Schöne neue Welt

Wie nah sind Huxleys Zukunftsvisionen? Zu Amir Reza Koohestanis intelligenter Inszenierung im Thalia in der Gaußstraße.

Abbrennen, was bedroht – Foto: Armin Smailovic

DIE KRITIK

Ist doch gar nicht so schlecht, was diese neue Gesellschaft bietet: Alle teilen alles mit allen (auch die Partner*innen). Menschen entstehen im Reagenzglas und müssen nicht mehr umständlich gezeugt und unter Schmerzen geboren werden. Die Bedürfnisse des Kastensystems entscheiden, wer als niederer Gamma oder führender Alpha Plus designed wird. Und trotz dieser Hierarchie sind alle zufrieden, weil die Glücksdroge Soma  als Gas in regelmäßigen Abständen verströmt wird und Unmut gar nicht erst aufkommen lässt.

Eine „schöne neue Welt“ also? Unter diesem Titel entwarf Aldous Huxley 1932 ein utopisches oder besser: dystopisches Gesellschaftsbild. Denn die Auswirkungen dieser vermeintlich perfekten Welt beschrieb er als furchterregend. Wie weitsichtig der Brite mit seinem Roman schon war, zeigt Amir Reza Koohestanis so intelligente wie kurzweilige Inszenierung im Thalia in der Gaußstraße. Zusammen mit Keyvan Sarreshteh hat er die Vorlage für das Heute überschrieben, gekürzt und das Personal auf drei Figuren eingedampft. 

„Alles, was du dir wünschst, ist in der neuen Welt.“

John Savage (Johannes Hegemann) betritt die Bühne vom Publikum aus. Er sieht: eine Ansammlung von rollbaren Regalen mit wild wuchernden Pflanzen, dahinter Bildschirme, die auf seine Handzeichen reagieren (Bühne: Mitra Nadjmabadi). Später werden auf der hinteren Leinwand Sternenhimmel, Kamerafahrten durch üppige Landschaften und am Ende ein Inferno zu sehen sein (Video: Phillip Hohenwarte, Benjamin Krieg). Sie ergänzen die Geschichte um Savage mit überwältigenden Bildern. Savage staunt erst einmal über das, was sich ihm hier bietet, und probiert ungläubig, aber fasziniert die Reaktion der Bildschirme aus. Seine Aufnahme in der neuen Welt erledigt Lenina (Pauline Rénevier), eine Beta-Frau, zusammen mit ihrem aalglatten Vorgesetzten Bernard (Stefan Stern).  Die Inszenierung greift hier das aktuelle Aufnahmeverfahren von Asylsuchenden auf: Du verweigerst Angaben zu deiner Person? Dann geht’s zurück an die Grenze. Aber wer will das schon? Heißt es doch über Lautsprecher: „Alles, was du dir wünschst, ist in der neuen Welt.“

Savage gilt als „Einwanderer der Woche“.

Savage hat Glück. Als Alpha Plus gilt er als „Einwanderer der Woche“, auf seine Fragen und Widersprüche reagiert Bernard gnädig, manchmal zähneknirschend. Stern zeigt ihn als total überzeugten Funktionär. In Showmaster-Manier promotet er seinen „Erlebnispark Wildnis“, eingerichtet zur Belustigung der Bevölkerung, weist aber Savage und Lenina rigide in die Schranken, als er deren Liebe zueinander bemerkt. Réneviers Lenina funktioniert zunächst prächtig beim Nachplappern der Gesellschaftsregeln, distanziert sich aber zunehmend, als sie sich in Savage verliebt. Der ist bei Johannes Hegemann ein nachdenklicher, unverbrauchter Typ. Seine naiven Fragen und Statements untergraben das System der neuen Welt. Er will auf keine Führungsebene, er „will nur Traktor fahren“ und sich in Lenina verlieben dürfen. 

Mit ihr spielt er Theater, „Romeo und Julia“. Tragödien gelten als überholte Unterhaltung. Ihre Basis, so Bernard, ist das Unglück und das gibt es  in der perfekten, stabilen Gesellschaft nicht mehr. Der Preis dafür: Langeweile statt buntes Auf und Ab. Keine Option für Savage und Lenina. Sie brennen einfach alles nieder und fliehen.

https://www.thalia-theater.de/stueck/schoene-neue-welt-2022

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Wie stellt sich die als ideal empfundene Gesellschaft dar?
  • Wie wird sie von außen gesehen?
  • Wie verläuft der Umgang mit „Fremden“?
  • Wie geschieht Integration?
  • Welche Rolle spielt die Kunst?
  • Welche Rolle spielen Gefühle?
Formale Schwerpunkte
  • Einsatz von Videobildern und – filmen
  • Spiel im Spiel
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 15 Jahre, ab Klasse 9
  • empfohlen für WiPo-, Geschichts-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Die Überschreibung von Huxleys Roman durch Amir Reza Koohestani und Keyvan Sarreshteh konzentriert sich auf Folgendes:

John Savage sucht Aufnahme in einer Gesellschaft, die sich die „neue Welt“ nennt. Als Kind des höchsten Funktionärs dieser Welt und einer „Wilden“ wird er als Alpha Plus eingestuft, also als jemand, der in der Hierarchie der neuen Welt zur höchsten Kaste und damit zu den potentiellen Leistungsträgern gehört. Dennoch gilt er zunächst als „Wilder“ und muss ein Aufnahmeverfahren durchlaufen. Savage, dessen Sozialisierung nach altem Muster und entsprechenden Werten verlaufen ist, steht den Grundlagen der neuen Welt distanziert gegenüber. Dort sind alle Menschen, egal ob sie den untersten Gammas oder den obersten Alpha Plus angehören, zufrieden. Im Reagenzglas für ihre jeweilige Kaste gezeugt, haben sie keinerlei Individualität, zudem verhindert die Glücksdroge Soma jegliche Unzufriedenheit oder gar ein Aufbegehren. Statt Gefühlen oder gar Liebe gibt es nur noch Sex mit wechselnden Partner*innen, getreu der Devise, dass alles mit allen geteilt wird. Kunst als eine Form, die sich mit dem Unglück beschäftigt, gilt als überholt. Um nicht wieder zurückgeschickt zu werden, hat Savage kaum eine Chance, sich dem Integrationsprozess in diese Gesellschaft zu entziehen. Die Liebe zwischen ihm und der Beta-Frau Lenina wird jedoch zu einem Problem, das beide auf ihre Art lösen: Sie setzen die neue Welt einfach in Brand.

Mögliche VorbereitungeN

In Gruppenarbeit:

  • Beschreibung unserer aktuellen Gesellschaft (Arbeit, soziale Schichten, Familie, Politik usw.)
  • Auf dieser Grundlage: Beschreibung einer zukünftigen Gesellschaft: Wie könnte unsere Welt in naher Zukunft aussehen (Arbeit, Familie, Zusammenleben, Politik usw.)?

Im Unterrichtsgespräch:

  • Präsentation der Ergebnisse und Überlegungen: Was wäre wünschenswert? Was müsste verhindert werden?

Als Hausaufgabe, über Referat oder Lehrendenvortrag:

  • Aldous Huxley: Schöne neue Welt (Inhaltsangabe und Wirkungsgeschichte)

Im Unterrichtsgespräch:

  • Vergleich zwischen Huxleys Dystopie und den eigenen Entwürfen/Überlegungen
Speziell für den Theaterunterricht: 

Videofilme und -fotos ergänzen Koohestanis Inszenierung. Die Spielleitung kann mit folgender Aufgabe auf die Inszenierung vorbereiten: 

Aufgabe für verschiedene Gruppen:

Erstellt zu der laufenden Szenenarbeit (bzw. zu einem von der Spielleitung ausgewählten Text) Fotos oder kurze Filme, die den Inhalt kommentieren oder ergänzen. Eine einfache Bebilderung des Inhalts ist möglich, aber weniger interessant.

Probt dann eine Szene, die ihr vor diesem Hintergrund präsentiert. Achtet dabei auf theatrale Mittel (Berücksichtigung der drei Ebenen, klare Körperhaltung, Formationen o.ä.)