper treffen schnell auf Wespe (Julia Frieß/Eva Bühnen), Riccio (Lasse Stadelmann), Mosca (Eileen von Hoyningen Huene) und ihren Anführer Scipio (Joey Nashaa Scholl). Sie leben ohne Eltern und halten sich mit kleinen und größeren Diebstählen über Wasser.  Ihr Refugium besteht aus einem durch Netze und Traversen verbundenen Ort über den Fluten, der nur mit Leitern zu erreichen und für Erwachsene nicht gleich zu finden ist (Bühne: Robert Schweer). Trotzdem kommt ihnen der Detektiv Victor Getz auf die Schliche. Yorck Dippe spielt ihn als etwas verplanten, kauzigen Typen. Kinder zu suchen gehört eigentlich nicht zu seiner Jobbeschreibung, aber den Auftrag des Ehepaars Hartlieb konnte er nicht ablehnen. Die hatten ihn engagiert, weil sie Bo doch adoptieren sollten und der nun einfach mit seinem Bruder verschwunden ist. Esther Hartlieb ist bei Jonas Hien (der auch den Hehler Barbarossa spielt) eine zickige, hartherzige Frau am Rande der Karikatur. Ihr Mann Max hat aufgegeben, sich gegen sie zu wehren. Markus John zeigt ihn mit breitestem Hamburgisch als Pantoffelhelden, der mit seinem „Jo“ Zustimmung vorgibt, aber eigentlich doch macht, was er will. Manchmal  schaltet er einfach auf Durchzug, manchmal stöpselt er sich die Ohren zu, um das ewige Gezeter nicht zu hören. Kinder kann er genauso wenig leiden wie seine Frau. „Kinder sind iiiiiiii“, singt er, begleitet von der als Gondoliere verkleideten Band (Christian Gerber, Sönke Rust, Matthias Trippner).

Scipio führt ein Doppelleben.

Bothe hat nicht nur die drei Musiker trefflich in Bühnenbild und Geschehen eingebunden. Der Marktplatz, das Innere einer Kirche oder das Büro von Scipios Vater lässt er auf der Drehbühne von Statist:innen aufbauen, die dem jeweiligen Ort entsprechend kostümiert sind. Das spart umständliche Szenenwechsel, die Geschichte behält das Tempo. Und auch eine Pause fällt aus – bei einer gut 100-minütigen Vorstellung für Kinder allerdings durchaus eine Herausforderung.

Aber es gibt ja genug, worüber sie staunen oder sich empören können, so dass die Zeit dann doch nicht zu lang wird. Da ist zum Beispiel Scipios gut situierter, erfolgsorientierter Vater, ebenfalls von John gespielt. Seinen Sohn kennt er kaum, er will nur gute Noten sehen und hat natürlich nicht die leiseste Ahnung, dass Scipio als Herr der Diebe ein Doppelleben führt. Scipio leidet unter dem lieblosen Elternhaus und möchte nichts lieber, als so schnell wie möglich erwachsen werden. Genauso geht es Bo und Prosper. Denn als Erwachsene können sie selbst über sich bestimmen und nicht mehr abgeschoben werden. 

Geht es nicht um die Sehnsucht all dieser elternlosen oder ungeliebten Kinder nach Wärme und Geborgenheit?

Helfen könnte ihnen dabei der Flügel eines Engels. Zufällig hat Scipio den Auftrag bekommen, ihn für einen ominösen Conte (ebenfalls Markus John) zu besorgen. Der Flügel stammt von einem Karussell, das Menschen verjüngen oder – in umgekehrte Richtung gedreht –  altern lassen kann. Bis die Kinderbande an den Flügel und das wunderbar vom Bühnenhimmel herunterfahrende glitzernde Karussell gelangt, gibt es noch ein paar Hindernisse. Zum Glück treffen die Kinder beim Einbruch in den Palast auf Sasha Raus sehr coole, lakonische  und selbstironische Ida Spaveto. Sie hilft den Kindern und bietet allen am Ende sogar bei sich ein Zuhause an.

Und geht es nicht eigentlich darum im „Herr der Diebe“? Um die Sehnsucht all dieser elternlosen oder ungeliebten Kinder nach Wärme und Geborgenheit? Fans von Cornelia Funke werden sich genau diese Fragen stellen. Bothes Inszenierung streift diesen Aspekt nur am Rande. Ihr Schwerpunkt ist der Wunsch der Kinder nach Selbstbestimmung. Bothe geht es vornehmlich um selbstbewusste, kritische Kindern, die den Klimawandel bekämpfen und deshalb schnell erwachsen werden müssen. Fragt sich nur, ob das junge Publikum dazu die Zaunpfahl-Pädagogik durch den Touristenführer braucht.

Schauspielhaus.de

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Die Sehnsucht, erwachsen zu werden.
  • Der Wunsch nach Selbstbestimmung
  • Die Solidarität der Kinder untereinander
  • Die Schäden des Klimawandels in einer Stadt wie Venedig
Formale Schwerpunkte
  • Bespielung des Zuschauerraums
  • Einbindung des Bühnenumbaus durch kostümierte Statist:innen
  • Einbindung der kostümierten Musiker in das Spiel
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen

ab 9 Jahre; ab Klasse 3/4

Zum Inhalt DER BÜHNENFASSUNG

Nach dem Tod der Mutter soll Bo von den wenig kinderlieben Hartliebs adoptiert und sein älterer Bruder Prosper in ein Heim abgeschoben werden. Um dem zu entgehen, fliehen die beiden Jungs nach Venedig, dem Sehnsuchtsort ihrer Mutter. Dort angekommen müssen sie feststellen, dass Venedig dem Untergang geweiht ist. Der Klimawandel hat die Stadt fest im Griff, große Teile stehen bereits unter Wasser. Auf dem überfluteten Markusplatz treffen die Brüder auf Wespe, dem Mitglied einer Kinderbande, die sich über der Stadt einen Rückzugsort gebaut hat. Die Kinder haben keine Eltern mehr oder werden, wie ihr Anführer Scipio, von ihnen nicht geliebt. Ganz auf sich gestellt müssen sie durch Diebstähle selbst für ihr Überleben sorgen. Eines Tages erhält Scipio den Auftrag, für 30.000 Euro den Flügel eines Engels zu besorgen. Der stammt von einem magischen Karussell, das Menschen verjüngen oder auch altern lassen kann. Die Sache scheint gar nicht so schwer zu sein. Allerdings gibt es Probleme innerhalb der Kinderbande, weil herauskommt, dass Scipio gar keine Waise ist, wie er vorgegeben hat, sondern aus einem wohlhabenden Elternhaus stammt, in das er ab und an zurückkehren muss. Die Kinder vertrauen ihm nicht mehr, die Bande droht zu zerbrechen. Außerdem ist Bo und Prosper der Detektiv Victor Getz auf den Fersen, den die Hartliebs auf die Jungs angesetzt haben. Dass die Geschichte letztlich gut ausgeht, liegt nicht nur daran, dass sich die Kinder wieder solidarisieren, sondern auch an Ida Spavento, die allen in ihrem Schloss ein Zuhause anbietet.

Mögliche VorbereitungeN

Ausgezeichnetes Unterrichtsmaterial zur Vor- und Nachbereitung bietet die Theaterpädagogik des Hamburger Schauspielhauses an unter: https://schauspielhaus.de/sites/default/files/2022-11/Materialmappe_Herr%20der%20Diebe.pdf