Nichts mehr zu ändern. Was geschehen ist, ist geschehen. Die Verantwortung dafür trägt jeder selbst. Was aber, wenn man immer wieder mit seinem Leben konfrontiert wird? Von anderen dazu gezwungen, bis in alle Ewigkeit? Zu Jean-Paul Sartres Drama „Geschlossene Gesellschaft“ in der körperlich-intensiven Inszenierung von Evgeny Kulagin in der Werkstatt des Thalia in der Gaußstrasse
Die Kritik
Ein Ausstellungsraum mit Holzboden, drei schmucklosen Sitzbänken und einer tiefroten, hier besser noch: blutroten Wand, an der eine Reihe von Gemälden hängen. Eines hat jemand beschmiert: R.I.P ist quer über das Bild geschrieben. „Rest in Peace“, ein frommer Wunsch, denn wer in diesen Raum eintritt, wird keinen Frieden finden. Das hier ist die Hölle.
Nadine Schumacher, auch verantwortlich für die Kostüme, hat die Bühne für Jean-Paul Sartres Existenzialismus-Drama „Geschlossene Gesellschaft“ in eine modern anmutende Galerie verwandelt. Das Publikum hat keine Chance, dem Geschehen auf der Bühne auszuweichen: Die Inszenierung von Evgeny Kulagin findet in der Werkstatt vom Thalia in der Gaußstraße statt, einer bislang noch nicht genutzten Spielstätte, zu der man erst durch einen Mitarbeiter des Hauses geführt werden muss. Das Gefühl des Eingeschlossenseins, um das es in Sartres wohl bekanntestem Stück geht, überträgt sich damit auch auf die Zuschauenden.
Die Verdammten betreten den Raum wie Häftlinge.
In diesem Raum ohne Fenster und Spiegel treffen drei Verdammte aufeinander: Garcin (Johannes Hegemann), Inès (Meryem Öz) und Estelle (Victoria Trauttmansdorff). Alle drei sind bereits tot und erstaunt darüber, dass die erwartete Hölle eine Galerie wie im echten Leben zu sein scheint, ohne Folterinstrumente, ohne wild züngelnde Flammen. Auch der Aufseher (Stefan Stern) gibt sich zugewandt. Im Laufe des Abends nimmt er allerdings eine seltsame, nicht unbedingt einleuchtende Rolle ein. Nachdem er anfangs noch brav sein Pausenbrot verspeist hat, beginnt er plötzlich zu der Musik aus seinen Kopfhörern expressiv zu tanzen und sich mit großen Gesten seiner Kleidung zu entledigen, bis er nackt im Raum steht. Das ist amüsant, führt allerdings ebensowenig weiter wie die Momente, in denen er in einem aufschiebbaren Rahmen bekannte Gemälde wie „Das Mädchen mit den Perlohrringen“ nachstellt.
Die drei Verdammten betreten nacheinander den Raum wie Häftlinge: Nackt bis auf die Unterhose tragen sie ihre Kleidung in einem Päckchen vor der Brust, ziehen sich dann erst unter der Beobachtung des Aufsehers an. Sie kennen sich nicht, sind vielleicht zufällig zusammen untergebracht worden, vielleicht aber auch, weil sie im Leben schuldig geworden sind: Garcin, weil er sich geweigert hat, an der Front zu kämpfen, desertiert ist und seine Frau betrogen hat. Inès, weil sie ihrem Cousin die Frau ausgespannt, beide ins Unglück gestürzt und in den Tod getrieben hat, und Estelle, weil sie ein Kind von ihrem heimlichen Liebhaber umgebracht hat. Jede dieser drei Personen hat einen eigenen Charakter, ein eigenes Leben, an dem nichts mehr zu ändern ist. In der permanenten, unausweichlichen Gegenwart der anderen müssen sie sich mit sich selbst und ihrem Handeln auseinandersetzen. Bis in alle Ewigkeit.
„Die Hölle, das sind die anderen.“
Evgeny Kulagin hat zusammen mit dem Choreografen Ivan Estegneev für die Figuren und ihre (Seelen-)zustände tänzerische, teilweise akrobatische Bewegungen geschaffen, so dass zu den düster-dräuenden Kompositionen von Antony Rouchier ein intensives Körpertheater entsteht. Diese Ästhetik bestimmt auch „Der schwarze Mönch“, „Der Wij“ und „Barocco“, Inszenierungen von Kirill Serebrennikov, mit dem sie eine lange Zusammenarbeit verbindet. Der Rastlosigkeit von Johannes Hegemanns mit sich haderndem Garcin steht als Kontrapunkt die provozierende Ruhe von Meryem Öz’ Inès entgegen. Zwischen ihnen die flirrende, um Bewunderung und Liebe bettelnde Estelle von Victoria Trauttmsndorff. Das Einander-Ausgeliefertsein gipfelt in einem Tanz, in dem sich die Figuren in einem nunmehr fast finsteren Raum immer wieder ineinander verschlingen, sich an die Kehle gehen, sich anschreien, nur von der Lampe des irrlichtenden Aufsehers beleuchtet. „Die Hölle, das sind die anderen“ – der fast schon zur Floskel verkommene Satz wird hier mit Händen greifbar. Die Wand bricht auf, die Figuren liegen erschöpft am Boden. Ein Entkommen unmöglich. „Also – weitermachen!“, sagt der Aufseher. Erlösung gibt es nicht.
Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/geschlossene-gesellschaft-2023
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Konfrontation mit dem eigenen Handeln
- Verantwortung für das eigene Leben
- Verdammung des Menschen zur Freiheit
Formale SchwerpunKte
- Umsetzung von Gefühlen und Zuständen in Bewegung und Tanz
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 16/17 Jahre, ab Klasse 11/12
- empfohlen für Philosophie-, Ethik-, Französisch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
In einem Ausstellungsraum (in Sartres Original ist es ein eleganter Salon) ohne Fenster und Spiegel treffen drei grundverschiedene Menschen aufeinander. Sie kennen sich nicht, ihre einzige Gemeinsamkeit ist, dass sie bereits tot sind und im Leben Schuld auf sich geladen haben: Garcin hat nicht nur seine Frau ständig betrogen, er hat sich vor allem geweigert, an der Front zu kämpfen, ist desertiert. Dafür wird er erschossen. Inès hat ihrem Vetter die Frau, Florence, ausgespannt, ist mit ihr in eine Wohnung gezogen und wurde dann ihrer überdrüssig. Beide hat sie ins Unglück gestürzt. Der Cousin wird von einer Tram überfahren, Florence dreht den Gashahn auf und stirbt zusammen mit Inès, die sich noch in der Wohnung befindet. Estelle hat ihren Mann mit einem jungen Liebhaber betrogen, von diesem ein Kind bekommen, dieses Kind vor den Augen ihres Liebhabers getötet und ist dann zu ihrem Mann zurückgekehrt, der von alledem nichts gemerkt haben soll. Sie stirbt an einer Lungenentzündung. In dem Ausstellungsraum ist ihnen je eine Bank zugeteilt, ihr Platz ist beengt, sie können den Raum nicht verlassen. Gegenseitig belauern sie sich, jede und jeder bleibt auch in dieser Situation die Person, die sie im Leben war. In der Konfrontation mit ihrem eigenen Leben und der Unmöglichkeit, daran etwas zu ändern, erleben sie eine immerwährende Hölle.
Mögliche VorbereitungeN
Als Hausaufgabe oder über Referate
- Lektüre oder Inhaltsangabe von Sartres „Geschlossene Gesellschaft“
- Recherche zur Biografie von Jean-Paul Sartre
- Recherche zum Existenzialismus Sartres
Speziell für den Theaterunterricht
Die nachfolgenden Übungen zum Körperkontakt stammen aus aus: https://www.verlag-modernes-lernen.de/shop/pdf/8404/leseprobe1/8404.pdf
Rollbahn
Die Spieler liegen dicht nebeneinander auf dem Bauch auf der Matte. Ein Mitspieler legt sich vorsichtig parallel mit dem Bauch auf den ersten Mit- spieler und wälzt sich langsam mit gestreckten Körper über alle anderen
hinweg. Dann folgt der nächste Mitspieler usw.
Spirale
Gleiche Ausgangsposition wie bei der Rollbahn, doch dieses Mal drehen sich die Spieler, die auf der Matte liegen. Der obere wird dadurch weitertransportiert.
Variation:
Alle stehen hintereinander und fassen den Vordermann an der Schulter oder an der Hüfte. Sie gehen im Kreis, der spiralenförmig immer enger wird. Wenn es nicht mehr enger geht, versucht der erste Mitspieler an einer Stelle durch ein „Kettenglied“ hindurchzukriechen und die Gruppe hinter sich her zu ziehen.
Der Gordische Knoten
Die Spieler stellen sich Schulter an Schulter in einem engen Innenstirnkreis auf. Dann werden die Arme nach vorne gestreckt. Alle versuchen, bei geschlossenen Augen jeweils zwei verschiedene Hände zu finden. Wenn das geschehen ist, werden die Augen geöffnet und es wird versucht, diesen „gordischen Knoten“ zu lösen, ohne dabei die Hände loszulassen.
Klebemeister
Jeweils drei oder mehr Spieler finden sich zusammen. Jede Person hat zwei Bierdeckel. Ein „Klebemeister“ hat die Aufgabe, mit Hilfe der Bierdeckel seine Mitspieler aneinander zu „kleben“. Die Bierdeckel bilden die „Klebefläche“ (z.B. Hand auf den Rücken, Hüfte an Hüfte, Knie an Ellbogen…). Nachdem die Gruppe aneinander „geklebt“ wurde, soll sie sich fortbewegen, ohne die Bierdeckel zu Boden fallen zu lassen.