Schlimm, diese Bilder aus der Ukraine, aus Gaza und anderen Kriegsgebieten. Aber wir können umschalten oder weiterblättern, die Menschen in den betroffenen Gebieten nicht. Zum Hinsehen zwingt uns dagegen Karin Henkels ergreifende, erschütternde, großartige Inszenierung von Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“ am Deutschen Schauspielhaus. Sie zeigt, wie sich die Brutalität des Krieges auf Kinder auswirkt.

Die Kritik
Sie fassen sich an den Händen, als sie noch bei vollem Saallicht die Bühne betreten. Zwei blonde Jungs in blauen Shirts, die Hosen gehalten von Hosenträgern (Kostüme: Nina von Mechow). Schüchtern, ein bisschen unsicher blicken sie in die Menge, bevor sie eilig zu unterschiedlichen Seiten abgehen. Nils Kahnwald und Kristof Van Boven spielen die namenlosen Zwillingsbrüder in Karin Henkels Inszenierung von „Das große Heft“, basierend auf dem Roman von Ágota Kristóf, und sie wirken in ihren Bewegungen, ihren Blicken, im Nesteln an der Kleidung, im einander bestätigendem Nicken tatsächlich wie Zehnjährige. Von ihrer Mutter (überirdisch schön in gelbem Kleid: die Tänzerin Sabine Molenaar, alternierend mit Maria Carolina Vieira) sind sie zur Großmutter aufs Land gebracht worden, denn es ist Krieg. Dröhnend erhebt sich ein gewaltiger Stahlkranz mit Lautsprechern und gleißenden Scheinwerfern (Bühne: Katrin Brack). Vorne stehen die Zwillinge und berichten aus ihrer Perspektive von den Ereignissen, die sie in einem großen Heft notieren. Das Erzählte, sagen sie, soll „wahr sein“. Deshalb verwenden sie keine wertenden Begriffe, bleiben so sachlich wie möglich. „Wir misstrauen den Worten“, sagen sie und bleiben ausschließlich beim „Wir“. Das schweißt sie zusammen und hilft ihnen, die furchtbare Zeit zu überstehen. Denn ihnen wird nichts geschenkt. Die Großmutter, die im Dorf nur „die Hexe“ heißt, kennt weder Zuneigung noch Empathie. Ihre Enkelkinder nennt sie „Hurensöhne“ oder „Hundesöhne“, lässt sie schuften, auf dem Boden schlafen und schlägt sie, wenn ihr danach zumute ist. Die Dorfkinder ärgern und schikanieren sie ebenfalls, so dass die Jungen beschließen, sich durch Training eine harte Schale zuzulegen: Sie beschimpfen und schlagen sich gegenseitig, sie stehlen, sie töten, sie hungern und harren in der Kälte aus. Ein Satz wie „Es tut nicht weh“ soll helfen, Schmerzen nicht mehr zu fühlen, und wer häufig genug „Wir weinen nicht mehr“ sagt, wird irgendwann keine Träne mehr vergießen.
Sieben Zeitzeug:innen treten auf, jede und jeder lässt eine ganz persönliche Erinnerung an die Tage im Juli 1943 verlesen.
Henkels Inszenierung kommt mit drei Schauspieler:innen und einer Tänzerin aus. Außer dem Erzähltext, den sich Van Boven und Kahnwald teilen und passagenweise chorisch sprechen, kommt die Autorin selbst zu Wort, verkörpert durch Julia Wieninger mit brauner Perücke und kariertem Kostüm („Ich habe über meine Kindheit im Krieg geschrieben.“). Wieninger spricht aber auch durch ein verzerrtes Mikrofon die Stimme der Mutter oder der Großmutter, Kahnwald und Van Boven übernehmen durch eine Veränderung von Haltung und Stimme für Momente andere Figuren. Sabine Molenaars beeindruckende Performance begleitet bildhaft die Erzählung der Zwillinge. Als sterbende Mutter zerbricht sie wie eine Puppe, wird scheinbar gliederlos in Koffer gestopft, steckt ihren blutigen Kopf wie eine Trophäe zwischen die Körper der Zwillinge oder erscheint engelsgleich als Mutter, die die Kinder abholen will.
Als die Bomben fallen, weigern sich die Kinder im Bunker zu bleiben. Für Nils Kahnwald ist das das Stichwort, um dem Publikum den Bunker am Hachmannplatz gegenüber vom Schauspielhaus ins Gedächtnis zu rufen. Der könne im Ernstfall alle im Theater, das Publikum inklusive, aufnehmen, wie damals beim Feuersturm über Hamburg. Sieben Zeitzeug:innen treten jetzt auf die Bühne, jede und jeder stellt sich vor und lässt eine ganz persönliche Erinnerung an diese Tage im Juli 1943 von den Schauspieler:innen verlesen. Sie alle sind bis heute von den Ereignissen geprägt. Damals waren sie Kinder wie die Zwillinge in „Das große Heft“, die Theatervorstellung rückt direkt in die Gegenwart und wird Realität.
Dass dann erst einmal Pause ist, hilft, sich etwas zurecht zu finden und dem letzten Teil der Inszenierung zu folgen. Die Jungen haben sich eine Kälte und Gefühllosigkeit antrainiert, die nur einmal ganz kurz Risse zeigt: Die Mutter kehrt mit einem neuen Baby zurück, will die Jungen abholen, wird aber von einer Bombe zerfetzt. „Es tut nicht weh“, wiederholen die Zwillinge gebetsmühlenartig, aber das Gegenteil scheint der Fall. Irgendwo unter diesen Kampfmaschinen gibt es noch einen Hauch von Menschlichkeit.
Der gut zweieinhalbstündige Abend ist harter Tobak, seine Relevanz unbestreitbar. Julia Wieninger als Ágota Kristóf beendet ihn mit den Worten: „Man wirft mir vor, traurige Bücher zu schreiben. Aber es gibt Leben, die sind noch viel trauriger.“ Schlimm genug, dass sie damit recht hat.
Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/das-grosse-heft
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
Auswirkungen eines Krieges auf junge Menschen
Formale SchwerpunKte
- Illustration von Ereignissen durch Tanz/akrobatische Bewegungen
- Aufteilen des Erzähltextes auf die beiden Hauptfiguren
- Darstellung unterschiedlicher Figuren durch die beiden Hauptfiguren
- Einbettung von Gedanken der Autorin
- Einbettung der Erlebnisse von Zeitzeug:innen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- Ab 16 Jahre, ab Klasse 11
- Empfohlen für den Geschichts-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Zwei Zwillingsbrüder werden während des Krieges von ihrer Mutter aufs Land zur Großmutter gebracht. Sobald der Krieg zu Ende ist, will die Mutter sie wieder zu sich holen. Die Großmutter heißt im Dorf nur „die Hexe“, ihre Enkel nennt sie „Hurensöhne“ oder „Hundesöhne“. Zärtlichkeit und Mitgefühl erfahren die Jungs nicht, statt dessen müssen sie sich mit harter Arbeit und einer brutalen Außenwelt auseinandersetzen. Um das auszuhalten und für den Ernstfall zu trainieren, beginnen sie sich mit Übungen (Schläge, Beschimpfungen, Hunger u.ä.) widerstandsfähig zu machen. Sie verrohen, verlieren jede Art von Menschlichkeit. Ihre Beobachtungen, Erlebnisse und Erfahrungen notieren sie in einem großen Heft. Darin verweigern sie jede Art von Wertung, sondern lassen nur nüchterne, kalte Beschreibungen gelten mit dem Ziel, die Wahrheit zu sagen.
Mögliche Vorbereitungen
Ágota Kristóf: Das große Heft (Lektüre, in Auszügen oder sehr genaue Inhaltsangabe)
Recherche zu
- Ágota Kristóf (Leben, Werk)
- Feuersturm über Hamburg (Operation Gomorrha) im Juli 1943
- Auswirkungen des Krieges auf Kinder
Speziell für den Theaterunterricht
Die Spielleitung verteilt das erste Kapitel aus „Das große Heft“ an die Gruppe
(https://www.bic-media.com/widget/?showSocial=no&isbn=9783492304337, hier auch weitere Kapitel)
und teilt Vierer- oder Fünfergruppen ein.
Aufgabe
- Sucht die für euch wesentlichen Textstellen aus dem 1. Kapitel heraus.
- Erstellt dazu 4 – 5 Standbilder, die eurer Meinung nach den Kern der jeweiligen Textstelle erfassen.
- Verbindet die Standbilder miteinander, indem ihr wie auf eine „Play“-Taste drückt; d.h., die Bilder gehen ineinander über und werden jeweils gehalten.
- Gebt jetzt den Text dazu. Überlegt, wie ihr ihn sprechen lasst (aus dem Off von einer Person? Von Personen, die den jeweiligen Figuren im Standbild zugeordnet sind? Von den Figuren aus dem Standbild, die sich für den Moment des Sprechens aus ihrer Pose lösen und dann wieder zurück in die Pose gehen).
- Präsentiert eure Ergebnisse.
Text (Kapitel 1)
Die Ankunft bei der Großmutter
Wir kommen aus der Großen Stadt. Wir sind
die ganze Nacht gereist. Unsere Mutter hat rote
Augen. Sie trägt einen großen Karton und jeder
von uns beiden einen kleinen Koffer mit seinen
Kleidern, außerdem das große Wörterbuch unse-
res Vaters, das wir uns weitergeben, wenn unsere
Arme müde sind.
Wir gehen lange. Das Haus von Großmutter ist
weit vom Bahnhof, am andern Ende der Kleinen
Stadt. Hier gibt es keine Straßenbahn, weder Busse
noch Autos. Es verkehren nur ein paar Militär-
lastwagen.
Es gibt wenige Passanten, die Stadt ist still. Wir
hören das Geräusch unserer Schritte; wir gehen,
ohne zu sprechen, unsere Mutter in der Mitte, zwi-
schen uns beiden.
Vor der Tür zu Großmutters Garten sagt unsere
Mutter:
– Wartet hier auf mich.
Wir warten ein bißchen, dann betreten wir den
Garten, gehen um das Haus herum, wir kauern
uns unter ein Fenster, aus dem Stimmen kommen.
Die Stimme unserer Mutter:
– Es gibt nichts mehr zu essen bei uns, weder
Brot noch Fleisch, noch Gemüse, noch Milch.
Nichts. Ich kann sie nicht mehr ernähren.
Eine andere Stimme sagt:
– Und da hast du dich an mich erinnert. Zehn
Jahre hast du dich nicht erinnert. Du bist nicht
gekommen, du hast nicht geschrieben.
Unsere Mutter sagt:
– Sie wissen genau, warum. Ich, ich liebte mei-
nen Vater.
Die andere Stimme sagt:
– Ja, und jetzt erinnerst du dich, daß du auch
eine Mutter hast. Du kommst her und bittest mich,
dir zu helfen.
Unsere Mutter sagt:
– Ich bitte um nichts für mich. Ich möchte nur,
daß meine Kinder diesen Krieg überleben. Die
Große Stadt wird Tag und Nacht bombardiert, und
es gibt nichts mehr zu essen. Man evakuiert die
Kinder aufs Land, schickt sie zu Verwandten oder
zu Fremden, irgendwohin.
Die andere Stimme sagt:
– Du hättest sie zu Fremden schicken sollen,
irgendwohin.
Unsere Mutter sagt:
– Es sind Ihre Enkel.
– Meine Enkel? Ich kenne sie nicht mal. Wieviel
sind es?
– Zwei. Zwei Jungen. Zwillinge.
Die andere Stimme fragt:
– Was hast du mit den andern gemacht?
Unsere Mutter fragt:
– Welchen andern?
– Hündinnen werfen vier oder fünf Junge auf
einmal. Man behält ein oder zwei, die andern er-
säuft man.
Die andere Stimme lacht sehr laut. Unsere Mut-
ter sagt nichts, und die andere Stimme fragt:
-Haben sie wenigstens einen Vater? Du bist
nicht verheiratet, soviel ich weiß. Ich bin zu deiner
Hochzeit nicht eingeladen worden.
– Ich bin verheiratet. Ihr Vater ist an der Front.
Ich habe seit sechs Monaten keine Nachricht.
– Dann kannst du gleich ein Kreuz drüber
machen.
Die andere Stimme lacht erneut, unsere Mutter
weint. Wir gehen wieder vor die Gartentür.
Unsere Mutter kommt mit einer alten Frau aus
dem Haus.
Unsere Mutter sagt zu uns:
– Das ist eure Großmutter. Ihr werdet eine
Weile bei ihr bleiben, bis der Krieg aus ist.
Unsere Großmutter sagt:
– Das kann lang dauern. Aber ich sorge schon
dafür, daß sie arbeiten, keine Bange. Auch hier ist
das Essen nicht umsonst.
Unsere Mutter sagt:
– Ich werde Ihnen Geld schicken. In den Kof-
fern sind ihre Kleider. Und in dem Karton Laken
und Decken. Seid brav, meine Kleinen. Ich werde
euch schreiben.
Sie küßt uns und geht weinend fort.
Großmutter lacht sehr laut und sagt zu uns:
– Laken, Decken! Weiße Hemden und Lack-
schuhe! Ich werde euch zeigen, wie man lebt!
Wir strecken unserer Großmutter die Zunge
raus. Sie lacht noch lauter und schlägt sich dabei
auf die Schenkel.
(aus: (https://www.bic-media.com/widget/?showSocial=no&isbn=9783492304337)