Ein heller Stern bring Unerklärliches ans Licht. Zur spannenden, zwischen Komik und Tragik balancierenden Inszenierung von Viktor Bodo.
Die Kritik
„Ich will nicht nach Hause.“ Diese Erkenntnis trifft Kathrine (Julia Wieninger) wie ein Schlag. Eigentlich wartet ihre Familie in Bergen auf sie, ihr Mann Gaute (Yorck Dippe) schreibt ihr bereits per WhatsApp, dass er gekocht hat und sich auf sie freut. Aber Kathrine freut sich nicht. Im Gegenteil. Statt nach Hause zu fahren, übernachtet sie in einem Hotel und schwindelt ihrem Mann vor, den Flug von Oslo nach Bergen verpasst zu haben. Was plötzlich mit ihr los ist, versteht sie nicht. Gefühle und Wahrnehmungen scheinen verschoben, Unerklärliches bricht sich die Bahn in den normalen Alltag.
Es liegt wohl an dem hellen Stern, dem sogenannten Morgenstern. Als hellstes Gestirn erscheint er vor Sonnenaufgang. In der Antike nannte man ihn „Lucifer“, im Christentum steht aber dieser lateinische Name für den Teufel, während die Christen selbst diesen „Lichtbringer“ mit Jesus gleichsetzten.
Menschen beginnen ihre gesamte Existenz in Frage zu stellen.
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård hat nach seinem autobiographischen sechsbändigen Projekt eine neue, auf vier Teile angelegte Reihe begonnen. Sein eigenes Leben ist diesmal nicht Thema, sondern das aus dem Gleichgewicht geratenen Verhältnis zwischen Mensch und Natur. „Der Morgenstern“, 2022 in Deutschland erschienen, macht den Anfang. Die überarbeitete Fassung der bereits vorhandenen Theateradaption ist jetzt im Schauspielhaus zu sehen. Und wie!
Regisseur Viktor Bodo und sein 14köpfiges Ensemble entfalten ein klug ausbalanciertes Kaleidoskop menschlicher Existenzen, in deren Alltag das Unerklärliche hereinbricht. Jane Zandonai hat dafür eine spektakuläre Bühne gebaut: Da gibt es unterschiedliche, voneinander getrennte Räume, die sich beim Rotieren der Drehbühne immer wieder verändern. Die durch Streben gehaltenen Rückwände werden sichtbar und suggerieren eine Stadt oder einen nicht fassbaren Raum, während rechts, links und darüber Videoprojektionen (Bors Ujvari) die gespielten Szenen verdoppeln, spiegeln, heranzoomen oder ihnen von oben aus der Draufsicht eine verfremdete Perspektive geben.
So blickt vielleicht der Stern auf die Menschen herab. Oder die seltsame Gestalt, die manchmal auftritt, sich „der Herr“ nennt und Dinge weiß, die ihr niemand erzählt hat. Menschen wie die Pastorin Kathrine beginnen an ihrem (bisherigen) Leben zu zweifeln, ihre gesamte Existenz in Frage zu stellen. Sie nehmen Unerklärliches wahr, ihr Verstand kapituliert vor dem, was plötzlich über sie hereinbricht. Die Allgegenwärtigkeit des Todes drängt sich ihnen auf und wird zur Blaupause ihres Lebens. „Du bist gerichtet.“ – Diesen Satz meint der zum Kulturjournalisten degradierte Investigativ-Reporter Jostein (Samuel Weiss) gehört zu haben. Er ist eine Labertasche, ein Alkoholiker, der seine Frau Turid (Ute Hennig) mit der Künstlerin (Sasha Rau) betrügt. Er wacht erst auf, als Turid ihm vom Selbstmordversuch des gemeinsamen Sohnes Ole (Leonard Tondorf) erzählt. Völlig aus der Bahn gerät der Arzt Frank (Christoph Jöde), als ein vermeintlich Toter wieder die Augen aufschlägt.
Bei der Beerdigung verpatzt der Organist den Einsatz.
Das an sich schwere und düstere Thema inszeniert Bodo mit bemerkenswerter Leichtigkeit. Gerade wenn es nichts mehr zu verlieren gibt, kitzelt er saukomischen Momente heraus. Bei der Beerdigung ohne Trauergäste – es handelt sich um einen sehr einsamen Menschen – verpatzt der Organist den Einsatz. Der pädagogisch einfühlsame Musiklehrer Gaute drückt versehentlich auf die falsche Taste seines Keyboards, als er seine Schülerin Iselin (Josefine Israel) beim Vorsingen begleitet. Statt Coldplay ist nun völlig durchgedrehter Techno zu hören. Patzer, die im Alltag vorkommen, auf der Bühne aber besonders komisch wirken. Es ist ein Vergnügen, dem großartigen Ensemble in den drei wie im Flug vergehenden Stunden zuzusehen. Bis zum Schluss bleibt es spannend, komisch, tragisch, berührend. Was für ein Abend!
https://schauspielhaus.de/stuecke/der-morgenstern
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Frage nach dem Sinn des Lebens
- Ratlosigkeit vor dem Unerklärlichen
Formale SchwerpunktE
- Einsatz von Live-Videos im Splitscreen
- Einbeziehung der ersten Zuschauerreihen
- Einbindung innerer Monologe in das Spiel
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 15/16 Jahre, ab Klasse 10
- empfohlen für Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Die Bühnenfassung von Armin Kerber hat das Personenregister des Romans auf vierzehn Figuren reduziert.
Ein sehr heller Stern, der sogenannte Morgenstern, bringt die Bewohner der norwegischen Stadt Bergen durcheinander. Oder besser: Er scheint ihnen in die Seelen zu leuchten und bislang Unterdrücktes wie Ängste oder Schuldgefühle an den Tag zu bringen. Der Tod ist dabei heimliches, aber allgegenwärtiges Thema. Was bedeutet Leben, wenn man doch sterben muss? Diese existenziellen Frage, die sich nicht jede*r aus Bergen ausdrücklich, aber wohl insgeheim, stellt, rüttelt an der bisherigen Art zu leben. Zum Beispiel bei der Pastorin Kathrine. Nach ihrem Aufenthalt in Oslo erkennt sie plötzlich, dass sie überhaupt nicht nach Hause zu ihrer Familie will und dass sie ihren Mann Gaute eigentlich gar nicht mehr liebt. Oder der allein lebende, auf sich fixierte Egil. Er kann mit seiner pubertierenden Tochter Vicky, die er eigentlich im 14tägigen Rhythmus sehen soll, nichts anfangen und konnte es wohl auch vor der Scheidung nicht. Oder die Ärztin Turid. Sie behandelt ihren Sohn Ole wie ein Kleinkind und will nicht sehen, dass er mittlerweile fast erwachsen ist und dem Haarschnitt und Aufzug nach zu urteilen zur Nazi-Szene tendiert. Mit dem Gewehr seines Vaters schleicht er wie eine ständige Bedrohung durchs. Wie ihr Mann, der zum Kulturjournalisten degradierte Investigativ-Reporter Jostein, wacht Turid erst auf, als Oles Selbstmordversuch scheitert. Am Ende steht bei allen Figuren die Frage: Was ist der Tod? Weiterleben?
Mögliche VorbereitungeN
Als vorbereitende Hausaufgabe, als Referat oder in Gruppenarbeit:
- Inhalt zu Knausgårds „Der Morgenstern“
Diskussion im Unterrichtsgespräch
- Kann der Mensch alles verstehen/erklären?
- Wo beginnt das Unbegreifliche?
- Ist das Leben sinnlos, weil es ohnehin mit dem Tod endet?
- Welche Rolle/ Bedeutung hat die Religion?
Speziell für den Theaterunterricht:
Einen Spieltext mit inneren Monologen anreichern
Die Spielleitung teilt Vierer – oder Fünfergruppen ein.
Aufgabe:
Lest Franz Kafkas Parabel „Ein Kommentar“ (s.u.) und schreibt für folgende Personen einen inneren Monolog:
- für den Ich-Erzähler
- für den Schutzmann
- für zwei oder drei Personen, die aus den Fenstern ihrer Häuser blicken.
Die inneren Monologe sollen Folgendes berücksichtigen:
- Was sieht die Person gerade? (nicht für Ich-Erzähler)
- Was empfindet und denkt sie dabei? (nicht für Ich-Erzähler)
- Was hat sie am Vortag erlebt und wie steht das Erlebte zu dem aktuellen Ereignis in Beziehung?
Erstellt dann eine Szene, die die Handlung der Parabel aufgreift und die jeweiligen Monologe integriert. Überlegt:
- Wie und wo werden diese Monologe gesprochen?
- Wie verläuft der Übergang von Spiel zu Monolog?
Text:
Franz Kafka: Ein Kommentar
„Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich daß schon viel später war als ich geglaubt hatte, ich mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ‚Von mir willst Du den Weg erfahren?‘ ‚Ja‘ sagte ich ‚da ich ihn selbst nicht finden kann‘ ‚Gibs auf, gibs auf‘ sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“