„Nach Moskau“ war gestern. „Nach Hause“ ist der neue Sehnsuchtsort der drei Schwestern in Anne Lenks Inszenierung des Tschechow-Schauspiels.
DIE KRITIK
Es bewegt sich: nichts. Statt dessen: Stagnation. Die Bühne im Thalia Theater hat Judith Oswald zu einem dumpf-blauen Kasten mit roten Tupfern und starrer Leuchtumrahmung gestaltet. Ein Entkommen scheint unmöglich. Die Figuren mit ihren überwiegend blauen Kostümen verschmelzen mit dem Hintergrund, wirken hier wie Teile eines Suchbildes. Wer gerade keinen Text hat, erstarrt mit den anderen zu Tableaus oder Statuen und löst sich erst wieder, wenn er oder sie im Spiel ist.
Mit seinen „Drei Schwestern“ beschreibt Anton Tschechow eine untergehende Klasse, die nie gelernt hat zu arbeiten und selbstständig Verantwortung zu übernehmen. „Nach Moskau“ wollen Olga, Mascha und Irina zurück, dort waren sie einst glücklich. Ihre Rückwärtsgewandtheit hält sie davon ab, Eigeninitiative zu ergreifen.
Tschechows Schauspiel ist überschrieben und in die Moderne gerückt.
Anne Lenk betont in ihrer Inszenierung die Unbeweglichkeit der Figuren durch deren plötzliches Einfrieren, ihre Konformität in den synchronen Tanzeinlagen. Zusammen mit der Dramaturgin Susanne Meister hat sie Tschechows Schauspiel überschrieben und in die Moderne gerückt. Ortrud (Oda Thormeyer), Mechthild (Cathérine Seifert) und Ingrid (Rosa Thormeyer) sind genauso wie ihr Bruder Alfred (Merlin Sandmeyer) passive, unpolitische Menschen, deren Hauptaugenmerk auf der nächsten Geburtstags- oder Silvesterparty liegt. Sie tragen wie alle anderen auch Retro-Kleidung (Kostüme: Sibylle Wallum) und sehr blonde Retro-Frisuren (Föhnwelle, Minipli) und sehnen sich zurück „nach Hause“. Das ist in diesem Fall eben nicht Moskau, sondern Deutschland. Dort war alles besser, dort gab es noch ein Elternhaus mit einem Vater, der sagte, wo es lang geht. Durch dessen Beruf – er war Offizier – musste die Familie Deutschland verlassen, aber jetzt ist der Vater tot und die drei Schwestern inklusive Bruder sitzen fest im Nirgendwo. „Man wird uns vergessen“, befürchten sie.
Ein lustiger Vogel, der mit seiner Jugendsprache nervt.
Allerdings haben sie keine Ahnung, wie sie ihre Situation ändern können. Etwas Abwechslung scheint sich durch die Ankunft des Majors Wirsching (Hans Löw) anzubahnen, denn der verliebt sich in Mechthild oder behauptet es zumindest. Aber die wagt doch nicht den letzten Schritt, sondern bleibt lieber bei ihrem Mann (Jirka Zett), dem Lehrer. Der ist zwar ein ganz lustiger Vogel, nervt aber mit der von seinen Schülern abgeschauten Jugendsprache und ist letztlich aber auch nur an den Partys und nicht an Veränderungen interessiert. Ortruds Beförderung zur Direktorin ihrer Schule geschieht ohne ihr Zutun und bindet sie nur weiter an diesen Ort. „Nach Hause“ wird sie so schnell nicht kommen. Und Ingrid, die Jüngste, redet zwar gebetsmühlenartig davon, dass sie arbeiten will, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, hält es aber nie lange an einer Stelle aus. Bleibt Alfred. Auf ihm ruhen alle Hoffnungen. Leider ist er ein Totalausfall. Wenn er nicht im Wortsinn irgendwo abhängt und herzzerreißend gähnt, geht er ins Casino und verspielt das gesamte Erbe. „Was macht uns nur so langweilig?“, fragt er. Eine Antwort kennt er nicht. Seine Frau Naomi (Maike Knirsch) ist da ein ganz anderes Kaliber. Schon durch ihre langen braunen Zöpfe und ihr kurzes rotes Kleid hebt sie sich von den Schwestern ab. Die betrachten sie mit Misstrauen, denn Naomi packt an: Sie erzieht die Kinder, drückt Alfred die Elternzeit auf und wird das Haus so umbauen, dass darin eine Familie mit kleinen Kindern wohnen kann. In Naomi deutet sich eine Hoffnung darauf an, dass Veränderungen möglich sind.
„Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse…“
Lenk verschärft in ihrer Inszenierung die Lächerlichkeit der Figuren. Sie tanzen Polonaise und sind sich nicht zu schade, dazu „Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse“ zu singen. Sie sprechen ohne Federlesen ihre Gedanken aus, etwa wenn Mechthild anfängt zu singen und Ortrud sie eiskalt mit einem „Hör auf! Du kannst es nicht.“ abbürstet. Wie albern Jugendsprache klingt, wenn Erwachsene sie verwenden, zeigt sich bei den exzessiven „LoL“ oder „cringe“ des Lehrers. Die Haltlosigkeit der Figuren zeigt am deutlichsten Alfred, der nur mit Mühe stehen kann. All das gelingt äußerst komisch, vor allem weil das Ensemble einmal mehr zum Niederknien spielt. Und trotzdem: Ein wenig mehr von der Melancholie und Traurigkeit dieser an sich lächerlichen Figuren hätte der Inszenierung gut getan. Egal. Der Abend unterhält bestens und das fast die gesamten zweieinviertel Stunden hindurch.
Näheres unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/drei-schwestern-2022
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Passive, unpolitische Gesellschaft
- Abgeben von Verantwortung
- Wege aus der Stagnation
Formale Schwerpunkte
- Überzeichnungen
- Tableaus, Statuen im Hintergrund zum Spiel
- Tanzchoreografien
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 16 Jahre, ab Klasse 10
- empfohlen für Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Anne Lenks und Susanne Meisters Überschreibung hält sich im Wesentlichen an den Plot von Tschechows Original. Es beginnt mit dem Geburtstag der jüngsten Schwester Ingrid. Der Vater, ein Offizier, hatte aus Berufsgründen mit der Familie Deutschland für einen anderen Ort im undefinierten Nirgendwo verlassen. An Ingrids Geburtstag ist er bereits seit fast einem Jahr tot und die drei Schwestern sowie ihr Bruder müssen ihr Leben plötzlich selbst in die Hand nehmen. Schaffen sie aber nicht. Sie empfinden Langweile und eine schier lähmende Passivität. Nichts außer den Partys an Geburtstagen oder zu Silvester interessiert sie wirklich, von Politik oder gar von der Bedeutung des Militärs wissen sie gar nichts. Ortrud, die Älteste, ist Lehrerin an einem Gymnasium und verblüht, ohne je richtig gelebt zu haben. Die Stelle als Direktorin strebt sie nicht an, sie wird ihr einfach aufgedrückt. Mechthild, die Mittlere, ist mit dem Lehrer Kuhlmann verheiratet, liebt ihn aber nicht wirklich. Kuhlmann ist zwar ein lustiger Vogel, begreift aber nicht, dass seine Jugendsprache einfach albern und überhaupt nicht jung wirkt. Ingrid, die Jüngste, weiß, dass man mit Arbeit seinem Leben Sinn geben kann, aber sie hält es in keiner der angenommenen Stellen aus. Einzig Naomi, die äußerst patente Frau von Alfred, hat einen Plan: für die Erziehung der Kinder, für die Aufteilung der Aufgaben zwischen Mann und Frau und für die Umgestaltung des Hauses.
Mögliche VorbereitungeN
Über Referate, als vorbereitende Hausaufgabe oder in Gruppenarbeit:
- Inhaltsangabe zu Tschechows „Drei Schwestern“
- Biografie zu Anton Tschechow
Im Unterrichtsgespräch:
- Was bedeuten Veränderungen (für den Einzelnen/ für die Gesellschaft)?
- Welche Veränderungen sind wünschendwert?
- Wer initiiert Veränderungen? Wer ist daran interessiert?
- Ist unsere Gesellschaft eine reine Vergnügungsgesellschaft?
Speziell für den Theaterunterricht:
Bauen einer Skulptur zum Thema Geborgenheit
Anleitung durch die Spielleitung:
Eine Person nimmt eine Haltung in der Mitte der Bühne ein, eine weitere kommt dazu und versucht die Person zu schützen; eine weitere dazu, schützt ebenfalls;
Keine Person darf dem Publikum den Rücken zudrehen, die Skulptur muss dreidimensional sein und von allen Seiten gleichermaßen eindrucksvoll anzusehen sein. Ein gemeinsamer Fixpunkt ist nicht nötig.
Bauen von Standbildern
Die Spielleitung teilt Vierer-Gruppen ein.
Aufgabe:
- Sucht euch ein Gefühl (Trauer, Zorn, Freude o.ä.), das ihr über das Standbild vermitteln wollt.
- Baut dann ein Standbild, das frontal zum Publikum steht.
- Beachtet dabei möglichst die drei Ebenen (unten, mittig, oben)
- Verbindet euch durch gemeinsame Fixpunkte (unten, mittig, oben)
- Achtet auf eure Mimik. Sie sollte das Gefühl widerspiegeln.
Präsentation und Besprechung