Jubel! Zehnminütiger, stehender Premierenbeifall für Jette Steckels rundum geglückte Inszenierung von Annie Ernaux’ autofiktionalem Roman „Die Jahre“ am Hamburger Thalia Theater. Mit einem brillanten Kern aus sieben Schauspieler:innen und dem gesamten Ensemble bringt sie die Verknüpfung von persönliche Erinnerungen der Autorin und gesellschaftspolitischen Ereignissen humorvoll, poetisch und berührend auf die Bühne und verabschiedet damit nach 16 Jahren die Ära von Thalia-Intendant Joachim Lux.

Die Kritik
Irgendwie kennt das doch jede und jeder von uns: Man findet einen Brief oder ein Foto, erkennt einen Geruch oder hört eine Redensart und plötzlich tauchen dazu Erinnerungen auf. Erinnerungen, die man vielleicht nicht mehr genau lokalisieren und einordnen kann, die einen aber geprägt haben und die zu Ereignissen in bestimmten Zusammenhängen gehören. Der Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux ging es nicht anders, nur war sie in der Lage, all das zu einem kunstvollen Roman zu verweben. „Die Jahre“ umfasst die Zeit von den 1940er Jahren bis zu den Zweitausendern. Ausgehend von Gegenständen, Fotos oder Musik werden persönliche Erinnerungen wach, die aber gleichzeitig in einen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt und damit zu einem kollektiven Gedächtnis werden. Das Individuelle stellt Ernaux hintan, statt „Ich“ schreibt sie von „Wir“ oder dem verallgemeinerndem „Man“. Ein Zeitstrom, in dem es kaum Dialoge und Figurenrede gibt – Jette Steckel und die Dramaturgin Julia Lochte haben für das Thalia Theater eine kluge Bühnenfassung erstellt, und Steckel gelingt es, daraus eine fantastische und mit knapp zweieinhalb pausenlosen Stunden keine Minute zu lange Inszenierung zu gestalten.
Mit der geschlechts- und altersübergreifende Besetzung löst Steckel ganz im Sinne des Romans das Individuelle auf und gibt ihm einen allgemeinen Charakter.
Die Drehbühne wird beherrscht von einem mit weißer Gaze bespannten Zylinder (Bühne: Florian Lösche). Eine verschiebbare Öffnung ermöglicht das Spiel bei Bedarf auch in die Bühnenmitte zu verlagern, wo die vierköpfige Live-Band (Leitung: Arne Bischoff) sitzt. Das Weiß lässt zudem Film- und Video-Projektionen zu, die zum Teil mit der Live-Kamera aufgenommen werden (Video: Zaza Rusadze) und das Geschehen ins Gesellschaftliche oder ins ganz Persönlich-Intime versetzen. Der Zylinder rotiert, als sieben Schauspieler:innen (Barbara Nüsse, Maja Schöne, Cathérine Seifert, André Szymanski, Rosa Thormeyer, Jirka Zett, Sebastian Zimmler) der Reihe nach die Drehbühne ablaufen. Mit der geschlechts- und altersübergreifende Besetzung auf sieben Personen löst Steckel ganz im Sinne des Romans das Individuelle auf und gibt ihm einen allgemeinen Charakter. Die Kostüme (Pauline Hüners) verändern sich von anfänglich weißer Bluse, dunklem Rock und Kniestrümpfen hin zu Kleidern einer erwachsenen Frau. Was bleibt, ist die dunkle Langhaarperücke. Jetzt, am Anfang, tragen sie große schwarze Buchstaben bei sich und heften sie an den Zylinder. Allerdings ergibt das Ganze ein Durcheinander, das die Spieler:innen ratlos macht und zu heftigem Getuschel veranlasst. Also nochmal von vorne. Diesmal klappt es und der Schriftzug „Alle Bilder werden verschwinde…“ (Das „n“ ist schon verschwunden) prangt auf dem Weiß und wird den Abend begleiten.

Es sind kleine humorige Einsprengsel, die Steckels Inszenierung bei aller Ernsthaftigkeit so leicht machen. Und es sind die Choreografien (Dominika Knapik), die so spielerisch wie eindringlich zum Beispiel die Monotonie der Hausarbeit illustrieren. Zu solchen Momenten erscheint das gesamte Ensemble mit zusätzlich 27 Mitgliedern auf der Bühne und weitet das Erinnerte noch weiter ins Allgemein-Gesellschaftliche aus. Anna Bauers Kompositionen begleiten den Abend beinahe durchgängig, mal dezent das Erlebte untermalend, mal Musik der jeweiligen Zeit aufgreifend. Wenn Stille herrscht, etwa wenn sich das gesamte Ensemble zum Sit-In gegen den Vietnamkrieg versammelt, bekommt die jeweilige Szene eine zusätzliche Wucht. Annie Ernaux und mit ihr Jette Steckel erzählen von einem Fluss der Zeit, von prägenden persönlichen und gesellschaftlichen Veränderungen – intensiv und wunderbar anzusehen. Diese letzte Premiere in der Intendanz von Joachim Lux steht nur noch bis zum Ende der Saison, genauer: noch sechsmal (!) auf dem Spielplan. Dann ist Schluss. Wer da nicht hingeht, verpasst Großes.
Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/die-jahre-2024
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Der Fluss der Zeit von den 1940er Jahren bis zu den Zweitausendern
- Verlassen der kleinbürgerlichen Provinz und Aufbruch ins großstädtische Intellektuellen-Milieu
- Gefühl der Fremdheit, gepaart mit Stolz
- Die Situation der Frau, ihre schrittweise Emanzipation (u.a. Kampf für das Recht auf Abtreibung)
Formale SchwerpunKte
- Entindividualisierung der Figur über alters- und geschlechterübergreifende Besetzung
- Einsatz von Choreografien zur Gestaltung allgemein gesellschaftlicher Vorgänge
- Einsatz von Musik zur Untermalung und Illustrierung bestimmter Ereignisse
- Einsatz von persönlichen Fotografien (u.a. aus dem Ensemble), Videos und Filmen
- Einsatz von Live-Kameras
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- Ab 16/17 Jahre, ab Klasse 10/11
- Empfohlen für den Deutsch-, Französisch-, Geschichts- und (vor allem!) Theaterunterricht
Zum Inhalt
Annie Ernaux (Jahrgang 1940) beschreibt anhand von Fotografien, Filmen oder Kleidungsstücken ihre Erinnerungen von den 1940er Jahren bis in die Zweitausender. Dabei verwendet sie statt eines „Ich“ ein verallgemeinerndes „Wir“ oder „Man“ und setzt persönliche Erinnerungen und Erlebnisse in einen gesellschaftlichen Kontext. Sie erzählt von ihrer Kindheit in der kleinbürgerlichen nordfranzösischen Provinz, von den Regeln innerhalb der Familie, von ihrem Ausbruch hin die Welt der Großstadt und des Studiums. Von der Nicht-Zugehörigkeit, die sie zeitlebens empfunden hat, und dem Stolz auf diese Eigenständigkeit. Sie erzählt von der sexuellen Befreiung, der gesetzlich verbotenen und brutal durchgeführten Abtreibung, von den Demonstrationen der 68er, von ihrer Ehe, den Kindern, der Scheidung, dem Mauerfall, den technischen Veränderungen und dem, was diese für die Menschen bedeuten.
Mögliche Vorbereitungen
- Recherche zu Annie Ernaux (Leben, Werk)
- Annie Ernaux: Die Jahre (Inhalt, Rezensionen)
Speziell für den Theaterunterricht
Choreografie zum Thema „Haushalt“
- Die Spielleitung lässt die Gruppe sechs verschiedene Tätigkeit mit je einer Bewegung zusammenstellen (Beispiel: fegen, mit einer Hand eine unsichtbare Scheibe putzen, einen Lappen auswringen, in einem imaginären Topf rühren, ein Kissen aufschütteln, Brot schneiden o.ä.) und übt diese Bewegungen mit der gesamten Gruppe so ein, dass alle die gleiche Bewegung machen.
- Auf der Bühne werden Plätze markiert, an denen die jeweilige Tätigkeit/Bewegung ausgeführt werden soll (Beispiel: Vorne rechts: fegen, vorne Mitte: putzen usw). Wichtig ist, dass alle Bewegungen vom Publikum aus zu sehen sind.
- Auf ein Zeichen der Spielleitung kommt ein:e Spieler:in auf die Bühne, stellt sich an einen der markierten Plätze und vollführt die abgesprochene Bewegung, es folgen nacheinander die anderen Spieler:innen (evtl. durch ein Zeichen der Spielleitung oder durch den Rhythmus einer vorher abgesprochenen Musik), wobei sie bei jedem neuen/jeder neuen Spieler:in zum nächsten Platz wechseln und die dort abgesprochene Bewegung vollführen. So entsteht ein vielfältiges Bild zum Thema „Hauhalt“.
Marktplatz
Die Spielleitung verteilt an alle Spieler:innen je einen Zettel, auf dem eine Bewegungsart oder Tätigkeit steht, und gibt den Spieler:innen Nummern. Zur Musik betritt Spieler:in 1 die Bühne, vollführt seine/ihre Bewegung und bleibt damit auf der Bühne bis auch der/die letzte Spieler: in auf der Bühne ist. Nach ein paar Minuten beginnen die Spieler:innen in der gleichen Reihenfolge wieder abzugehen, bis der/die Spiele:in mit der letzten Nummer allein auf der Bühne bleibt und dann langsam abgeht.
Tätigkeiten/Bewegungen, die einzeln auf Zettel geschrieben und verteilt werden:
Hüpfen Hinken (wie bei Kinderspiel) Humpeln Stolpern Tanzen Rückwärts gehen Kriechen Schlendern
Zielgerichtet gehen (sich ein Ziel aussuchen, wenn erreicht, neues Ziel suchen, darauf zu gehen) Torkeln Bummeln Fotografieren Zähne putzen Schleichen Pause machen Etwas bewundern Etwas interessiert betrachten
Nur für sich sein Anrempeln Etwas Verlorenes suchen Sich bequem hinsetzen
Balancieren Auf sich aufmerksam machen