„Wir wollen uns ähnlich sein, um nicht aufzufallen“, sagt eine Figur in Meera Theunerts mitreißenden und klugen Inszenierung von „Im Spiegelsaal“ nach der Graphic Novel von Liv Strömquist. Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Fotos von Berühmtheiten geben Schönheitsideale vor, die wir kopieren. Mit dem Ergebnis, dass tatsächlich überall die gleichen Augenbrauen, Lippen und Frisuren zu sehen sind. Wer ist für dieses Diktum verantwortlich und wie gehen wir damit um? Das fragt ein junges Ensemble in der sehenswerten SchausSpielRaum-Produktion des Jungen Schauspielhauses.
Die Kritik
Die kunterbunte Truppe steht in Grüppchen, flüstert und kichert, bis alle im Publikum ihren Platz gefunden haben. Und dann: Blick in die Zuschauerreihen, ein gemeinsames Einzählen „Five. Six. Five. Six. Seven. Eight!“ – und los geht’s mit einem energiegeladenen Tanz zu Chappell Roan’s Song „Hot To Go“, immer mal wieder unterbrochen durch Slow Motion sowohl in der Musik als auch in den Bewegungen (Choreografie: Anna Kuch). Was für ein dynamischer, strahlender Einstieg in die neue SchauSpielRaum-Produktion „Im Spiegelsaal“! Grundlage ist Liv Strömquists 2021 erschienene gleichnamige Graphic Novel, die mittlerweile zu den meistverkauften der Welt zählt. Strömquist beschäftigt sich in einer Art Sachcomic mit dem Schönheitsbegriff, analysiert seine unterschiedlichen Definitionen vom Alten Testament bis heute und stellt Fragen, ohne Antworten zu geben. Ihr geht es vielmehr darum, Denkanstöße zu vermitteln, damit nächste Schritte geplant werden können. Denn Bilder, Fotos und der damit verbundene Schönheitsbegriff dominieren unsere heutige Gesellschaft mehr denn je.
„Who the fuck is Schneewittchen?“
Regisseurin Meera Theunert, zusammen mit Sofie Boiten auch für die Bühnenfassung verantwortlich, und das künstlerische Team des Jungen Schauspielhauses haben sich zusammen mit neun Spieler*innen zwischen 14 und 21 Jahren mit Strömquists Gedanken auseinandergesetzt und ihre Ideen dazu auf die Große Bühne gebracht. Die Figuren heißen nicht Lena oder Sascha, statt richtiger Vornamen heißen sie Blume, Engel, Deko oder Raubtier und sind als solche durch die fantasievollen Kostüme (Annabelle Gotha) erkennbar. Möglicherweise ein Hinweis darauf, wie sie sich fühlen oder wer sie im Inneren sind – und nicht, was Fotos an Äußerlichkeiten wiedergeben. Das neueste Statusfoto, das letzte Selfie auf Instagram – Fotos und Bilder beherrschen heute die Kommunikation. Verabredungen, Urlaubsgrüße, Befindlichkeiten werden darüber vermittelt. Das Äußere zählt, das sogenannte „Pretty Privilege“ bestimmt, wer es im Leben leicht hat und wer nicht. Mit bemerkenswerter Leichtigkeit und ansteckender Spielfreude bemächtigt sich das junge Ensemble der Textmassen, teilt sie auf, versetzt sie mit der eigenen Sprache. Die aus Grimms Märchen berühmte Frage „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ sprechen sie als Chor, bis jemand fragt: „Who the fuck is Schneewittchen?“ und jemand anderes überlegt, ob die an dem Schönheits-Contest wahnsinnig werdende Stiefmutter den Spiegel nicht einfach hätte stumm schalten sollen.
Die Texte sind klug, haben aber durchaus Witz und beschweren den 90minütigen Abend nicht. „Du kriegst Hass-Kommentare ohne Ende, nur weil du aussiehst, wie du aussiehst.“ Solche Sätze fallen und natürlich sprechen sie den meisten nicht nur jungen Menschen aus der Seele. Aber dann gibt es auch selbstbewusste wie „Das Bild demütigt mich. Aber ich bin nicht das Bild“ und die Frage, wer eigentlich für das Schönheitsideal verantwortlich ist. Ironisch werden Maßnahmen zur Selbstoptimierung (neue Frisur, jeden Tag ins Gym, Fett absaugen) in Szene gesetzt, einen mahnenden Zeigefinger haben Regie und Ensemble dem Publikum erspart. Das gilt auch für den Einsatz von Musik. Marilyn Monroe’s Song „I Wann Be Loved By You“ untermalt den Bericht über die 2600 Fotos, die der Fotograf Bert Stein von ihr bei einer Session gemacht haben soll, bis sie zusammenbrach. An anderer Stelle wird in einer poetischen Szene die Titelmelodie zu dem Film „Spiel mir das Lied vom Tod“ eingespielt. Dazu dreht der Darsteller des Engel den Ring mit den bunten Kostümen, läuft dabei immer schneller auf dem weißen Kreis in der Bühnenmitte (Bühne: Laura Robert) und wird erst mit dem Ausklingen der Musik wieder langsamer. Wer will, kann sich dazu seine eigenen Gedanken machen. Wie bei Strömquist gibt es auch hier keine Antworten. Nur eben viele Anstöße zum selber Nachdenken in einer dynamischen, mitreißenden und unbedingt sehenswerten Inszenierung.
Weitere Informationen unter: https://junges.schauspielhaus.de/stuecke/im-spiegelsaal
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
Auseinandersetzung mit dem Schönheitsbegriff
- Wer bestimmt, was schön ist?
- Seit wann gibt es Schönheitsideale?
- Welche Rolle spielen die Medien?
- Wie gehe ich damit um?
Formale SchwerpunKte
- Aufteilung verschiedner Textpassagen
- Kostüme und Namen als Darstellung des eigenen Empfindens
- Sichtbarmachung von Posts über Monitore
- Songs als Grundlage für Szenen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 13 Jahre, ab Klasse 7/8
- empfohlen für den Biologie-, Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht.
Zum Inhalt
Auseinandersetzung mit dem Schönheitsbegriff, Reflexionen und Berichte zur Kulturgeschichte.
Mögliche Vorbereitungen
In Gruppenarbeit oder als vorbereitende Hausaufgabe
- Recherche zum Schönheitsbegriff (Seit wann gibt es Schönheitsideale? Welche Art von Schönheitsidealen gelten wann und wo? Wer bestimmt Schönheitsideale? Welche Rolle spielt die Frau? welche das Patriarchat)
- Liv Stömquist über Ihren Comic „Im Spiegelsaal“ in Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/liv-stroemquist-ueber-ihren-comic-im-spiegelsaal-nachdenken-100.html
Im Unterrichtsgespräch:
Besprechung der Recherchearbeit
Speziell für den Theaterunterricht
Vorübungen
- Raumlauf, zielgerichtet. Einen Partner bei den Schultern fassen, neutral ansehen (Solar Plexus zählt, nicht Augen, nichts darüber legen). Der angehaltene Partner bestimmt, wann er wieder losgeht.
- Gehen durch den Raum, gemeinsame Gangart finden, Impulse aufgreifen. Achten auf peripheren Blick.
- Aus dem Raumlauf ohne zu sprechen zwei gleich starke Gruppen bilden, paarweise gegenüber stellen: Oberkörper hängen lassen, langsam gemeinsam aufrichten, einander in die Augen sehen, drei Schritte aufeinander zu gehen, rechten Arm angewinkelt heben, Winken, dann zum Mund führen (erschrocken), Arm runter, umdrehen (über rechts), Schulterblick: „Entschuldigung“, zurück gehen.
Track-Working zum Thema „Schönheit“
Die Lehrkraft teilt den Kurs in gleich große Gruppen ( bis 10 Mitglieder).
- Jedes Mitglied sammelt für sich 15 Symbole, die für ihn/sie mit dem gewählten Schwerpunktthema „Schönheit“ zu tun haben. dann einigt sich die Gruppe gemeinsam auf zehn Symbole, die in eine Reihenfolge gebracht und spielend dargestellt werden (chorisch, synchron).
- Die Gruppe probiert diese Symbole aus, indem sie Symbol 1 gemeinsam darstellt, dann gemeinsam einen Schritt in Richtung Bühnenrand geht, still steht und Symbol 2 darstellt, Schritt, Symbol 3 usw.
- Dazu sucht sich die Gruppe eine passende Musik und probt das gemeinsame darstellen und Gehen bis zur Rampe im Rhythmus.
- Präsentation und Feedback