Wo ist Odysseus? Gute Frage. Vor zwanzig Jahren hat er Ithaka verlassen und niemand weiß so genau, wo er ist und ob er überhaupt noch lebt. Und was hat er die ganze Zeit über getan? Heldentaten vollbracht, wie manche raunen? Und muss nicht überhaupt mal über Heldentum nachgedacht werden? Zu „Odyssee oder das Kalypsotief“ in Daniel Schütters Neuschreibung frei nach Homer und Johanna Louise Witts erfrischender Inszenierung am Ernst Deutsch Theater.
Die Kritik
Eine Frau kauert auf einem Felsbrocken, im Hintergrund ein dürres Gestell, der Rest eines Hauses vielleicht. „An seine Augen kann ich mich kaum erinnern“, flüstert sie. Dabei wickelt sie sich immer fester in ein weißes Tuch, einen Schal, wie sie sagt. Er soll ihr Sicherheit geben, in ihn strickt sie fortlaufend ihre Geschichte. Die Frau heißt Penelope (Ines Nieri), verheiratet mit Odysseus, dem Herrscher von Ithaka. Der ist vor zwanzig Jahren nach Troja aufgebrochen, um mit seinem Freund Menelaos dessen Frau Helena und die geraubten Schätze zurückzuholen. Seither fehlt von ihm jede Spur.
Mit „Odyssee oder das Kalypsotief“ eröffnet das Ernst Deutsch Theater nicht nur seine neue Spielzeit. Die Uraufführung gibt auch den Startschuss für „odyssee.hamburg“, einem gemeinschaftlichen Projekt von Ernst Deutsch Theater, Ohnsorg-Theater und dem LICHTHOF. Jede der drei Bühnen widmet sich einer eigenen Etappe der „Odyssee“, jede Produktion zeigt eine eigene Handschrift und kann daher auch für sich alleine stehen. Die Verbindung zwischen den drei Produktionen soll das Bühnenbildkonzept des aus Russland geflüchteten Bühnenbildners Mikhail Zaikanov herstellen. Dessen Einzelelemente werden in abgeänderter Form in dem jeweiligen Theater zu sehen sein.
Wer ist eigentlich Peisistratos?
Für den Beginn mit „Odyssee oder das Kalypsotief“ hat sich Daniel Schütter, Sohn der aktuellen Intendantin Isabella Vertés-Schütter und ab der Spielzeit 2025/26 selbst Leiter dieses Hauses, eine Neuschreibung frei nach Homer gemacht. Der Umgang mit der Vorlage ist locker, Umgangssprache und aktuelle Themen wie der Klimawandel oder Nachhaltigkeit werden in die Geschichte eingearbeitet, ebenso die Erinnerungen des syrischen Diplomaten Haytham Hmeidan. Dessen Erfahrungen mit dem Folter-Regime Assads und der schwierigen Flucht spiegeln sich in einer berührenden Szene mit Peisistratos (Yann Mbiene) wider. Nur, wer ist eigentlich Peisistratos? Und was genau hat er mit Odysseus zu tun? Hier zeigt Schütters an sich recht gelungene Neuschreibung einige Schwächen. Fünfundzwanzig verschiedene Figuren tauchen auf, allesamt mit fliegendem Rollenwechsel von einem hochmotivierten, jungen Ensemble gespielt. Wer jedoch Homers Gesänge oder wenigsten die Sage nicht parat hat, weiß irgendwann nicht mehr, wer zu wem warum gehört und welche Ziele er oder sie verfolgt. Im Wesentlichen erzählt Schütters Fassung Folgendes: Odysseus wird in Troja in einen Krieg verwickelt, später auf seiner Fahrt von der Göttin Kalypso gefangen gehalten und nach Jahren in einem Boot davongejagt. Als Schiffbrüchiger landet er an einem Strand, wo ihn Prinzessin Neusikaa zusammen mit ihren Freundinnen findet und ihn ihrem Vater, dem König Alkinoos, vorstellt. An dessen Hof erreicht ihn schließlich Odysseus’ Tochter Telemake, die von der Mutter ausgesandt worden ist, den Vater zu suchen. Man redet über den Sinn oder besser Unsinn von Heldentaten, über die Konsequenzen von Kriegen, über Verantwortung und darüber, dass die Geschichte umgeschrieben werden müsste. Aber außer hilflosem Achselzucken fällt am Ende niemandem etwas ein.
Regisseurin Johanna Louise Witt hat wie auch Musiker Chris Lüers am Thalia Theater u.a. mit Antú Romero Nunes gearbeitet. Die Frische und Nahbarkeit von dessen Arbeiten sowie die Anleihen beim Film und der Popkultur haben auf diese Produktion abgefärbt. Witts Inszenierung ist voller Ideen und hat Schwung. Mit dem Wechsel von stillen Szenen, in denen manchmal nur der erstklassige, sensibel komponierte Sound (Musik neben Lüers: Max Kühn) zu hören ist, und wildem Spektakel beweist sie ein gutes Gespür für Rhythmus. Dennoch geraten einige Passagen (beispielsweise die Party-Szene am Ende) zu ausführlich und ziehen den insgesamt knapp dreistündigen Abend unnötig in die Länge. Daran ließe sich in den kommenden Vorstellungen aber sicher noch arbeiten.
Helden und Götter stößt Witt im Vorbeigehen vom Sockel und entlarvt sie als sehr durchschnittliche Menschen. Zeus zum Beispiel (Julian Kluge): Mit dröhnenden Gitarrenriffs tritt der oberste Gott auf wie ein Rockstar, beklatscht von den anderen, auch räumlich unter ihm stehenden Göttern. Aber er ist nur ein Angeber, der Playback singt, was klar wird, als der Stecker gezogen wird. Auch Kluges Menelaos ist nur ein Waschlappen ohne echte Meinung. Mit seiner deutlich stärkeren, aber selbstverliebten Frau Helena (großartig: Nina Sarina Balthasar) hat er es nicht leicht, zumal sie bei jedem Fremden vermutet, er käme, um sie zu rauben. Als Odysseus gibt Kluge nicht mit Heldentaten an, sondern reflektiert sie. Immerhin weist ihn seine Tochter Telemake (Birgit Weblink) darauf hin, wieviel Leid er ihrer Mutter Penelope zugefügt hat. Die ist bei Ines Nieri eine gebrochene Frau, die sich nur mit der Hoffnung über Wasser hält, dass ihr Mann noch lebt. Nieri spielt nicht minder überzeugend die girliehafte Neusikaa, die ihren Freundinnen in einem „Ich so – Er so“-Dialog mit Kieks-Stimme ein Gespräch mit dem Vater nacherzählt. Der ist bei Rune Jürgensen ein kindlicher, am Strohhalm schlürfender und rhythmisch Bonbons verzehrender König und nicht minder komisch als Ballett-affiner Götterbote Hermes.
Am Ende gelingt der Inszenierung eine nachdenkliche, poetische Schlussszene: Mit ihren vehementen Forderungen, die Geschichte umzuschreiben und endlich ins Handeln zu kommen, erntet Telemake nur Achselzucken. „Was machen wir hier?“, fragen sich die Figuren hilflos. Keine Antworten. Langsam verlischt das Licht.
Weitere Informationen unter:https://www.ernst-deutsch-theater.de/programm/veranstaltung/odyssee-oder-das-kalypsotief-368
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Krieg
- Heldentum
- Flucht und Verfolgung
- Verantwortung des Menschen
Formale SchwerpunKte
- Komik durch Brechungen von Helden- oder Götterbildern durch menschliches, alltägliches Verhalten
- Einbinden von Umgangs- und Jugendsprache
- Projektionen
- Sound in sprachlosen Momenten als erzählendes bzw stimmungstragendes Element
- mehrfacher Rollenwechsel
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 16 Jahre, ab Klasse 10 (möglichst vorbereitet)
- empfohlen für den Geschichts-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Odysseus, Herrscher von Ithaka, ist seit zwanzig Jahren unterwegs. Seine Frau Penelope weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt, und muss sich die Freier vom Hals schaffen, die vor ihrer Tür Schlange stehen. Denn noch hat sie die Hoffnung auf Odysseus’ Rückkehr nicht aufgegeben. Um ihn zu suchen, schickt sie ihre Tochter Telemake aus.
Odysseus war mit seinem Freund Menelaos gen Troja gezogen, um dessen von Paris geraubte Frau Helena und die gleichzeitig entwendeten Schätze zurückzuholen. Statt zu Verhandlungen war es offenbar zu einem Krieg gekommen, Odysseus wurde von Kaliope gefangen genommen und jahrelang als Geliebter gehalten. Aber dann schickt sie ihn eines Tages nur mit einem Schlauchboot fort übers Meer. Als Schiffbrüchiger landet er an einem Strand, wo ihn Prinzessin Neusikaa und ihre Freundinnen finden. Eigentlich soll Nusikaa heiraten, aber jetzt findet sie Odysseus toll (und ihre Freundinnen auch) und präsentiert ihn ihrem Vater Alkinoos. Alkinoos ist zwar König, aber hauptsächlich an Partys interessiert und gibt selbstverständlich Odysseus’ zu Ehren ein Fest. Dort hinein platzt auf einmal Telemake. Sie hatte schon überall nach dem Vater gesucht und war auch bei Menelaos und diesen Frau Helena gewesen. Die konnten ihr aber auch nicht weiterhelfen, zumal Helena seit ihrer Entführung durch Paris offenbar einen Hau davon getragen hat und jetzt in jedem Fremden jemanden wittert, der sie wegen ihrer Schönheit rauben will. Letztlich findet Telemake Odysseus am Hof von Alkinoos. Genervt von den Ereignissen und von dem, was gerade in der Welt geschieht, fordert sie die Anwesenden auf, die Geschichte neu zu schreiben. Aber sie erntet nur Hilflosigkeit. Und die Götter? Kümmern sich um gar nichts. Zwar weiß Demeter von Klimakatastrophen und mahnt zur Nachhaltigkeit, stößt bei Göttervater Zeus aber auf taube Ohren. Die Menschen müssen schon allein klarkommen.
Mögliche Vorbereitungen
Über Referate und/oder in Gruppenarbeit:
- Recherche zur griechischen Mythologie, u.a. zu zentralen Figuren wie Odysseus, Penelope, Menelaos, Helena, Agamemnon, Klytemnästra – was verbindet diese Figuren
- Recherche zu Homer, zur „Odyssee“, zur „Illias
- Recherche zu unterschiedlichen Darstellungen der „Odyssee“: Videoclip (Youtube), Comic etc
Speziell für den Theaterunterricht
Gestaltung einer Szene
Aufgabe
Gestaltet nach der unten stehenden Vorlage aus Homers „Odyssee“ eine Szene, in der sowohl Telemachos und seine Mutter als auch die Götter vorkommen. Die Szene soll in einer aktualisierten, modernen Inszenierung Platz finden.
- Überlegt, welchen Text die Figuren sprechen. Aktualisiert dabei die Sprache, so dass sie einem heutigen Publikum zugänglich ist.
- Überlegt euch Kostüme für die jeweiligen Figuren und begründet eure Wahl.
- Überlegt euch ein Bühnenbild, das mit möglichst einfachen Elementen gestaltet werden kann.
Text:
Erster Gesang
Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat, Und auf dem Meere so viel‘ unnennbare Leiden erduldet, | |
5 | Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft. Aber die Freunde rettet‘ er nicht, wie eifrig er strebte, Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben: Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft, |
10 | Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions. Alle die andern, so viel dem verderbenden Schicksal entflohen, Waren jetzo daheim, dem Krieg‘ entflohn und dem Meere: Ihn allein, der so herzlich zur Heimat und Gattin sich sehnte, Hielt die unsterbliche Nymphe, die hehre Göttin Kalypso, |
15 | In der gewölbeten Grotte, und wünschte sich ihn zum Gemahle. Selbst da das Jahr nun kam im kreisenden Laufe der Zeiten, Da ihm die Götter bestimmt, gen Ithaka wiederzukehren; Hatte der Held noch nicht vollendet die müdende Laufbahn, Auch bei den Seinigen nicht. Es jammerte seiner die Götter; |
20 | Nur Poseidon zürnte dem göttergleichen Odysseus Unablässig, bevor er sein Vaterland wieder erreichte. Dieser war jetzo fern zu den Äthiopen gegangen; Äthiopen, die zwiefach geteilt sind, die äußersten Menschen, Gegen den Untergang der Sonnen, und gegen den Aufgang: |
25 | Welche die Hekatombe der Stier‘ und Widder ihm brachten. Allda saß er, des Mahls sich freuend. Die übrigen Götter Waren alle in Zeus‘ des Olympiers Hause versammelt. Unter ihnen begann der Vater der Menschen und Götter; Denn er gedachte bei sich des tadellosen Ägisthos, |
30 | Den Agamemnons Sohn, der berühmte Orestes, getötet; Dessen gedacht‘ er jetzo, und sprach zu der Götter Versammlung: Welche Klagen erheben die Sterblichen wider die Götter! Nur von uns, wie sie schrein, kommt alles Übel; und dennoch Schaffen die Toren sich selbst, dem Schicksal entgegen, ihr Elend. |
35 | So nahm jetzo Ägisthos, dem Schicksal entgegen, die Gattin Agamemnons zum Weib‘, und erschlug den kehrenden Sieger, Kundig des schweren Gerichts! Wir hatten ihn lange gewarnet, Da wir ihm Hermes sandten, den wachsamen Argosbesieger, Weder jenen zu töten, noch um die Gattin zu werben. |
40 | Denn von Orestes wird einst das Blut Agamemnons gerochen, Wann er, ein Jüngling nun, des Vaters Erbe verlanget. So weissagte Hermeias; doch folgte dem heilsamen Rate Nicht Ägisthos, und jetzt hat er alles auf einmal gebüßet. Drauf antwortete Zeus‘ blauäugige Tochter Athene: |
45 | Unser Vater Kronion, der herrschenden Könige Herrscher, Seiner verschuldeten Strafe ist jener Verräter gefallen. Möchte doch jeder so fallen, wer solche Taten beginnet! Aber mich kränkt in der Seele des weisen Helden Odysseus Elend, welcher so lang‘, entfernt von den Seinen, sich abhärmt, |
50 | Auf der umflossenen Insel, der Mitte des wogenden Meeres. Eine Göttin bewohnt das waldumschattete Eiland, Atlas‘ Tochter, des Allerforschenden, welcher des Meeres Dunkle Tiefen kennt, und selbst die ragenden Säulen Aufhebt, welche die Erde vom hohen Himmel sondern. |
55 | Dessen Tochter hält den ängstlich harrenden Dulder, Immer schmeichelt sie ihm mit sanft liebkosenden Worten, Daß er des Vaterlandes vergesse. Aber Odysseus Sehnt sich, auch nur den Rauch von Ithakas heimischen Hügeln Steigen zu sehn, und dann zu sterben! Ist denn bei dir auch |
60 | Kein Erbarmen für ihn, Olympier? Brachte Odysseus Nicht bei den Schiffen der Griechen in Trojas weitem Gefilde Sühnender Opfer genug? Warum denn zürnest du so, Zeus? Ihr antwortete drauf der Wolkenversammler Kronion: Welche Rede, mein Kind, ist deinen Lippen entflohen? |
65 | O wie könnte doch ich des edlen Odysseus vergessen? Sein, des weisesten Mannes, und der die reichlichsten Opfer Uns Unsterblichen brachte, des weiten Himmels Bewohnern? Poseidaon verfolgt ihn, der Erdumgürter, mit heißer Unaufhörlicher Rache; weil er den Kyklopen geblendet, |
70 | Polyphemos, den Riesen, der unter allen Kyklopen, Stark wie ein Gott, sich erhebt. Ihn gebar die Nymphe Thoosa, Phorkyns Tochter, des Herrschers im wüsten Reiche der Wasser, Welche Poseidon einst in dämmernder Grotte bezwungen. Darum trachtet den Helden der Erderschüttrer Poseidon, |
75 | Nicht zu töten, allein von der Heimat irre zu treiben. Aber wir wollen uns alle zum Rat vereinen, die Heimkehr Dieses Verfolgten zu fördern; und Poseidaon entsage Seinem Zorn: denn nichts vermag er doch wider uns alle, Uns unsterblichen Göttern allein entgegen zu kämpfen! |
80 |
aus: https://www.projekt-gutenberg.org/homer/odyssee/odyss011.html