Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh

Schon mal ein Gedicht rückwärts aufgesagt? Oder nur die Nomen darin genannt? Oder nur die Verben? Nein? Ist auch gar nicht einfach. Dass das aber zu einem großartigen absurden Spaß werden kann, zeigt Anita Vulesicas präzise und zu Recht mit stehendem Beifall belohnte Inszenierung von „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ im Schauspielhaus.


Die Maschine lebt (v.l.:Camill Jammal, Christoph Jöde, Moritz Grove, Daniel Hoevels, Sandra Gerling) – Foto: Elke Walkenhorst

Die Kritik

Bei Goethe ist man ja immer ein bisschen ehrfürchtig. Der große deutsche Dichterfürst hat nicht nur Monumentales, ewig Gültiges wie „Faust“, sondern neben all den Dramen und Romanen auch jede Menge Gedichte verfasst. Dazu gehört auch das berühmte „Wanderers Nachtlied“, ein Achtzeiler, der beginnt mit „Über allen Gipfel/ist Ruh“. 1968, im Jahr der Studentenunruhen, in dem so manches hinterfragt und über den Haufen geworfen wurde, hatte auch der Saarländische Rundfunk die Idee, mal etwas Neues auszuprobieren. Ohnehin interessiert an experimentellen Projekten und an der Bearbeitung von technologischer Ästhetik, gab er den Auftrag zu einem experimentellen Hörspiel. Als Autor wählte man Georges Perecs, einen der vielversprechendsten Vertreter der französischen Literatur. Perecs verdiente zu der Zeit sein Geld noch als Dokumentarist am Pariser Institut für Neuropsychologie und war fasziniert von dem, was Computer schon damals alles konnten. Außerdem beschäftigte er sich als Mitglied der „Werkstatt für potentielle Literatur“ (Oulipo) mit Sprachexperimenten und formalisierter Lyrik. Perecs also nahm sich Goethes „Wanderers Nachtlied“ vor und spielte damit nach Herzenslust herum. Respektlos, lustvoll, ohne Kniefall vor dem deutschen Dichterfürsten. Herausgekommen ist eine absurde, komplexe und wahnsinnig komische Dekonstruktion des Gedichts, ein Sprach-Kunstwerk, an dem selbst Goethe seinen Spaß haben würde.

Aber lässt sich so ein Hörspiel auch auf die Bühne bringen? Mit diesem Thema? Ja, unbedingt ja! Nämlich dann, wenn jemand wie die mehrfach ausgezeichnete Anita Vulesica die Regie übernimmt. Es war eine kluge Entscheidung, gerade sie für ihr Debüt am Schauspielhaus mit der Inszenierung zu betrauen. Denn dieser Abend ist unglaublich präzise gearbeitet, sehr kurzweilig und voller Witz. Und es gehört schon einiges dazu, ein volles Haus wie am Premierenabend 90 Minuten lang bei der Stange zu halten und das Publikum zeitweilig so gebannt still werden zu lassen, dass nicht der kleinste Mucks zu hören war.  Das geht natürlich auch nur mit einem Ensemble, das ganz offensichtlich Spaß an der Sache hat und mit bemerkenswerter Akkuratesse die Körperarbeit und Choreographien (Mirjam Klebel) umzusetzen versteht.

„Denken, ordnen, speichern, kontrollieren“

Zu sehen ist anfangs erst einmal: nichts. Man hört Vogelgezwitscher, Pferdegetrappel und das Knarzen eines Stiftes. Auf die schwarze Wand vor der Bühne schreibt er in Sütterlin Goethes Gedicht auf und unterschreibt mit einem „W“. Oder ist es gar keine Unterschrift? Denn der Mann im Arbeits-Overall mit wirrem Kraushaar (York Dippe) – vielleicht das Alter Ego von Perec -, der nun auftritt, weiß es auch nicht. Er stellt ohnehin im Laufe des Abends immer mal wieder Fragen wie: „Wie soll man sich seiner bewusst werden?“ und versucht mit  „denken, ordnen, speichern, kontrollieren“ mögliche Antworten zu finden.  Dann hebt sich die Wand und gibt den Blick frei auf eine seltsame Stahl-Konstruktion: Vor eng zusammengeschweißten Stahlrohren befinden sich treppenförmig durchsichtige, metallumrahmte Kästen. In jedem steckt ein Rohr, ein Hebel und ein leuchtend roter Buzzer (Bühne: Henrike Engel). Vier roboterhafte Gestalten mit gerade geschnittenen Perücke und pastellfarbenen Anzügen (Kostüme: Janina Brinkmann) bedienen Hebel und Buzzer, sind also die eigentliche Maschine. Sie erinnern in diesem Bühnenbild an die Kultserie „Raumpatroullie“ aus dem Jahr 1968, womit der zeitliche Bogen zur Entstehung des Hörspiels geschlagen wäre. Die Figuren sind hierarchisch angeordnet: Im obersten Kasten sitzt die Kontrolle (Sandra Gerling), es folgen Speicher 1 (Daniel Hoevels), Speicher 2 (Moritz Grove), Speicher 3 (Christoph Jöde) und Speicher 4 (Camille Jammal, zuständig für Musik und Sound). Die Kontrolle gibt vor: Lochkarten in unmöglicher Weise und affenartigem Tempo zu falten (wo schon die ersten Fehler passieren), das gefaltete Ergebnis zu speichern, dann das Gedicht vorwärts, rückwärts, mit oder ohne Vokale, nur über die Nomen und so weiter aufzusagen, das Gedicht in einen Ausdruckstanz zu verwandeln, zu singen, mit Assoziationen zu verbinden – und wieder mit dem Buzzer zu speichern. Dabei geraten einige der Speicher immer mehr außer Kontrolle, werden individueller, durchbrechen das Konzept. Die Maschine ist fehlerhaft, ihr Schöpfer blickt in einer wüstenähnlichen Umgebung von einem hohen Stuhl auf die in konzentrierten absurden Tanz gefangenen Roboter-Figuren. „Die Welt als Puzzle“ sinniert er. Und was genau soll eigentlich das „W“ bedeuten? 

Was bedeutet das „W“? Der Schöpfer der Maschine (York Dippe) weiß es nicht. – Foto: Elke Walkenhorst

Es gibt keine Antworten. Irgendwann wird die Maschine  langsamer und stiller bis hin zum „Pssst“. Auch im Publikum ist mucksmäuschenstill, bis jubelnder Applaus ausbricht.

Weitere Informationen unter:https://schauspielhaus.de/stuecke/die-maschine-oder-ueber-allen-gipfeln-ist-ruh

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Dekonstruktion eines Gedichts
  • Spiel mit Sprache
  • Verhältnis Mensch – Computer
Formale SchwerpunKte
  • Synchrone Bewegungen und Gesten vs individualisierte Bewegungen und Gesten
  • Chorisches vs individualisiertes Sprechen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11
  • empfohlen für den Deutsch- und unbedingt für den Theaterunterricht.
Zum Inhalt

Einen tatsächlichen Inhalt gibt es nicht, lediglich eine Situation:

Eine aus vier Speichern und einer Kontrolle geschaffene Maschine dekonstruiert Goethes Gedicht „Wanders Nachtlied“. Deutlich wird, dass die Maschine Fehler aufweist und einiges außer Kontrolle gerät.

Mögliche Vorbereitungen

Recherche zu Georges Perec (Leben, Werk)

Spiel mit „Wanderers Nachtlied“ (Text s.u.): 

  • Verslängen verändern (z.B.; Über allen Gipfel ist Ruh/ In/allen Wipfeln spürest/ du o.ä.) und die Wirkung besprechen
  • Den Text als Lückentext ausgeben und von den SuS ausfüllen lassen. 
  • Ergebnisse vergleichen
Text:

Über allen Gipfeln

Ist Ruh,

In allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vöglein schweigen im Walde.

Warte nur! Balde

Ruhest du auch.

Speziell für den Theaterunterricht
Übungen zum Sprechen eines aufgelösten Chors

Der Kurs stellt sich im Kreis auf. Die Spielleitung gibt jedem/ jeder Kursteilnehmer:in eine laufende Nummer von 1 bis 24 (bzw nach Anzahl der Teilnehmer:innen) und mischt die Gruppe noch einmal durch, sodass nicht Nr 1 notwendigerweise neben 2 etc steht.

Die SuS schließen die Augen und sprechen nacheinander die Nummern, bis ein „Fluss“ entsteht. 

Das Gleiche wird noch einmal im Raumlauf probiert und auch hier so oft wiederholt, bis ein „Fluss“ entsteht.

Die Spielleitung gibt darauf jeder Nummer ein Wort aus dem Gedicht (also Nr 1: „Über“, Nr 2: „allen“ usw). Der Kurs begibt sich wieder in den Raumlauf und soll jetzt das Gedicht sinnvoll sprechen. Auch hier sind mehrere Durchgänge möglich.

Die Spielleitung (evtl. auch wechselnde Mitglieder des Kurses) geben verschiedene Möglichkeiten vor:

  • Das Gedicht rückwärts sprechen 
  • Alle Nomen weglassen (d.h. die entsprechenden SuS dürfen nichts sagen)
  • Alle Verben weglassen
  • Nur die Verben sprechen
  • Nur die Nomen sprechen

Aufteilung in drei Achter-Gruppen (A, B, C), jede Gruppe erhält einen Auftrag:

  • A: Sprecht das Gedicht und lasst alle Vokale weg
  • B: Sprecht das Gedicht und lasst alle Konsonanten weg
  • C: Verschiebt die Wörter innerhalb des Gedichts und sprecht es dann.

Präsentation und Feedback 

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