Neue Form um jeden Preis – Lucia Bihlers Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus hat viel mit den Teletubbies und wenig mit Büchner zu tun.
DIE KRITIK
„Nochmal!“, kräht eine verzerrte Stimme aus dem Hintergrund. Und wieder beginnt alles von vorne: der Mord an Marie, das Rasieren des Hauptmanns, der Besuch beim Doktor, Maries Begegnung mit dem Tambourmajor. Irgendwann ist man wieder bei der Ausgangsszene, dem Mord, bis die Stimme erneut: „Nochmal!“ kräht und die Geschichte noch einmal erzählt wird. Insgesamt vier Variationen werden an diesem Abend dargeboten. Offenbar soll dabei das Problem des Femizids – so legt es das sehr dünne Programmheft nahe – beleuchtet und eine mögliche Lösung aufgezeigt werden.
„Is there a way out?“
Die Idee mit der vierfachen Wiederholung hat für sich genommen Charme. Schwerpunkte können verschoben, Perspektiven verändert und Entwicklungen aufgezeigt werden. Möglich, dass Bihler das im Sinn hatte. Sie lässt ihre „Woyzeck“-Inszenierung mit dem Mord beginnen, um dann nacheinander einzelne Szenen aus Woyzeck und Maries Leben vorzustellen. Veränderungen werden in der Tat erkennbar. Wird Marie (Bettina Stucky) anfangs brutal abgeschlachtet, nimmt Woyzeck (Josef Ostendorf) sich in einer anderen Variation ebenfalls das Leben und ist Marie in der letzten Version die selbstbestimmte Frau, die wie eine Salonschlange am Türrahmen lehnt und einen Song mit der sich wiederholenden Zeile „Is there a way out“ raunt. Woyzeck gewinnt zunehmend an Selbstbewusstsein und nimmt zuletzt sogar Doktor und Hauptmann (beides: Matti Krause) den Text weg, indem er die Dialoge selbst spricht. Er tötet nicht, er geht weg.
Doch das ist ein bisschen wenig für 90 Minuten und hätte locker in der Hälfte der Zeit erzählt werden können. Es erschließt sich auch nicht, was Bihler und ihren Dramaturgen Mats Süthoff zur Auswahl und Reihenfolge der jeweiligen Szenen bewogen haben mag. Einige Szenen mischen sie oder lassen den Text von anderen Figuren sprechen. Nur mit welchem Ziel? Das ist an diesem Abend die ganz große Frage.
Der Inhalt, gar eine Auseinandersetzung mit dem Text, interessiert offenbar wenig bis gar nicht.
Nun ist Büchners „Woyzeck“, dieses relativ kurze, aus losen, nicht festgelegten Einzelszenen bestehende Fragment, eine feste Größe im Stadttheaterrepertoire. Es ehrt Bihler und Süthoff, dass sie eine eigene, originelle Version auf die Bühne bringen wollen. Allerdings scheinen sie sich an ihren Ideen zur Form berauscht zu haben. Der Inhalt, gar eine Auseinandersetzung mit dem Text, interessierte offenbar wenig bis gar nicht. Da ist zunächst die Bühne (Pia Maria Mackert): Wie beim Intro zu den Teletubbies gehen knallbunte Strahlen hier von einem Auge (nicht von einem Babygesicht) aus. Es ist als Video (Florian Schaumberger) auf eine Wand in der oberen Mitte der Bühne projiziert. Diese Wand fährt in den ersten beiden Variationen der Geschichte nach jeder einzelnen Szene herunter, so dass jedesmal die Spannung abfällt. Da hilft es auch nicht, dass Johannes Cotta, ein wirklich renommierter Musiker, dann wie ein drittklassiger Drummer auf das Schlagzeug einprügelt.
Fingernägel wie Edward mit den Scherenhänden
Hebt sich die Wand mit dem Auge, wird eine barbieähnliche Ausstattung überwiegend in Rosa (Maries Kammer) oder Hellgrün (beim Doktor) sichtbar. Die Figuren tragen gelbe (nicht blonde) Perücken, kleine Teufelshörner und lange Fingernägel wie Edward mit den Scherenhänden. Nur der Tambourmajor (Paul Behren) hat Hörner wie ein Stier (klar, er verführt ja auch Marie). Es sind unwirkliche Comic-Figuren in grellen Kostümen (Belle Santos), die an der Wand kleben (der Doktor) und ihre Stimmen verzerren. Ein Narr (Matti Krause), natürlich auch mit gelben langen Haaren und kleinen Hörnern, führt Woyzeck mit bedeutungsschwangeren Gesten durch die Räume. Tja – und was genau wollte die Regisseurin damit erzählen? Es wird wohl ihr Geheimnis bleiben.
https://schauspielhaus.de/stücke/woyzeck
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Woyzecks Mord an Marie
- das Aufbrechen einer festgelegten Situation
- die Suche nach einem Ausweg
Formale Schwerpunkte
Comic-Figuren durch:
- Untermalung von Gesten und Bewegungen durch Geräusche
- überzeichnete Bewegungen
- überzeichnetes Sprechen
- überzeichnete Kostüme und Maske
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 16 Jahre/ Jahrgangsstufe 10/11
- geeignet für den Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Franz Woyzeck tötet seine Freundin Marie, mit der er ein Kind hat. Marie hat ihn betrogen mit einem Mann, der besser aussieht als Woyzeck und als Tambourmajor eine höhere Stellung bekleidet. Woyzeck hat wenig Zeit für seine Familie. Als Soldat gehört er zur unteren Gesellschaftsschicht und bekommt wenig Lohn. Deshalb stellt er sich für Experimente des Doktors zur Verfügung und rasiert seinen Hauptmann, um zusätzlich Geld zu verdienen. Als er Marie beim Tanz mit dem Tambourmajor sieht und bei ihr Ohrringe entdeckt, ahnt er den Betrug. Er führt sie hinaus in den Wald und tötet sie dort.
Mögliche VorbereitungeN
Vorab:
- Kopieren der „Woyzeck“-Vorlage, so dass drei Schüler:innen eine Kopie bekommen.
- Zerschneiden der Kopien in die einzelnen Szenen.
Im Unterricht:
- Die Szenen in einem Umschlag an die Schüler:innen geben und sie bitten, aus den Szenen ein Stück mit einem für sie plausiblen Handlungsablauf zu erstellen und diesen zu erläutern.
- Ergebnisse vergleichen und besprechen der jeweiligen Versionen.
- Klärung von Büchners Determinismus-Begriff (Brief An die Braut, März 1834)
- Untersuchung des Verhältnisses Woyzeck – Marie in Hinblick auf den Determinismus
- Überlegungen anstellen: Inwiefern gibt es heute diese Bestimmtheit? Welche Auswege gibt es?
Speziell für den Theaterunterricht
Übungen zur Synchronität
In Dreiergruppen überlegen sich Schüler:innen eine Bewegungsabfolge von ca fünf Gesten/Bewegungen. In einer Reihe mit dem Gesicht zum Publikum führen sie diese
- synchron aus
- wie im Kanon aus; d.h. Wenn Spieler:in A die erste Bewegung/Geste beendet hat, beginnt Schüler:in B, danach Schüler:in C
Wirkung besprechen
Übungen zum Mickeymousing
(Mickeymousing: Bewegungen werden mit Geräuschen z.B. mit u.ä. Klanghölzern unterlegt)
Aufgabe
- Entwerft zu unten stehendem Text eine Szene, in der drei von euch spielen und einer für das Mickeymousing zuständig ist. Ihr dürft den Text doppeln, kürzen usw. nur keinen neuen Text dazu erfinden. Der Schwerpunkt liegt auf der Untermalung der Handlungen durch Geräusche.
- Überlegt, wo die Szene spielt und welche Figuren mitspielen.
- Es soll auch stumme Stellen geben, in denen nur die Geräusche die Handlung unterstreichen.
- Verwenden dürft ihr : Klanghölzer und andere Schlaginstrumente; Material aus dem Raum; eigene Alltagsgegenstände (Reißverschlüsse, Papier usw.), Handy (passende Geräusche suchen)
Probiert möglichst viele Möglichkeiten aus und entscheidet euch dann. Probiert die Szene mehrfach durch.
Text:
- Hallo
- Hallo
- Na
- Und
- Wieso
- Was
- Nichts Neues
- Nein
- Ach so
Präsentieren und Wirkung besprechen
Angebot der Theaterpädagogik des Schauspielhauses
Umfangreiches Unterrichtsmaterial unter:
https://schauspielhaus.de/unterrichtsmaterial: Woyzeck: Woyzeck