Die acht Oktavhefte

Räume verschwinden und bauen sich wieder auf. Geräusche und Stimmen entfachen Sehnsüchte und bedrängen. Thom Luz’ poetischer, kluger Kafka-Abend im Hamburger Schauspielhaus. 

Foto: Sandra Then

DIE KRITIK

Nichts ist sicher. Nichts fertig oder abgeschlossen. Der Weg führt nicht zum Ziel, er führt in die Irre. Franz Kafkas Protagonisten befinden sich in einem meist bedrohlichen Labyrinth, aus dem es kein Entkommen, keine Erlösung gibt. Sie werden wie K. aus „Der Prozess“ grundlos verhaftet und verurteilt, ohne je Hilfe zu finden. Hoffnungsschimmer zerplatzen, die so  dringend ersehnte kaiserliche Botschaft aus der gleichnamigen Parabel erreicht den Empfänger nicht, weil sich der Bote verirrt hat. Selbst das eigene Zimmer bietet keinen Schutz, denn „Der Nachbar“ drängt sich durch Geräusche und seine Telefonate auf, verunsichert und wird zur echten Bedrohung. 

„Ich irre ab“, heißt es in einem der acht Oktavhefte, jenen kleinen Notizheftchen, in die Kafka zwischen November 1916 und Mai 1918 scheinbar wahllos geschrieben hat, was ihm in den Sinn kam: philosophische Gedanken, Einkaufslisten, Entwürfe, Skizzen, Tagebucheinträge. Einen inhaltlichen Zusammenhang darin entdecken zu wollen, erscheint unmöglich. Faszinierend sind die Aufzeichnungen aber unbedingt. Das fand jedenfalls der Schweizer Regisseur Thom Luz und machte sich daran, aus den Notizen eine Bühnenfassung zu erarbeiten. „Die acht Oktavhefte“ heißt seine kluge, poetische Produktion, die seit dem 24. Februar im Hamburger Schauspielhaus zu sehen ist und am Premierenabend begeistert gefeiert wurde.

Wer einen Handlungsbogen sehen will, ist hier fehl am Platz.

Man muss sich auf diesen zweistündigen Abend einlassen. Wer einen Handlungsbogen oder gar Tempo sehen will, ist hier fehl am Platz. Luz, sein großartiges Ensemble (Jan-Peter Kampwirth, Eva Maria Nikolaus, Daniele Pintaudi, Lars Rudolph, Bettina Stucky, Michael Weber) sowie eine Reihe von Statist*innen spüren Kafkas Verrätselungen nach, lassen sie in der Schwebe, ohne sie mit angestrengter Deutung zu überfrachten.  Sorgsam ausgearbeitete Formationen, der Einsatz von Geräuschen und Gesang sowie die stummfilmartige Begleitung der Szenen durch den Pianisten (Daniele Pintadi) schaffen eine traumartige Atmosphäre. 

Auf der zunächst gänzlich leeren Bühne sitzt an deren hinterstem Ende Lars Rudolph und spielt Trompete. Vielleicht ist er K., Kafkas Alter Ego K.  Einsam und verloren wirkt er, bis plötzlich der Bühnenhintergrund aufreißt und geschäftig Leitern geschleppt, Kleiderstangen hereingerollt und Wände heruntergefahren werden (Bühne: Duri Bischoff). Ein Raum entsteht. Jemand beginnt mutig einen Satz: „Ich möchte…“, wird aber von einem lauten Tuten einer Schiffssirene abgewürgt. Textfetzen aus den Oktavheften werden an die Wände projiziert, zum Teil im Chor zitiert. Wieder verschwinden Wände, ein neuer Raum mit vielen Türen entsteht. Sie springen auf, dahinter steht ein singender Mensch und K. kann sie gar nicht so schnell schließen, wie sie sich wieder öffnen. Er ist gefangen, nie alleine. Sauber, beinahe militärisch angeordnete Gruppen beobachten ihn. Auf der Treppe begegnet er einem Gast (Jan-Peter Kampwirth). Der anfängliche Dialog entwickelt sich zu einem absurden Echo, bei dem der Gast mit verzerrter Stimme K.s Worte wiederholt oder K. dessen Worte nachspricht.

Ein Sound aus Hundegebell, Gesängen und Kanonendonner 

Kafka wird eine Empfänglichkeit für Geräusche und Klänge nachgesagt. Die Inszenierung greift diesen Aspekt durchgängig auf, verstärkt ihn aber auch. Aus einer Tür im Parkett, dann wieder aus einer vom Mittelrang intoniert ein Chor „Moi, je flane“( in Anspielung auf Kafkas Sehnsucht nach Paris und dem Flanieren dort). Kaum hat sich K. in die entsprechende Richtung gedreht, ist er auch schon wieder verschwunden. 

„Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich“, heißt es in einem der Oktavhefte. Wieder verschwinden kurzfristig definierte Räume, Wände umzingeln jetzt K.s Zimmer, dahinter bilden Elemente eine Stadt ab. K.legt sich ins Bett, das Zimmer öffnet sich über einem Sound aus Hundegebell, Gesängen, Kanonendonner, einer verschwindenden Stimme aus dem Radio. Wieder ist er allem ausgesetzt, nicht sicher. Ein Licht aus einem entfernten Fenster suggeriert so etwas wie Mitmenschlichkeit oder Hilfe. Eine Hoffnung? Über dem liegende K. schwebt das an Seilen hochgezogene Klavier…

https://schauspielhaus.de/stuecke/die-acht-oktavhefte

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte

Kafkas Gefühle und Gedanken; sein Labyrinth:

  • Unsicherheit
  • Bedrohung durch Beobachtungen und Geräusche
  • Sehnsucht
  • flüchtige Hoffnungsschimmer
  • Einsamkeit
  • Gefühl des Gefangenseins
Formale Schwerpunkte
  • ständiges Auf- und Abbau des Bühnenbildes als Verstärkung des Inhalts
  • stummfilmartige Klavierbegleitung der Szenen 
  • Einsatz von Gesängen
  • Textprojektionen 
  • Stimmverzerrungen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16/17 Jahre, ab Klasse 11
  • empfohlen für den Philosophie- , Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Ein inhaltlicher Zusammenhang aus den einzelnen Notizen ist nicht zu erkennen. Die Inszenierung setzt darin geäußerte Gedanken und Gefühle (s. „Inhaltliche Schwerpunkte“) in Bildern, Geräuschen und Szenen um. 

Mögliche VorbereitungeN

In Gruppenarbeit oder über Referate:

  • Was bedeutet „kafkaesk“?
  • Biografie zu Franz Kafka (u.a. seine Situation als Jude in Prag, Verhältnis zu den Eltern, besonders zum Vater)
  • Überblick über Kafkas Werk (Schwerpunkte; wiederkehrende Themen)
  • Lesen und interpretieren ausgewählter Parabeln 
  • Auszüge aus Verfilmung von „Der Prozess“ (1962, Regie: Orson Welles) ansehen.
Speziell für den Theaterunterricht
Dein Spiegel übertreibt

Spielende stehen sich paarweise gegenüber: A macht eine Bewegung, B vergrößert sie ins Gigantische >  Wechsel

Vergrößern

Fünf Spielende in einer Reihe. Nummer 1 beginnt mit einer Bewegung/Grimasse o.ä. auf niedrigem Niveau (1). Vergrößern von 1. bis 5.  (lachen; erschrecken, weinen, essen, trinken, sich hinsetzen usw.). Das Monströse verdeutlichen und ausspielen.

Die Macht des Einzelnen

Die Gruppe verteilt sich im Raum; eine*r beginnt mit einer Bewegung, die anderen übernehmen sie, dann macht ein*e andere*r eine Bewegung (peripherer Blick!) usw.

Individueller Lauf

Raumlauf, jede*r im eigenen Tempo, eigener Ebene, eigener Richtung. Bei Impuls „Freeze“ durch SL einfrieren.

Die Masse und der Einzelne (zwei Spielende zum Zuschauen)

Raumlauf, auf Impuls der Spielleitung findet sich Gruppe als Pulk zusammen, Blickrichtung in eine vorher von der Spielleitung benannte Richtung. Die Gruppe soll als ein Körper fungieren, rückt daher ganz eng zusammen. Alle schließen die  Augen, atmen gemeinsam ein, finden einen Rhythmus, beginnen gemeinsam zu schwanken. Gehen gemeinsam auf die Zehenspitzen, beugen sich nach vorne.

Die Spielleitung gibt das Signal: Augen auf:! und nimmt eine*n Spieler*in aus der Gruppe. Diese*r

  • wandert hin und her- Pulk verfolgt ihn mit den Oberkörper, Kopfhaltung, Augen
  • dreht Pulk den Rücken zu, um sich Schuhe zuzubinden  – Pulk nach vorne, neugierig
  • rennt zornig auf Pulk zu – Pulk schreckt nach hinten zurück (Oberkörper, evtl. Schritt nach hinten)
  • schneidet Grimassen in Richtung Pulk – Pulk beginnt zu lachen 
Erzeugen einer Rhythmusmaschine

Alle klatschen auf 1 (zählen stumm bis vier), dann wieder Klatscher auf 1; Dann klatscht eine Gruppe immer auf 1 und 3 klatschen, eine dritte Gruppe auf 1,2,3,4.

Chor der Laute

Alle gehen durch den Raum, suchen sich einen Ton, den sie vor sich hin summen, schlagen dann mit den Fäusten leicht auf den Brustkorb, lassen den Laut immer lauter werden, andere können sich anschließen, bis gemeinsamer Laut gefunden worden ist und sich alle zu Kreis formieren

Imaginäre Objekte

Die Gruppe steht im Kreis A beginnt einen imaginären Gegenstand über Laute an B weiterzugeben (z.B. „Pling“..); B verwandelte den Gegenstand beim Weitergeben an C („klirr“) usw.

Follow me

Jede*r sucht sich eines der unten stehenden Zitate und spricht seinen „Text“ vor sich hin, variiert mit der Stimme, findet evtl. Follower, bis sich starke Gruppen gegenüberstehen. Dabei kann ein*e  Dirigent*in vor die jeweilige Gruppe treten und Lautstärke und Modulation dirigieren.

Zitate aus Kafkas Oktavheften


1. Klar erscholl die Trompete und wir versammelten uns.

2. Was soll ich tun? oder Wozu soll ich es tun?

3. Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. 

4. Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich.

5. Prüfe dich an der Menschheit.

6. Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört Halt zu sein.

7. Ich irre ab.

8. Sich selbst als etwas Fremdes ansehen.

9. Meine zwei Hände begannen einen Kampf.

10. Er verlässt das Haus, erfindet sich auf der Strasse.