Frisch Verliebte kennen das: Die Welt strahlt aus jeder Fuge, tanzen scheint die einzig mögliche Fortbewegungsart. Doch wenn diese Liebe verhindert wird, erscheint plötzlich alles grau und sinnlos, Suizid-Gedanken schleichen sich ein. Werther, der Protagonist aus Goethes Briefroman, durchlebte diese Situation vom absoluten Hoch bis zum finalen Tiefpunkt. Wie junge Menschen 250 Jahre später damit umgehen, zeigt die entwaffnend authentische, berührende SchauSpielRaum-Produktion „Die Leiden der jungen Werte“ im Jungen Schauspielhaus.
Die Kritik
W. liebt L. und L. liebt A. Das ist schon kompliziert genug. Was aber, wenn noch jemand mit einem anderen Buchstaben dazu kommt und W. liebt? Das macht alles noch viel schlimmer, oder? „Dieser Buchstabe bin ich,“ sagt die junge Darstellerin, und weil das alles so schwierig ist, bittet sie um die Hilfe von jemandem aus dem Publikum. Man müsse nur zuhören, mehr nicht. In Goethes berühmten Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ von 1794 ist es Wilhelm, dem Werther sein Herz ausschüttet. In der SchauSpielRaum-Produktion wird statt dessen eine Zuschauerin oder ein Zuschauer direkt angesprochen. Ein gelungener Kunstgriff, denn so entsteht eine Direktheit und Nähe, die sich die gesamten pausenlosen 80 Minuten hält.
Das Format der SchauSpielRaum-Produktion erweist sich als großes Glück.
Till Wiebel, Dramaturg und Theaterpädagoge am Jungen Schauspielhaus, und acht jungen Menschen zwischen 16 und 23 Jahren haben Goethes Roman abgeklopft auf die Frage, inwieweit die dort verhandelten Vorstellungen von Liebe und Romantik heute noch gelten. Gerade bei diesem Thema erweist sich das vor drei Jahren ins Leben gerufene Format der SchauSpielRaum-Produktion als großes Glück. Natürlich können ausgebildete Schauspieler*innen so etwas auch spielen, aber das Unverfälschte dieser jungen Darsteller*innen – allesamt Laien – , macht diesen Abend so glaubwürdig. Goethes Roman haben sie überschrieben und in Sprache, Situationen und Ort ans Hier und Jetzt angeglichen. Die Kostüme (Bühne und Kostüme: Karlotta Matthies) mit den weißen Söckchen und den schwarzen Spangenschuhen verweisen auf das 18. Jahrhundert, machen aber mit den eher an Sport erinnernden graublauen Hosen trotz der Spitzen den Sprung zu 2024.
Zwei Handlungseben sind miteinander verschränkt: Da ist die Theaterprobe zu „Werther“ in der Schule. Johann Wolfgang als Autor und Regisseur kann angesprochen und kritisiert werden. Da ist aber auch die Alltagssituation, in der jemand in den „Werther“-Darsteller in einem Club kennenlernt und sich unsterblich in ihn verliebt. Er oder sie empfindet und erlebt jetzt das, was im Roman Goethes Protagonist durchmacht. Dessen Worte und Gedanken mischen sich in die des jungen Menschen aus Hamburg. „Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht!“, jubelt er – und es wirkt ganz so, als sei das nicht der Original-Text, sondern sein eigener Gedanke.
Er oder sie, egal – jedes Mitglied aus dem Ensemble ist mal der oder die Liebende, mal Werther, Lotte oder Johann Wolfgang. Und weil das selbst gezimmerte Gedicht eher kläglich ausfällt, gießen die acht ihre Verliebtheit zu dem KISS-Song „I Was Made For Lovin’ You“ in eine überbordende Choreografie. Man sieht: Mehr Lebensfreude geht nicht. Umso stärker berührt der Moment, als alles aus ist. „Lotte ist gekommen, und ich werde gehen.“ Der „Werther“- Darsteller ist vergeben, eine Liebe zu ihm unmöglich. Also, abmelden von der Theaterprobe, zu den Eltern fahren, nicht mehr weiter wissen. Suizid ist für Goethes Werther der einzige Ausweg. Wiebel und sein Ensemble greifen das Problem auf und reflektieren es mit Gedanken aus der Krisenintervention („Suizid ist nie monokausal“). So endet diese Produktion statt in tiefster Verzweiflung mit einem Blick auf das, was im Leben schön ist: „lieber Kaffee, liebes Heavy Metal-Konzert, dear Lana Del Ray, lieber Werther.“
Mucksmäuschenstill hat das an diesem Abend überwiegend aus Schüler*innen bestehende Publikum die Vorstellung verfolgt, um dann in ehrlich begeisterten – und nicht wie so häufig sich selbst feiernden – Beifall auszubrechen. Was sie hier gesehen haben, ging sie etwas an. Deshalb an alle jungen Menschen: Nichts wie hin! Es ist großartig!
Weitere Informationen unter: https://junges.schauspielhaus.de/stuecke/die-leiden-der-jungen-werte
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Wie geht man mit der Liebe um?
- Wie erträgt man ihr Ende?
- Was bleibt?
Formale SchwerpunKte
- Verschränkung zweier Handlungsebenen
- Auflösung der Figuren
- Auflösung von Zeit und Ort
- Musik als Ausdruck für Gefühle
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 13/14 Jahre, ab Klasse 7/8
- empfohlen für den Deutsch-, Ethik- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
In der Überschreibung von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ verändert die SchauSpielRaum-Produktion die Situation durch die Einführung einer weiteren Person, die eines heutigen Ich. Dieses Ich verliebt sich während eines Club-Besuchs in den „Werther“-Darsteller aus der Theater-AG. „Werther“ ist aber schon mit Lotte zusammen, die derzeit auf Klassenfahrt in Rom ist. Während ihrer Abwesenheit schwebt das Ich im siebten Himmel, fühlt sich auch von „Werther“ beachtet. Allerdings endet dieses Gefühl in dem Moment, als Lotte aus Rom zurückkehrt und „Werther“ wieder zu ihr gehört. Für das Ich wird die Lage unerträglich. Es meldet sich von den Theaterproben ab, fährt zu den Eltern, weiß nicht mehr weiter. Erst durch eine Krisenintervention erkennt es: „Das Wichtigste ist, sich immer daran zu erinnern, dass dieses Gedanken auch wieder weggehen können.“ – und fasst wieder Mut.
Mögliche Vorbereitungen
- Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther (Lektüre oder ausführliche Inhaltsangabe)
- Recherche zu Goethes Situation 1794
Im Unterrichtsgespräch:
- Wie relevant sind heute die im Roman geäußerten Gefühle und Befindlichkeiten?
- Gibt es eine Verbindung zwischen der im Roman dargestellten Situation zu heute?
- Gibt es Punkte , in denen sich die Jugend von 1794 der von 2024 ähnelt?
Speziell für den Theaterunterricht
Für die nachfolgenden Übungen ist Goethes Briefroman die Grundlage; d.h. es geht um seinen Werther und seine Lotte, nicht um die aus der Überschreibung. (Grundlage ist zumindest die ausführliche Inhaltsangabe des Romans)
Der heiße Stuhl
Ein:e Schüler:in setzt sich als „Werther“ auf einen Stuhl in die Mitte. Die übrigen stellen an diese Figur fragen, die sie möglichst spontan beantwortet. Mehrere Wechsel sind möglich.
Die gleiche Übung lässt sich durchführen, indem „Lotte“ auf dem Stuhl sitzt und befragt wird.
Übertragung der Situation auf heute
Die Gruppe nennt Orte, an denen sich „Werther“ und „Lotte“ zum ersten Mal treffen (z.B. Pausenhalle, Café, Club, Supermarkt o.ä.). Die Spielleitung notiert die Orte auf Zetteln und legt sie aus.
Die Schüler*innen ordnen sich den Orten zu, die für sie am interessantesten sind. Falls die Gruppen zu groß werden, müssten sie geteilt werden und zwei Gruppen den gleichen Ort bespielen.
Aufgabe:
Erstellt eine Szene, in der sich „Werther“ und „Lotte“ zum erstmal treffen. Achtet auf einen erkennbaren Aufbau (Anfang, Höhepunkt, Ende). Requisiten und Sprache sollen möglichst wenig (am besten gar nicht) eingesetzt werden.
Deutlich werden sollen:
- der Ort (über Geräusche, Musik oder Bewegungen)
- die Begegnung (hier z.B. können Freeze, Slow Motion o.ä.verwendet werden)
- die Wirkung dieser Begegnung auf „Werther“ und „Lotte“
Präsentation und Feedback